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ISRAEL / BESETZTE GEBIETE Neue Tatsachen

aus DER SPIEGEL 50/1970

Acht junge Israelis, Männer und Frauen, machten sich auf den Weg nach Kuneitra auf den ehemals syrischen Golan-Höhen. Dort bezogen sie einige Baracken in dem verlassenen Offiziers-Camp der Stadt, fingen herumstreunende Kühe der geflohenen Syrer ein und begannen, die umliegenden Felder zu bestellen. Der »Kibbuz Golan« war gegründet, im Sommer 1967.

Den acht Pionieren vom »Kibbuz Golan« folgten inzwischen Tausende weitere Kibbuzniks in die 1967 von Israel eroberten Gebiete. Heute siedeln Israelis bereits in 14 Dörfern auf den Golan-Höhen, neun Wehrdörfer baute Israel in Westjordanien, fünf Siedlungen gründeten die Israelis in den letzten drei Jahren auf der ehemals ägyptischen Sinai-Halbinsel.

Nur im Gaza-Streifen, in dem arabische Attentäter permanenten Ausnahmezustand erbomben, wagten sich die Israelis nicht niederzulassen -- bis letzte Woche: Vergangenen Montag weihten sie Kar Darom ein, die erste israelische Wehrsiedlung in dem explosiven Küstenstreifen.

Strategische, geopolitische und wirtschaftliche Motive veranlaßten Israels Regierung nach dem Sechs-Tage-Krieg, in den eroberten Gebieten Wehrsiedlungen anzulegen. »Je mehr Siedlungen in strategisch wichtigen Gebieten begründet werden«, proklamierte Vizepremier Jigal Allon, »um so eher sind wir künftig in der Lage, sichere Grenzen zu errichten.« Mosche Dajan spricht gern von »neuen Tatsachen«, die mit den Wehrdörfern geschaffen würden, von »Israelisierung« besetzter Gebiete.

Die Israelisierung besorgen zum Teil Neueinwanderer, die vor allem aus den westlichen Wohlstandsländern kommen und zurück in die Natur streben. Immigranten aus orientalischen Ländern zieht es hingegen weniger in die karge Hochebene des Golan oder in den Hitzekessel der Jordansenke -- sie bevorzugen das Wohlstandsleben im israelischen Kernland.

Die meisten Pioniere in den israelischen Dörfern der besetzten Gebiete sind Mitglieder von Nachal, einer Armee-Einheit, die Waffendienst und Ackerbau miteinander verbindet.

Die Nachal-Rekruten absolvieren zu Beginn ihrer dreijährigen Dienstzeit wie alle Wehrpflichtigen eine militärische Grundausbildung, lernen ein Jahr lang die Grundregeln der Landwirtschaft und gehen dann in ein Wehrdorf -- oder gründen eins.

Bodenvermessungen, Suchaktionen nach Wasserquellen, geologische und meteorologische Forschungen gehen meist einer Dorfgründung voraus. In kurzer Zeit entwickeln sich dann die Siedlungen der Neuzeit-Pioniere zu florierenden Unternehmen:

Landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 4,5 Millionen Mark verkauften die Dörfler auf den Golan-Höhen im vergangenen Jahr. Nach einem Fünf-Jahres-Plan sollen dort bis 1975 etwa 3500 weitere Israelis in 17 Dörfern angesiedelt werden. Drei städtische und zwei weitere Touristik-Zentren im Gesamtwert von 300 Millionen Mark sind geplant.

Das Nachal Dikla und das Nachal Sinai am Golf von Suez produzieren Wintergemüse, das bis nach Frankfurt und Zürich geflogen wird. Der Nachal Jam an der Dardawill-Lagun~ auf der Sinai-Halbinsel fing letztes Jahr 600 Tonnen Fische,

Im salzhaltigen Jordantal züchten israelische Forscher Fische, die in bestimmten Salzwasser-Konzentrationen leben können. Letzte Woche weihten die Israelis am Toten Meer sogar ein Thermalbad ein -- genau an der Stelle, wo vor fast 2000 Jahren römische Legionäre kurten.

Die Wehrsiedlungen im Jordantal, oft nur einige hundert Meter von der Front entfernt, sind längst keine Provisorien mehr; sie sehen eher aus wie Musterfarmen: mit Blumenbeeten um die luftgekühlten Wohnhäuser, mit Swimming-pool und modernsten Traktoren.

Viele Nachal-Mitglieder bleiben daher auch nach dem Ende der Wehrpflicht in ihrer Siedlung. Regelmäßig werden Wehrdörfer in zivile Dörfer umgewandelt,

Eines dieser ehemaligen Wehrdörfer ist Mehola im Norden des besetzten Jordantals, nur wenige hundert Meter vom Jordan entfernt. Vor einem Jahr noch war das Wachhäuschen am Eingang des Dorfes Tag und Nacht von einem Wehrdörfler besetzt; heute steht es leer.

