FRANKREICH Nein, nicht jetzt
Scheel und Schiller schlichen in den Keller. Durch die Tiefgarage und den Hinterausgang an der Rue de la Loi verließen die beiden Deutschen nach über 20stündiger Währungsdebatte das Brüsseler Konferenzgebäude »Charlemagne« -- unbemerkt und ohne Kommentar.
Den wartenden Journalisten stellte sich unterdessen -- am frühen Morgen des vorletzten Sonntags -- jener Mann, der den Deutschen den Geschmack an einer Siegesfeier verdorben hatte: Frankreichs Minister für Wirtschaft und Finanzen Valéry Giscard d"Estaing, 45.
Das Schlußkommuniqué, das er verlas, signalisierte zwar einen sachlichen Erfolg der deutschen Mannschaft: das »Verständnis« des EWG-Ministerrats für eine zeitlich begrenzte Freigabe des D- Mark-Wechselkurses. Doch zugleich zeigte die Resolution einen diplomatischen Sieg Giscards, eine moralische Niederlage der Deutschen auf.
Der Franzose vor allem hatte jene Passagen durchgesetzt, die den Spielraum der Deutschen einschränken und den Bonnern den Makel gemeinschaftsschädigenden Verhaltens aufdrücken: Mit ihrer Billigung der gemeinsamen Resolution bekannten die Deutschen, daß fluktuierende Wechselkurse unter normalen Umständen mit dem guten Funktionieren der Gemeinschaft unvereinbar seien (Punkt zwei des Kommuniqués).
»Giscard hat die Deutschen«, so ein Sprecher der EWG-Kommission, »bis zum Rand der Selbstaufgabe gedemütigt.« Ehrgeizig und geschickt, nutzte Frankreichs Finanzminister die Gelegenheit, sich in Brüssel seinen Landsleuten als guter Europäer und Verteidiger der französischen Interessen zu empfehlen.
Denn »sein Ziel«, so schreibt der französische »Express«, »ist die Macht«. Mit steiler Karriere in die Elite der französischen Staatsmacht vorgedrungen, gilt der liberal-konservative Giscard, Chef der an der Regierung beteiligten »Unabhängigen Republikaner«, als Wunderkind der französischen Politik.
Freilich: Schon als Valéry Giscard d"Estaing 1926 im deutschen Koblenz geboren wurde -- sein Vater diente beim französischen Hochkommissariat im Rheinland -, schien er durch Familie, Finanzen und Fähigkeiten zum Erfolg bestimmt.
Väterlicherseits einer Industriellen- und Bankiersfamilie, mütterlicherseits einer Politiker-Dynastie entstammend, erbte Giscard zudem den Adelsnamen d"Estaing, den sein Vater sich nur vier Jahre zuvor vom französischen Staatsrat hatte genehmigen lassen. (Der Name wird hergeleitet von einem angeblichen Verwandten, dem während der Französischen Revolution enthaupteten Admiral d'Estaing aus der zentralfranzösischen Auvergne, in der auch die Giscards ihren Stammsitz haben.) Durch Heirat verband sich Giscard später mit dem Clan des Rüstungsmagnaten Schneider in Creusot.
Giscards Aufstieg war schließlich vorgezeichnet durch seine Ausbildung an der École polytechnique und der Nationalen Verwaltungsakademie Ena -den Eliteschulen, aus denen sich die höchsten Kader in Frankreichs Verwaltung und Industrie rekrutieren.
Schon mit 28 Jahren erwarb der Landedelmann den Titel eines »Inspecteur des Finances« -- in Frankreich die Eintrittskarte in die Hocharistokratie des zivilen Staatsdienstes. Mit 29 zog er als Nachfolger seines Großvaters für das Auvergne-Department Puy-de-Dôme in die Nationalversammlung ein. Mit 32 Staatssekretär, wurde Giscard mit 36 Jahren -- unter de Gaulle -- Finanzminister.
Mit orthodoxer Strenge kurierte er Frankreichs kranke Finanzen; doch als seine Stabilitätspolitik das Wachstum der Wirtschaft stoppte, feuerte ihn der General im Januar 1966.
Trotzdem blieb die Partei des Verstoßenen der gaullistischen Regierung treu und versuchte sich mit einer Politik des »Ja, aber« als Opposition in der Koalition. Giscards »Unabhängige Republikaner« retteten den Gaullisten die Mehrheit in der Nationalversammlung.
Unter der Devise »überlegter Gaullismus« suchte sich Giscard zu profilieren: Zum Ärger des Generals ("Giscard hat den Teufel im Leib") wünschte er den politischen Zusammenschluß Europas und den Beitritt Englands zur EWG.
Mit Fernsehauftritten im Pullover, als vorgeblicher Normalbürger, der Metro fährt, und als Sportsmann -- Giscard läuft Ski, spielt Tennis, schwimmt, reitet, jagt, fliegt -- suchte der Aristokrat sein Image für den Augenblick zu polieren, in dem »der General von der politischen Bühne abtritt«.
Der Augenblick kam früher als erwartet, und Giscard trug dazu bei: »Mit Bedauern, aber mit Bestimmtheit« stimmte er »Nein« beim Referendum, das den General am 27. April 1969 zu Fall brachte.
Noch unvorbereitet für die Macht, half Giscard seinem Rivalen Pompidou auf den Präsidentensessel: Als einziger konnte Pompidou die gaullistische Mehrheit zusammenhalten, die Giscard später einmal zu erhalten hofft. Er selbst zog im Juni 1969 wieder in das Finanzministerium ein.
Gegen die schwere Krise, in der sich die französische Währung und Wirtschaft damals befanden, verordnete der Technokrat Giscard seinen Landsleuten ein Sanierungsprogramm, das den Konsum drosselte, die Industrieproduktion und den Export aber ankurbelte. Diese Politik trug zwar nicht dazu bei, das krasse Sozialgefälle Frankreichs abzubauen. Im Gegenteil: Während etwa die Löhne der Arbeiter 1969 um 4,2 Prozent stiegen, nahmen die Bruttogewinne der Unternehmen um 14 Prozent zu.
Aber schon im Mai 1970 konnte Giscard den Erfolg seiner Sanierungspolitik mit einem gewissen Recht loben: »Vor zwei Jahren erschien Frankreich als dunkler Fleck auf der Landkarte, heute ist es ein heller Fleck.« In einem Jahr waren die Exporte um 40 Prozent gestiegen. Frankreichs Währungsreserven wuchsen 1970 um rund 25 Prozent auf 4,8 Milliarden Dollar an.
»Von allen Mitgliedern der Regierungsmannschaft«, so registrierte der »Nouvel Observateur«, »ist Giscard derjenige, der sich damit brüstet, die überzeugendsten Resultate erreicht zu haben.« Schon jetzt, so scheint es, zwei Jahre vor der nächsten Parlamentswahl, fünf Jahre vor dem nächsten Präsidentschaftsrennen, nutzt der Chef der »Unabhängigen Republikaner« wirtschaftliche Erfolge und diplomatische Bravour à la Brüssel für die Wahlwerbung.
Er ist freilich zu intelligent, um dramatische Schritte zu tun. Als ihn kürzlich einer seiner Anhänger auf der Straße in Paris ansprach und ihm riet: »Wenn Sie im Rennen um die Präsidentschaft bleiben wollen, müssen Sie jetzt zurücktreten«, antwortete Giscard: »Nein ... nicht jetzt.«