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SOWJET-UNION Neue Männer

Seit Gorbatschows Amtsantritt wurden 37 Botschafter ausgewechselt - für eine neue Außenpolitik.
aus DER SPIEGEL 30/1986

Einen defensiven Anstrich habe Gorbatschows Entspannungspolitik, »in scharfem Gegensatz zu dem offensiven Anstrich in den siebziger Jahren«, urteilt der amerikanische Ostexperte Seweryn Bialer ("Foreign Affairs").

In jenen goldenen Siebzigern mühte sich der damalige Parteichef Leonid Breschnew vergebens, die Entspannung »unumkehrbar« zu machen, und focht damals vor allem gegen heimische Widersacher. Militärs sahen mit ihrer Waffenmacht schon »das Kräfteverhältnis in der Welt verändert«, der ZK-Außenpolitiker Boris Ponomarjow trommelte für den »weltrevolutionären Prozeß«, und Außenminister Andrej Gromyko hielt kein Problem »auf der gesamten Erdkugel« mehr ohne sowjetische Genehmigung für lösbar.

Als Ronald Reagan dann mit einer eigenen Politik der Stärke antwortete, verweigerte Gromyko schlicht den Dialog mit dem Westen.

Gorbatschow will wieder verhandeln. Auf dem Parteitag im Februar plädierte er für eine »kollektive Suche nach Möglichkeiten zum Entblockieren an allen heißen Punkten«.

Für eine solche neue Außenpolitik braucht der Generalsekretär neue Männer. Gorschkow und Ponomarjow gingen in den Ruhestand, Gromyko wurde vor einem Jahr Staatspräsident und verlor so seinen in 28 Ministerjahren aufgebauten Machtapparat, das Außenministerium am Smolensker Platz in Moskau.

Die Erbschaft des Weltmacht-Diplomaten Gromyko, 76, teilten sich Gorbatschow, 55, und sein Vize, der ZK-Sekretär und studierte Flugzeugingenieur Jegor Ligatschow, 65. Die beiden restaurierten die führende Rolle der Partei gegenüber dem Gromyko-Apparat.

Ende Mai riefen sie alle Auslandsvertreter der UdSSR bis hinunter zum Generalkonsul nach Moskau; Staatspräsident Gromyko war zu der Konferenz nicht geladen. Vor den Diplomaten rügte Gorbatschow die Eigenständigkeit des Außenministeriums, die Distanz zu den Leitlinien der Partei. Von nun an, so verkündete er, werde die Partei die Außenpolitik wieder »koordinieren«.

Die Sitzung leitete Gromykos Nachfolger, der georgische Ex-Parteichef Eduard Schewardnadse. Dessen Ernennung zum Außenminister sei nur der erste Schritt gewesen, erklärte Gorbatschow, fortan müßten nicht nur die Ministerialbeamten den Primat der Partei beachten, sondern auch die Vertreter im Ausland; es sei überfällig, daß sich der Auswärtige Dienst von seiner konventionellen Arbeitsweise löse.

37 Botschafterposten sind seit Gorbatschows Amtsantritt im März vorigen Jahres neu besetzt worden, etwa jeder vierte. Auf alle wichtigen Außenstationen kamen neue Männer, so in die USA, nach China, England, Frankreich, Japan (wo der Deutschlandkenner Pjotr Abrassimow weichen mußte), Nicaragua, Polen und in die Bundesrepublik.

Acht neue Minister-Stellvertreter wurden ernannt; darunter auch die beiden »Ersten«. Den für die Personalpolitik zuständigen Vize-Außenminister stellte die Personalabteilung des Partei-ZK. Elf Abteilungsleiter im Ministerium - jeder dritte - wurden ausgewechselt.

Aus der Presseabteilung wurde eine »Hauptverwaltung Information«, unter dem bisherigen Chefredakteur ("Moscow News« ) Gennadij Gerassimow, der zum Abschied in seiner Zeitschrift den Stalin-Außenminister Molotow, 96, per Interview rehabilitieren ließ. Der bisherige Pressechef Wladimir Lomejko, Studienfreund des Gromyko-Sohns Anatolij, wurde »Botschafter z.b.V.«, mutmaßlich für Gipfelkonferenzen.

