Von Karsten Voigt kann die SPD doch wohl nicht erschüttert werden -- oder? Der Vorsitzende der Jungsozialisten ist unter seinesgleichen rhetorisch nicht ungeschickt, wenn auch kein ausgesprochenes Rednertalent; in theoretischen Fragen scheint er eher rezeptiv als originell zu sein. Wie manche seiner Anhänger neigt er zum Verbalradikalismus.
Alles in allem: ein begabter, politisch überdurchschnittlich engagierter jüngerer Mann, der vorerst wenig faktische Macht aufzubieten hat. So steht er denn hier auch nur als Beispiel: für die Frage nämlich, ob Westdeutschlands Sozialdemokraten dabei sind, ihre Politik und ihr Selbstverständnis zunehmend von Klischees -- teils andernorts vorfabriziert, teils in sozialdemokratischer Heimarbeit hergestellt -- abhängig zu machen.
Anders als durch eine Orientierung nicht an den Fakten, sondern an den landläufigen Abziehbildern ist nicht zu erklären, was die SPD derzeit mit sich selbst anfängt. Immer öfter entscheidet sie sich für organisationstechnische Regelungen, wo politische Fragen beantwortet werden müßten; geradezu erleichtert nimmt sie hin, wenn Sachfragen personalisiert werden (zweites Beispiel, nach Voigt: Münchens Oberbürgermeister Vogel).
Natürlich sind die einschlägig aktiven, bewußten (und selbstbewußten) Jungsozialisten im hohen Maße mitschuldig am derzeitigen Fehlverhalten ihrer Partei. Lange daran gewöhnt, ohne Echo zu artikulieren, verstiegen sich die Jusos mit manchen Vorstellungen bis zur totalen Beziehungslosigkeit: gegenüber den Realitäten (die man vielleicht verändern, aber nicht leugnen kann), gegenüber der Stimmung der SPD und dem Fassungsvermögen der Wähler.
Schwer erträglich war allzuoft die Donnerwetter-wir-sind-Kerle-Attitüde, mit der sie den Schauplatz des Theorie-Streits besetzten. Die gekränkte Unschuld gar, die ihnen eigen war, wenn sich das sogenannte Partei-Establishment (als ob es unter den Jusos keins gäbe) zur Wehr setzte -- enervierend. Und schließlich: wer als Jungsozialist farbige Herrenunterwäsche als Beispiel für Überflußprodukte wählt, der hat mindestens noch nicht begriffen, von wem sich diese Gesellschaft einen Gag bieten läßt und wem sie ihn verübelt.
Aber Immerhin, verglichen (beispielsweise) mit Schmitt- Vockenhausen und mit Schmidt-Hardthöhe, sind die Jusos doch politische Anfänger. Sollte dies nicht allein schon ausreichen, um der SPD -- vor allem Präsidium, Baracke und Parteirat -- den Blick für die Realitäten zu erhalten?
Hauptsächlich mit sich selbst, nämlich ihrem speziellen Geschick nach den jüngsten Parteiratsbeschlüssen über die Abgrenzung nach links beschäftigt, sind Voigts Leute für geraume Zeit wohl nur in zwei Punkten tatsächlich von Bedeutung. Absichtsvoll brechen sie bei Delegiertenwahlen und Kandidatenaufstellungen in alte Pfründen ein; und selbst dies ist schon wieder etwas rückläufig. Ungewollt liefern sie der daran interessierten öffentlichen Meinung durch einige naiv-blauäugige Formulierungen den billigsten Buhmann, der zu haben ist.
Man kann verstehen, daß die SPD (weniger ihre Spitze als ihre Hinterbänkler) darüber nervös wird. Zehn Jahre, von der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 bis zur Wahl Willy Brandts als Bundeskanzler 1969, haben die Sozialdemokraten gebraucht, um das Honorar für ihren Friedensschluß mit einer Wählermehrheit zu erhalten, die doppelt so lange daran gewöhnt war, den Irrtum, man könne politisch von der Hand in den Mund leben, für die höchste politische Weisheit anzusehen. Und die Mehrheit, mit der die programmatisch entsagungsvolle Sozialdemokratie Gleichschritt faßte, ist dünn. Die Zahnärzte und Diplomingenieure, die bei der letzten Bundestagswahl SPD wählten, können sehr wohl durch theoretische Aufschneiderei der Jusos (Springers Blätter sorgen für Verbreitung) an ihrer Stimmabgabe irre werden.
Also sind die Sozialdemokraten im Blick auf 1973 nervös. Sie beschließen im Parteirat ein Papier, das auch bei einem unfreiwilligen Kontakt mit westdeutschen Kommunisten, etwa bei Lehrlingsdemonstrationen und Hausbesetzungen, an die sich die DKP anhängt, nur noch die Alternative läßt, sich aus der Sache zurückzuziehen oder den Ausschluß aus der SPD zu gewärtigen. Damit sind erstens die Kommunisten zum Schiedsrichter darüber geworden, wo sie das Feld allein bestellen können.
Und zweitens wird die Bereitschaft unter den Jusos, von sich aus -- und damit überzeugend -- den Grenzverlauf nach links zu bestimmen, ein weiteres Mal durch die Lust am Verfolgtsein verdrängt. Diese Tendenz kann die Führung der SPD mühelos verstärken, wenn sie den geplanten kommunalpolitischen Kongreß der Jungsozialisten tatsächlich verbietet.
Es hilft der SPD nichts. Sie muß an den Klischees vorbei zu der Einsicht gelangen, daß eine starre Haltung gegenüber den -- in Wahrheit ziemlich hilflosen -- Jusos den Konflikt nur dahin treibt, die Zahnärzte und Diplomingenieure als Wähler vollends abzustoßen -- und viele Jungwähler zu verlieren, bevor man sie gewonnen hat. So unausgegoren die Parolen der Jusos sind, sie bleiben -- und sei es durch Widerspruch -- der Einstieg in die selbst unter 45jährigen wachsende Erkenntnis, daß mit Pragmatismus allein nichts mehr zu gewinnen ist als eine letzte Verschnaufpause vor der dann um so bittereren Notwendigkeit, auch noch für den nächsten, kleinsten Schritt eine ferne, feste Orientierung zu haben.