Junge israelische Soldaten beiderlei Geschlechts, die alle während ihrer Schulzeit der gleichen religiösen Jugendorganisation angehört hatten, waren hier als Nachal-Mitglieder stationiert. Bis zum letzten Januar bestellten sie die Felder in Uniform, jetzt arbeiten sie dort in Zivilkleidung.

Die Kibbuzniks von Mehola bewirtschaften etwa 1600 Morgen, die den Bauern des Tals nach israelischen Angaben abgekauft wurden. Ein Bauer weigerte sich zu verkaufen. Sein Hof liegt heute als Enklave in den Feldern der Israelis.

In anderen Teilen der besetzten Gebiete fragen die Israelis die Araber freilich nicht, ob sie verkaufen wollen -- dort enteignen die Besatzer.

Im Sommer letzten Jahres befahl der Militärgouverneur von Bethlehem den Bauern von drei arabischen Dörfern zwischen Bethlehem und Hebron in Westjordanien, ein Gebiet von 220 Hektar zu räumen; die Behörden setzten eine Entschädigung fest. Angeblicher Grund für die Enteignung: Die Hügel, auf denen die Äcker liegen, würden aus strategischen Gründen von der Armee benötigt. Tatsächlicher Grund: Auf dem Gebiet sollte ein Kibbuz gegründet werden.

»Das ist nur der erste Schritt«, klagte der Kadi von Hebron, Radschab Bajud, »später fordern sie uns dann auf, unsere Häuser und unser Land zu verlassen.« In Radschabs Heimatstadt Hebron will Israels Regierung in naher Zukunft 1000 Juden ansiedeln. Im März beschloß das Kabinett bereits, in Hebron einen jüdischen Vorort mit 250 Wohnungen zu bauen.

Der Kabinettsbeschluß erregte nicht nur die Araber, sondern auch linke Israelis. Der sozialistische Abgeordnete Avnery sah darin »ein Manöver gegen den Frieden«. Vor dem Haus von Golda Meir demonstrierten Studenten mit Slogans wie »Entweder Frieden oder Ansiedlung« und »Sicherheit -- ja; Annexion -- nein«.

Die Annexion Ostjerusalems, von den Israelis 1967 proklamiert, zementierten die Israelis inzwischen mit jüdischen Wohnvierteln rund um die Heilige Stadt. Im Wohngebiet »Ramat Eschkol« sind 2000 von 2500 vorgesehenen Wohnungen bereits fertig, auf dem »French Hill« begannen die Bauarbeiten vor einem Jahr; 10 000 Menschen sollen demnächst in diesem jüdischen Viertel wohnen.

Erst im Oktober ermächtigte Golda Meire Kabinett den Finanzminister, mehrere Quadratkilometer Land zu enteignen -- in Ostjerusalem und teilweise sogar außerhalb der Jerusalemer Stadtgrenzen im ehemaligen Westjordanien.

Städtebau betreiben die Israelis auch 450 Kilometer weiter südlich auf der Sinai-Halbinsel. In Scharm el-Scheich, an dem strategisch wichtigen Sinai-Südzipfel, bauten sie zwei Touristen-Hotels und eine Wasserentsalzungsanlage, Auf einem ausgezeichneten Rohfeld starten und landen die Flugzeuge, die diesen abgelegenen Wüstenteil mit Tel Aviv verbinden, im August wurde eine 224 Kilometer lange Autostraße fertig, die Scharm el-Scheich mit Eilat verbindet.

Zwei weitere Hotels, mehrere Kühlhäuser, eine Eisfabrik und Wohnanlagen sollen in naher Zukunft Scharm el-Scheich in eine »moderne jüdische Stadt« (Wohnungsbauminister Scharef) verwandeln. »Was das (seit 1948 israelische) Eilat einst war«, erklärte Mosche Dajan, »wird Scharm el-Scheich einmal werden.«

Obwohl Regierungschefin Meir hartnäckig bestreitet, daß die israelische Landnahme in den besetzten Gebieten eine Räumung arabischer Territorien ausschließe, zweifeln die Araber gerade wegen der Besiedlung an der Ernsthaftigkeit des Israelischen Friedenswillens: Sie sehen in den Nachal-Kibbuzim, in den Hotels auf der Sinai-Halbinsel und den Thermalbädern am Toten Meer nur Beweise für den expansionistischen Drang der Israelis, für die Militanz des Judenstaates.

»Glauben Sie«, fragt Hamdi Kanaan, ehemaliger Bürgermeister von Nablus, »die gehen hier weg und geben das alles auf?«

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