SPIEGEL: Herr General, auf dem Balkan hat sich das Blatt gewendet. Hat die Nato den Kroaten und Bosniern den Sieg beschert?
Joulwan: Mir widerstrebt der Begriff Sieg. Wir wurden gebeten, bestimmte Dinge zu tun, um ein politisches Ziel zu erreichen: die Öffnung der Zufahrtswege nach Sarajevo, die Inbetriebnahme des Flughafens und die Beendigung der Artillerieangriffe auf die Uno-Schutzzonen. Das ist uns anscheinend gelungen.
SPIEGEL: Sie übertreiben Ihre Bescheidenheit. Die Gegner der Serben haben die Nato-Luftangriffe für ihren Vormarsch ausgenutzt. Damit sind Sie indirekt Kriegspartei geworden.
Joulwan: Wir führen nur einen Auftrag der Uno aus. Das bedeutet eben nicht, daß wir uns auf eine Seite schlagen. Es ging um eine Reaktion der Uno auf eine serbische Aktion, nämlich die Granaten auf den Marktplatz von Sarajevo. Danach haben wir alles fein säuberlich mit der Uno abgestimmt - jedes einzelne Ziel, das bombardiert wurde.
SPIEGEL: Warum haben Sie nicht einfach die Geschütze rings um Sarajevo angegriffen, sondern Kommunikationssysteme, Brücken, Munitionsdepots? Ging es Ihnen nicht doch darum, die bosnischen Serben strategisch zu schwächen?
Joulwan: Wir wollten nicht hinter jeder einzelnen Kanone herjagen, die sind nicht leicht zu treffen. Die Serben versteckten sie häufig neben zivilen Gebäuden, Schulen, Krankenhäusern. Jeder Angriff auf eine solche Stellung hätte viele Opfer bedeutet.
SPIEGEL: Rußland hat die Nato trotzdem des Völkermords bezichtigt.
Joulwan: Wenn das so wäre, hätten der SPIEGEL oder CNN längst schreckliche Bilder von den Getöteten gebracht. Wir haben uns bei der Zielauswahl wirklich sehr viel Mühe gegeben. Ich glaube, die andere Seite hat das begriffen. Ich wußte _(Das Gespräch führten die Redakteure ) _(Rainer Pörtner, Romain Leick, Alexander ) _(Szandar. )
immer, daß sie die schweren Waffen am Ende abziehen würde.
SPIEGEL: Wissen Sie denn auch, wie viele Zivilisten getötet wurden?
Joulwan: Nein. Wissen Sie es?
SPIEGEL: Woher denn? Aber wissen Sie wenigstens, welchen Schaden Ihr wochenlanges Bombardement bei den Serben angerichtet hat?
Joulwan: Wir haben ihr Kommunikationsnetz - also Fernmeldeanlagen, Befehls- und Führungseinrichtungen - zerstört, und wir haben mittlere Schäden bei der integrierten Luftabwehr und der logistischen Infrastruktur - Munitionsdepots und dergleichen - bewirkt. General Mladic hat offenbar erkannt, daß er seine Truppen am Ende nicht mehr nach Belieben hin und her bewegen konnte. Er hatte praktisch keine Verbindung mehr zu seinen Verbänden.
SPIEGEL: Was heißt »mittlere Schäden«? Warum weichen die Serben dann vor den bosnischen und kroatischen Regierungstruppen zurück?
Joulwan: Ihre Moral wurde schwer getroffen. Es ist dagegen nicht leicht, ein modernes Luftverteidigungssystem komplett auszuschalten. Da fliegt ja nicht ein festes Gebäude in die Luft, das sich so bald nicht wieder aufbauen ließe. Die Raketenwerfer sind mobil, Funkmasten und Relaisstationen sind schnell zu ersetzen. In dem bergigen Gelände lassen sich die Einzelteile dieses tief gestaffelten Systems nur schwer aufspüren. Vollständig werden wir das aus der Luft wohl nie zerstören. Deshalb spreche ich nur von mittleren Schäden.
