ENGLAND / LABOUR Nein, nein, nein
Hat Mister Gaitskell wieder einmal auf das falsche Pferd gesetzt?« fragte die Londoner »Daily Mail«, als der langjährige Oppositionsführer Anfang- Oktober den Europa-Kurs der Labour Party auf ihrem Parteikongreß im Seebad Brighton festgelegt hatte.
Gaitskell: »Sind wir gezwungen, uns Europa anzuschließen? Meine Antwort ist nein, nein, nein.«
»Wenn England (in der EWG) mitmacht«, so hatte der sozialistische Ritter des Empire-Ordens die Briten beschworen, »dann bedeutet dies unser Ende als unabhängige Nation, das Ende von tausend Jahren Geschichte.«
Und: »Soll das Mutterland, das Zentrum des großen Commonwealth, zu einer bloßen Provinz Europas herabsinken, jenes Europas, das nicht nur Leonardo und Picasso, sondern auch Hitler und Mussolini hervorgebracht hat?«
Hugh Todd Naylor Gaitskell, 56, hatte sich in solche EWG-Gegnerschaft hineingesteigert, weil er glaubte, damit auf einer Woge zu schwimmen, die seiner Partei nach, drei verlorenen Unterhauswahlen und elf Jahren Opposition einen Wahlsieg bringen werde*.
Labour-Chef Gaitskell gründete segne Zuversicht auf die Meinungsforscher, die Ende August ermittelt hatten, daß 52,2 Prozent der Briten gegen den Eintritt Englands in die EWG seien. Aber schon unmittelbar nach dem Labour Kongreß stellten die gleichen Gallup-Jünger fest, daß sich ein Stimmungswandel anbahnt.
Die Zahl der britischen EWG-Freunde ist stetig gewachsen; der Vorsprung der EWG-Gegner wird von Monat zu Monat geringer.
Hatten sich im Juni nur 30 Prozent der befragten Briten für einen EWGBeitritt Englands ausgesprochen, so waren es im Oktober bereits 40,8 Prozent, während die EWG-Gegner auf 45,9 Prozent zurückgefallen waren. Der Wählertrend, auf den Gaitskell Siegeshoffnungen gründete, droht umzuschlagen.
Vergebens warnten Westeuropas Sozialisten die Labour-Führung vor einer betonten EWG-Feindschaft. Die Genossen aus Dänemark und Norwegen, deren sozialdemokratische Regierungen selbst zur EWG streben, und aus der Bundesrepublik waren über die antieuropäischen Kreuzzugsideen ihrer britischen Gesinnungsfreunde bestürzt.
Die sozialistische Fehlkalkulation nutzten die Konservativen eine Woche nach dem Labour-Kongreß auf ihrem Parteitag im walisischen Badeort Llandudno. Gaitskells Anti-EWG-Erklärung und die sich anbahnende EWGZustimmung des Volkes brachten zustande, worum Macmillan monatelang vergebens gerungen hatte: Einig scharten sich die 4500 Tory-Delegierten um ihre Führer und die Regierung.
»Gaitskell soll seine tausend Jahre Geschichte haben«, frotzelte Macmillans Stellvertreter Richard Butler, »wir aber wollen die Zukunft.«
Im Hochgefühl ihrer wiedergewonnenen Einigkeit gingen die Konservativen daran, die kostspieligste Propagandakampagne zu starten, die je in England unternommen wurde: Zehn Millionen Pfund (112 Millionen Mark) sollen in Flugblätter, Plakate und Postwurfsendungen investiert werden, um die öffentliche Meinung vollends auf Europakurs zu trimmen und einen vierten Tory-Wahlsieg vorzubereiten.
* Die Konservativen verfügen zur Zeit im Unterhaus über 365 Sitze, Labour über 248, die Liberalen iber sieben.