Was passiert, wenn der Kessel eines Kernkraftwerkes platzt, beschäftigt die Gerichte schon seit zehn Jahren. Es wäre, so formulierte 1975 der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof in einem Beschluß zum damals geplanten Reaktor Wyhl, »eine Katastrophe nationalen Ausmaßes«.
Tausende von Toten, so eineinhalb Jahre später das Verwaltungsgericht in Freiburg, seien bei einem Bersten des Reaktordruckbehälters zu erwarten, im weiten Umkreis müßte die landwirtschaftliche Produktion »auf Jahre hinaus« verboten werden.
Jetzt ist das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg dran. Dort wird Mitte Juni über den Hamburg-nahen Siedewasserreaktor Krümmel verhandelt, mit 1300 Megawatt Leistung einer der größten im Lande. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit«, so formulieren die Anwälte der klagenden Krümmel-Nachbarn, halte der Druckbehälter, das Gehäuse des Reaktorkerns, nicht mehr lange dicht.
Tatsächlich war sich die Fachwelt schon 1978, als das schleswig-holsteinische Sozialministerium den Kessel genehmigte, einig, daß man einen Reaktordruckbehälter so jedenfalls nicht bauen darf. Und als der Meiler 1983 in Betrieb ging, hatte der »Stand von Wissenschaft und Technik«, nach dem Atomgesetz Kriterium für die Genehmigung von Kernkraftwerken, das Krümmel-Monster längst hinter sich gelassen.
Wissenschaft und Technik nämlich bemühten sich schon seit Beginn der siebziger Jahre, mit den Tücken des Stahls fertig zu werden, aus dem die älteren bundesdeutschen Druckbehälter hergestellt sind. Alarmierende Berichte über große Materialrisse in den Kesseln der Atommeiler von Philippsburg, Stade und Brunsbüttel, Informationen über gerissene Kessel in einem Reaktor und auch in einem Chemiewerk in Holland häuften sich. Mit einem »Sofortprogramm« ließ die Bundesregierung damals wissenschaftlich untersuchen, was mit dem Reaktorstahl los ist.
Die Antwort kam aus Stuttgart. Der Werkstoffprofessor Karl Kußmaul erklärte den besorgten Energiepolitikern, daß der Kesselstahl zu schnell versprödet: Die Pannen seien »eindeutig auf eine nicht optimale chemische Zusammensetzung der verwendeten Stähle« zurückzuführen.
Der Stahl mit dem Namen »22 NiMoCr 37« wurde bald gemieden, der TÜV strich den Werkstoff aus seinen Materiallisten für Atomkraftwerke. Auch im Ergebnisprotokoll des Bundesinnenministeriums über die Kußmaul-Forschungen wurde vor der »Neigung« des Stahls zu »Unterplattierungs- und Nebennahtrissen« gewarnt.
Im Januar 1978 schienen die Probleme plötzlich gelöst. Kußmaul, mittlerweile Sicherheitspapst für Druckbehälter und Mitglied der bundesdeutschen »Reaktor-Sicherheitskommission«, trat an die Öffentlichkeit mit einer Erfolgsmeldung: Wenn man die Zusammensetzung des »22 NiMoCr 37« ändere, könne der Stahl unbesorgt weiterverwendet werden.
Dennoch wurde im selben Monat der Krümmel-Kessel, auch er aus dem umstrittenen Stahl gefertigt, von den Behörden genehmigt. Sie scherten sich wenig um Kußmauls Entdeckungen und akzeptierten für den Krümmeler Stahlmantel einen Kupfergehalt, der nahezu doppelt so hoch ist wie von Kußmaul empfohlen und mittlerweile auch vom TÜV offiziell vorgeschrieben - vor allem Kupfer verursacht die Versprödung.
Zudem lieferte der TÜV über die Fertigungsqualität des Druckbehälters ein alarmierendes Gutachten - die Kesselschmiede hatten offenbar geschlampt. Die Prüfer entdeckten »Verunreinigungen in den meisten Blechen« und an den Schweißnähten »zahlreiche Anzeigen«, die »als systematische Fehler angesehen werden mußten«.
Der TÜV ließ den Druckbehälter dennoch durch: Ob die Fehler langfristig gefährlich seien, müsse in einem »Dringlichkeitsprogramm« erneut geprüft werden.
Präzise Auskünfte über die Zuverlässigkeit des Reaktors mag auch Experte Kußmaul nicht mehr geben. Vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg, das ihn als Gutachter geladen hatte, wand er sich wortreich: »In der Tat muß man sagen, obwohl dieser Behälter formal den neuen Anforderungen entspricht, in der Analyse, cum grano salis, auch hineinpaßt in unsere heutigen Vorstellungen, daß es Stellen gibt, die nach heutigen Vorstellungen nicht optimal sind. Ich darf aber sagen, sie sind sorgfältig überprüft worden, sind sicherheitstechnisch nicht relevant. Sie sind registriert worden und publiziert worden.«