SPIEGEL: Sie haben auch 13 »Tomahawk«-Marschflugkörper eingesetzt. Wollten Sie den Serben vorführen, was die Nato so alles in ihrem Arsenal hat?
Joulwan: Die Tomahawks haben rund um Banja Luka einen guten Job verrichtet. Die Serben hatten eine extrem dichte Flugabwehr aufgebaut, mit SA-2- und SA-6-Raketen, SA-9 und SA-7, ergänzt um Waffensysteme, die sie aus der Krajina herübergeschafft hatten. Die haben ein sehr gutes Lagebild, das Personal ist hervorragend ausgebildet. In dieser Lage ist die Tomahawk eine ausgezeichnete Waffe.
SPIEGEL: Dennoch wird Ihnen vorgeworfen, den Konflikt unnötig eskaliert zu haben.
Joulwan: Vielleicht hat es ja irgendwo ein bißchen politisches Grummeln gegeben. Aber ich sehe die Eskalation nicht. Die Tomahawk ist nur ein anderes Waffensystem. Vor die Wahl gestellt, gegen eine so dichte Luftabwehr unbemannte Marschflugkörper einzusetzen oder das Leben vieler Piloten in ihren Flugzeugen aufs Spiel zu setzen, haben wir eine sehr kluge und richtige Entscheidung getroffen.
SPIEGEL: Sie haben mehr als 600 Präzisionslenkwaffen sowie etwa 400 konventionelle Raketen und Bomben eingesetzt. Mußte mit dem Geschoßhagel auch die Glaubwürdigkeit der Nato gerettet werden?
Joulwan: Das war wohl mehr ein Problem der Uno. Wenn die Nato gefragt wurde, hat sie nie nein gesagt. Und sie hat bisher alles, wofür sie angefordert wurde, erfolgreich erledigt. Wir können jeden Auftrag erfüllen. Sämtliche Mechanismen einer multinationalen Streitmacht, die in 40 Jahren aufgebaut wurde, haben funktioniert. In Bosnien haben Sie die neue Nato in Aktion gesehen: Sie operierte außerhalb ihres ursprünglichen Einsatzgebietes, unterstützte den Uno-Sicherheitsrat und half bei der Durchsetzung politischer Ziele im postkommunistischen Europa.
SPIEGEL: Fast ein Jahr lang haben Sie Pläne entworfen, um einen Abzug der Uno-Blauhelme aus Bosnien mit 60 000 Nato-Soldaten zu schützen. Liegen die jetzt im Papierkorb?
Joulwan: Nein. Wir bereiten uns auf viele Eventualitäten vor. Wir sind flexibel - vielleicht müssen wir uns jetzt auf eine Kombination von Abzug und neuer Friedenssicherung einstellen.
SPIEGEL: Uno-Generalsekretär Butros Butros Ghali möchte, daß nach Abschluß eines Friedensabkommens Nato-Truppen den Frieden auf dem Balkan sichern. Wäre das nicht eher eine klassische Aufgabe für eine Blauhelm-Truppe?
Joulwan: Ich will erst einmal den Auftrag abwarten, den mir die Politiker erteilen. Aber ich denke, es könnte eine Nato-Operation werden.
SPIEGEL: Befehligt von einem amerikanischen General?
Joulwan: Ich betrachte mich als Nato-Offizier, auch wenn ich eine amerikanische Uniform trage.
SPIEGEL: US-Verteidigungsminister William Perry fordert, die Friedenstruppe müsse so schlagkräftig sein, daß sie notfalls mit Entschiedenheit und minimalen eigenen Verlusten zurückschlagen könne. Nach klassischer Friedensbewahrung klingt das nicht.
Joulwan: (auf deutsch) Klarheit über alles. Solange ich keinen politischen Auftrag habe, spekuliere ich nicht über die Art des Einsatzes. Ich weiß nicht, ob dazu gehören wird, den Frieden nach Kapitel VII der Uno-Charta mit Waffengewalt zu erzwingen.
