»Neue Dimensionen Östlicher Europapolitik«
Am 29. Juli führte die Brüsseler EG-Kommission mit der Verordnung Nr. 1887/76 für den italienischen Markt mengenmäßige Beschränkungen für die Einfuhr von Glühlampen aus bestimmten Staatshandelsländern ein, zu denen die Verordnung die Sowjet-Union, die Tschechoslowakei, Bulgarien und die DDR rechnet.
Vor allem die DDR ist von dieser Maßnahme betroffen. Denn Italien war der Hauptabnehmer für die Glühlampen-Industrie der DDR. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1976 wurden von der DDR rund neun Millionen Stuck Glühlampen im Gesamtwert von umgerechnet etwa fünf Millionen DM nach Italien geliefert. Im Gegensatz dazu sieht die Verordnung der EG eine Beschränkung auf zwei Millionen Stuck für 1976 vor.
Bereits für 1976 erleidet die DDR damit Millionenverluste durch Stornierung von Verträgen. Die Beschränkungen für 1977 sind noch nicht bekannt. Von der mengenmäßigen Beschränkung ebenso betroffen sind die UdSSR, die CSSR, Bulgarien; ausgenommen sind gegenwärtig vom Geltungsbereich der Verordnung Rumänien, Ungarn und Polen; alle drei Staaten führen gegenwärtig mit der EG-Kommission Konsultationen, die laut Verordnung für »beide Seiten annehmbare Lösungen« erwarten lassen. Obwohl diese neue Verordnung zunächst auf den italienischen Markt beschränkt ist, scheint eine Erweiterung auf die gesamte EG nicht ausgeschlossen.
In den RGW-Ländern ist dieser neue Schritt der EG aufmerksam registriert und über seine handelspolitische Bedeutung hinaus mit der grundsätzlichen Haltung der EG zu den künftigen Beziehungen zu den RGW-Staaten in Verbindung gebracht worden. Auf östlicher Seite vermutet man, die EG wolle mit diesem Schritt
* durch weitere Differenzierung zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten des RGW die einheitliche Haltung der RGW-Länder gegenüber der EG aufweichen,
* die RGW-Länder unter Druck setzen, den seit dem 1. Januar 1975 bestehenden vertragslosen Zustand durch den Abschluß neuer bilateraler Handelsverträge zu beenden; und schließlich
* äußerten sich in diesem Vorgehen wohl Bedenken der EG-Länder gegen ein Abkommen zwischen Comecon und EG überhaupt, weil dies mit unüberschaubaren Risiken verbunden sei.
Blenden wir zurück. Am 16. Februar hatte der Stellvertretende Vorsitzende des DDR-Ministerrats, Gerhard Weiß, in seiner (damaligen) Eigenschaft als Vorsitzender des sogenannten Exekutiv-Komitees des Comecon in Luxemburg dem (damaligen) Präsidenten des EG-Ministerrats, Gaston Thorn, zur Überraschung auch mancher Comecon-Staaten ein Aide-Memoire mit Vorschlägen für die Zusammenarbeit zwischen dem Comecon und der EG sowie einen entsprechenden Abkommensentwurf überreicht.
Dieser Schritt des RGW, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
* Am 16. Februar 1976 in Luxemburg.
ein Rahmenabkommen abzuschließen, kündigt in der Tat eine neue Dimension der Europapolitik des Ostens an.
Aus Moskauer Sicht geht es bei diesem Schritt darum, die Festlegungen der Schlußakte der KSZE von Helsinki zu »materialisieren«; konkret heißt dies -- wie es auch nüchtern im Vertragsentwurf des Comecon steht -: Einräumung der Meistbegünstigung an die RGW-Länder, Abbau von Handelshemmnissen, allgemeine Förderung der Wirtschaftszusammenarbeit, also materielle Vorteile aus der Entspannung.
Darüber hinaus: Einsatz der östlichen Integrationsgemeinschaft in der europäischen Arena, Realisierung der gemeinschaftlichen Handelspolitik des Comecon gegenüber der EG. Insbesondere der Sowjet-Union dürfte es dabei darum gehen, auf diese Weise ihre bisherige Abstinenz gegenüber der EG aufzugeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren, und angesichts des wachsenden Interesses, das Peking an den Fortschritten der EG zeigt, dahin zu wirken, daß die Energien der EG auf Zusammenarbeit mit dem RGW gelenkt werden.
Dies sind durchaus neue Dimensionen östlicher Europapolitik, wenngleich die interne Diskussion im Ostblock zur westeuropäischen Integration noch immer Unsicherheit und Unentschiedenheit zeigt, was kaum verwundern kann. Denn es ist noch nicht so lange her, daß Moskau und seine Verbündeten die EG lediglich als »ökonomische Basis« der Nato ansahen und deren Gründung als »völkerrechtswidrigen Akt« abqualifizierten. Dementsprechend hatte die Sowjet-Union noch 1971 bei Unterzeichnung des internationalen Weizenabkommens ausdrücklich erklärt, daß ihre Unterschrift unter dieses Abkommen, an dem die EG durch eine entsprechende Klausel beteiligt wurde, nicht die Anerkennung der EG als solcher bedeute.