Wurde Bonn mit dem deutsch sprechenden Abrüstungsexperten Julij Kwizinski als Botschafter bestens bedient, so scheint die Besetzung der anderen Posten weniger von Qualität als von Loyalität bestimmt zu sein. London etwa geriet zur Sinekure für den unbeherrschten Leonid Samjatin, 64. Der spricht besser Deutsch als Englisch und war bis dahin Leiter der ZK-Abteilung für Auslandsinformation, die jetzt der ZK-Propagandaabteilung zugeschlagen wurde.

Nach Dänemark wurde ein vormaliger Verlagsdirektor entsandt. In die Bruderstaaten Kuba, Mongolei, Äthiopien gingen Parteifunktionäre. In Polen amtiert der bisherige Premier des sowjetischen Bundeslandes Belorußland, in Somalia der Außenminister von Usbekistan, in Ungarn residiert nun der bisherige Leiter der ZK-Propaganda-Abteilung.

Nach Washington, dem wichtigsten Außenposten, schickte Gorbatschow einen unerfahrenen Mann: Jurij Dubinin. Der studierte Historiker, Fachmann romanischer Länder, des Englischen weniger kundig als des Französischen und Spanischen, hatte die UdSSR bis zum Februar in Spanien vertreten.

Seine Berufung nach Washington demonstriert, von wo aus künftig die andere Weltmacht beobachtet wird: aus Moskau. Denn dort übernahm Dubinins Vorgänger in Amerika, Anatolij Dobrynin, das Amt des pensionierten Weltrevolutionärs Ponomarjow: die Leitung der ZK-Abteilung für Internationales. Nachfolgebehörde der 1943 aufgelösten »Kommunistischen Internationale«.

Mit dem Wechsel von Ponomarjow zu Dobrynin wurden die Kompetenzen der Abteilung drastisch erweitert: Sie ist nun nicht mehr nur für nichtregierende kommunistische Parteien im Ausland zuständig, sondern generell für Außenpolitik, ein Überaußenministerium der Partei. Es dient vor allem dem Mann, der im ZK-Apparat am Moskauer Alten Platz ständig die Geschäfte führt: Jegor Ligatschow, der - nach dem Generalsekretär Gorbatschow - »Zweite Sekretär«.

Ligatschow kennt Dobrynin vom gemeinsamen Studium am Moskauer Luftfahrtinstitut 1942. Nach dem Krieg machte Ligatschow Parteikarriere, während Kommilitone Dobrynin sich in den diplomatischen Dienst meldete.

Dobrynin amtierte 24 Jahre lang als Botschafter in den USA, ein Amerikakenner mit direktem Draht zu sechs US-Präsidenten. Er galt als Vertrauter Gromykos; erst seine Berufung in die Parteizentrale offenbarte, daß er jetzt einen noch mächtigeren Förderer hat.

Dobrynin lud vorige Woche Richard Nixon, einst US-Präsident, nach Moskau - und versetzte ihn erst einmal wegen eines Kondolenz-Besuchs in Vietnam. Dabei ist Dobrynin ein aufgeschlossen denkender Mann. Seit Tschernobyl sieht der gelernte Ingenieur Gefahren in der modernen Technologie, wie er - unter Bezug auf die Atomkatastrophe - am 27. Mai auf einer Wissenschaftler-Konferenz versicherte. Eine Lösung der globalen Wirtschaftsprobleme könne »lediglich durch Vereinigung der nationalen Anstrengungen im internationalen Rahmen erzielt werden«.

Als Staat, befand der neue Partei-Außenpolitiker Dobrynin, habe die Sowjet-Union nicht das Ziel, den Kapitalismus in anderen Ländern zu beseitigen. Abschied von der Weltrevolution?

Solche defensiven Vorstellungen hatte auch Wadim Sagladin vertreten, als er noch Stellvertreter des Altrevolutionärs Ponomarjow war, der ganz anders darüber dachte. Nun ist Sagladin der Stellvertreter Dobrynins.

Den Botschafterposten in Washington oder in Paris hatte Sagladin, der Englisch, Französisch und Deutsch spricht und bei Eurokommunisten beliebt ist, ausgeschlagen. Und dann erschien ein Neuling in der Diplomatie, der gelernte Dreher und studierte Ingenieur Jakow Rjabow, 58.

Ihn kennt gut der Ministerpräsident Nikolai Ryschkow, mit dem zusammen er in Swerdlowsk Karriere gemacht hat. Rjabow brachte es zum ZK-Sekretär für Rüstung. Am Ende Vizepremier, bekam er die Residenz in Paris.

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