SPIEGEL: Die Lehre aus der mißglückten Uno-Aktion in Somalia lautete aber, daß es nicht funktioniert, den Frieden im humanitären Einsatz zu überwachen und zugleich gewaltsam gegen Konfliktparteien vorzugehen.
Joulwan: Volle Klarheit über Auftrag und Ziele, über Einsatzregeln und Endergebnis sind Voraussetzung für den Erfolg einer Operation. Wenn die Nato sich in Bosnien engagiert, werden diese Bedingungen erfüllt sein.
SPIEGEL: Haben Sie Vorbehalte gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an einer solchen Friedenstruppe? Die Serben sehen jetzt schon den Geist des deutschen Militarismus auf dem Vormarsch.
Joulwan: Ich schätze die Bundeswehr sehr. Ihre Tornados haben in den letzten Wochen sehr wichtige Aufgaben erfüllt. Daß die Deutschen mitmachen, auch wenn sie nur einen begrenzten Auftrag haben, ist für die Solidarität in der Allianz von enormer Bedeutung.
SPIEGEL: Also werden Sie deutsche Bodentruppen für den Balkan anfordern?
Joulwan: Wenn es zu einem Nato-Einsatz am Boden kommt, würde meine Anforderung an alle Staaten gehen. Die Entscheidung über einen deutschen Beitrag liegt allein in Bonn.
SPIEGEL: In Bosnien stehen auch russische Blauhelm-Soldaten. Die werden sich wohl kaum von einem Nato-General kommandieren lassen.
Joulwan: Auch dafür läßt sich eine Regelung finden. Unter dem Kürzel CJTF* arbeiten wir in der Nato schon seit zwei Jahren an einem Konzept, wie sich unsere Stäbe und Hauptquartiere auch für Einsätze nutzen lassen, die von der Westeuropäischen Union geführt werden. Das können wir auf gemeinsame Operationen mit Staaten übertragen, die keinem der beiden Bündnisse angehören. Warum also nicht auch mit Rußland?
SPIEGEL: Aus Moskau kommen wegen der geplanten Nato-Erweiterung zur Zeit harsche Töne. Droht ein neuer Kalter Krieg?
Joulwan: Ich hoffe sehr, daß es dazu nicht kommt. Was wir tun, richtet sich nicht gegen Moskau. Deshalb freue ich mich, daß Rußland jetzt in unserem Programm »Partnerschaft für den Frieden« mitarbeitet. Die Russen schicken Manöverbeobachter. Wir haben eine gemeinsame Seeübung gemacht. Wir wollen _(* Combined Joint Task Forces - ) _(gemeinsame Einsatzgruppen. )
Manöver der Landstreitkräfte abhalten. Das schafft Vertrauen.
SPIEGEL: Bisher galt: Vertrauen ist gut, Abschreckung ist besser. Stellen die russischen Streitkräfte keine Bedrohung mehr dar?
Joulwan: Ich weigere mich, Rußland heute in eine Schublade mit dem Etikett Bedrohung zu stecken. Das ist der falsche Ansatz. Vielmehr müssen wir alles tun, um einander näherzukommen - wirtschaftlich, politisch, militärisch.
SPIEGEL: Die baltischen Staaten fühlen sich von Rußland sehr wohl bedroht und drängen deshalb in die Nato. Könnten Sie die Balten im Ernstfall schützen?
Joulwan: Die Nato ist fraglos in der Lage, ihre Interessen notfalls zu verteidigen. Aber ich lehne es ab, in Kategorien aus der Vergangenheit zu denken. Die Nato hat allen Ländern, die früher im gegnerischen Lager standen, die Hand zur Freundschaft gereicht.
SPIEGEL: Normalerweise braucht eine Militärallianz für ihren Zusammenhalt einen Gegner. Die Nato ist doch kein Verein für Völkerfreundschaft.