Erst allmählich begann sich hier ein Wandel abzuzeichnen: Im März 1972 sprach Breschnew hinsichtlich der EG zum erstenmal von einer Realität, 1973 nahm der RGW-Sekretär Faddejew offizöse Kontakte zur EG auf, 1971 stimmte die Sowjet-Union in der Uno dem Beobachterstatus der EG zu, allerdings nur unter der Bedingung, daß dem RGW der gleiche Status eingeräumt wurde; 1975 akzeptierten die RGW-Länder auf der KSZE in Helsinki, daß der italienische Ministerpräsident Moro nicht nur als Vertreter Italiens, sondern zugleich in seiner Eigenschaft als Präsident des Rates der Europäischen Gemeinschaften das Abschlußdokument unterzeichnete.
Die neue flexiblere Haltung der Sowjet-Union und den mit ihr im Comecon verbundenen Staaten gegenüber der EG ist für diese allerdings alles andere als problemlos. Sosehr die RGW-Länder aus einer vertieften wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den EG-Ländern profitieren möchten, sowenig wollen sie die politischen Integrationsfortschritte in der EG akzeptieren, geschweige denn fördern.
Ganz im Gegenteil: Östliche Diplomaten weisen gelegentlich darauf hin, daß ein Vertragsabschluß zwischen dem RGW und der EG wohl mit der Vorbehaltserklärung der östlichen Seite verbunden sein werde, daß dieser Vertrag der wirtschaftlichen Zusammenarbeit diene, jedoch keine Anerkennung der weitergehenden politischen Absichten der EG-Länder bedeute. Die Sowjets und die DDR treibt dabei die Sorge, die politische Integration Westeuropas könnte vor allem antisowjetische und antikommunistische Stoßrichtungen haben.
Schon die größeren und umfassenderen Kompetenzen, die EG-Organe im Vergleich zum RGW haben, stoßen im RGW auf Argwohn. Sorge vor den politischen Absichten der EG dürfte wohl auch hinter den scharfen Angriffen der Sowjet-Union auf eine direkte oder indirekte Teilnahme West-Berlins an den Europa-Wahlen stehen, obwohl es gerade damit der Osten besonders schwer haben wird, sind doch bis in die jüngste Zeit hinein alle Abkommen der Europäischen Gemeinschaft mit den Efta-Staaten, also mit Österreich, Schweden, der Schweiz, Portugal, Finnland, Island und Liechtenstein, in den Zustimmungsgesetzen des Bundestages mit der üblichen Berlin-Klausel versehen, also auf West-Berlin erstreckt worden.
Der Osten, vor allem die DDR, muß auch damit rechnen, daß die Verhandlungen zwischen RGW und EG eines Tages erneut das Problem der »Sonderbeziehungen« im Handel zwischen BRD und DDR aufwerfen.
Die Europa-Politik der RGW-Staaten steht auch insofern vor einem neuen, unter Umständen fatalen Problem, als sie bei einer grundsätzlich konstruktiven Haltung gegenüber der EG auf längere Sicht damit konfrontiert ist, daß ihr in den Instituten der EG auch Angehörige kommunistischer Parteien des Westens gegenüberstehen werden, zum Beispiel der KPI.
Schon jetzt haben die kommunistischen Parteien Westeuropas zur EG eine recht unterschiedliche Haltung: Während die KPI die EG bejaht, steht die KPF dieser viel kritischer und ablehnender gegenüber. Typisch hierfür ist auch, daß zum Beispiel das Pariser KP-Organ »L'Humanité« bisher von dem Vertragsangebot des RGW an die EG keine Notiz nahm. Auf der Ost-Berliner Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien vermied man jede Aussage zur EG.
Dennoch deutet vieles darauf hin, daß der RGW seine Bemühungen zur Normalisierung der Beziehungen zur EG fortsetzen will. Jedenfalls war davon bei der 30. Ratstagung im Juli in Ost-Berlin die Rede.
Was da auf den Westen zukommt, ist von politisch-strategischer Bedeutung, ist ein ganz neues Feld der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, »Krieg ohne Waffen«, eine ökonomisch-politische Kooperation und zugleich eine ideologisch-politische Konfrontation. Dies gilt nicht zuletzt für die Deutschen in diesem Raum. Denn wenn es zutrifft, daß das Problem der deutschen Wiedervereinigung nur im Rahmen eines langen historischen Prozesses der Entwicklung eines allgemeinen Friedenszustandes in Europa und der europäischen Einigung gelöst werden kann
dann ist die hier aufgezeigte komplizierte Entwicklung der Kristallisationspunkt dieses Prozesses.