Joulwan: Die Nato bleibt der einzige Fels der Stabilität in einem unruhigen Umfeld. Aber sie steht für mehr als nur Panzer, Schiffe und Flugzeuge. Wir teilen Ideale und Werte von Menschenwürde und Demokratie. Die Nato will Vertrauen bilden, Stabilität und Demokratie fördern. Demokratische Rechtsstaaten schießen nicht aufeinander. Darum geht es in der Partnerschaft für den Frieden. Das ist meine Vision von der neuen Nato, vom neuen Europa.
SPIEGEL: Sie sind ja voller Begeisterung für dieses Programm. Als es 1993 in Travemünde auf den Tisch kam, sollte es lediglich die Mittel- und Osteuropäer ruhigstellen und die Nato-Erweiterung auf die lange Bank schieben.
Joulwan: Darüber sind wir längst hinaus. Das Partnerschaftsprogramm wird weithin unterschätzt. Unabhängig von der Aufnahme neuer Mitglieder ist es jetzt wichtig, daß wir schnell vorankommen und keine Chance vertun. Ich will mit den Karten spielen, die ich in der Hand habe, und nicht lange auf ein besseres Blatt warten.
SPIEGEL: Neue Mitglieder sollen einen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten können und sich dem gemeinsamen Oberkommando unterstellen. Wären denn die Streitkräfte der Tschechen oder Ungarn dazu schon in der Lage?
Joulwan: Als der erste Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General Dwight D. Eisenhower, 1951 in Paris das Wappen des Alliierten Hauptquartiers entwarf, machte er zwölf silberne Speerspitzen auf grünem Grund zum Symbol für die damals zwölf Mitglieder. Seither hat die Nato mehrmals neue Mitglieder aufgenommen . . .
SPIEGEL: . . . so auch Deutschland im Jahr 1955 . . .
Joulwan: . . . und damals hat niemand gefragt, ob die Neuen alle technischen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft erfüllten, ob sie dieselbe Ausrüstung hätten wie die übrigen Nato-Staaten.
SPIEGEL: Wann wird denn der erste Offizier aus Polen oder Ungarn hier auf Ihrem Flur im Hauptquartier arbeiten?
Joulwan: Die sitzen doch schon ganz in der Nähe - keine hundert Meter von meinem Schreibtisch entfernt. Da arbeitet ein Stab für das Partnerschaftsprogramm. Vor der Tür wehen die Flaggen von 42 Nationen, alphabetisch geordnet von Albanien bis Usbekistan. Hätte ich Ihnen das vor zwei Jahren prophezeit, hätten Sie mich für verrückt erklärt.
SPIEGEL: Das sind nur Verbindungsoffiziere. Die haben nichts zu sagen.
Joulwan: Aber wir arbeiten prächtig zusammen. Es geht doch zunächst darum, Einsatzdoktrinen, Verfahrensregeln, Arbeitsmethoden für gemeinsame Friedensaktionen und andere Operationen wie zum Beispiel Katastrophenhilfe zu entwickeln. Daß dies die wichtigsten Voraussetzungen dafür sind, um irgendwo auf der Welt zusammenarbeiten zu können, habe ich dem russischen Verteidigungsminister erklärt. Und er hat mir zugestimmt.
SPIEGEL: Soll das heißen, daß sich nun auch im russischen Generalstab das neue Denken durchsetzt?
Joulwan: Ich will da kein allzu rosiges Bild malen. Vielen Generälen der alten Garde fällt die Umstellung schwer. Aber viel wichtiger sind die jüngeren Offiziere, die jetzt ständig mit unseren Soldaten in Kontakt kommen und viel über Streitkräfte in einer Demokratie erfahren. Das ist die Zukunft.
SPIEGEL: General Joulwan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Rainer Pörtner, Romain Leick,Alexander Szandar.* Combined Joint Task Forces - gemeinsame Einsatzgruppen.