JUSTIZ / ZEUGEN JEHOVAS Neue Versuchung
Im Gefängnis zu Nürnberg büßten drei fromme Brüder: weil sie nicht gesündigt hatten, wie das Gesetz es befiehlt.
Denn die drei Zeugen Jehovas hatten den Wehrersatzdienst verweigert, der nach der Lehre ihrer Sekte als Sünde gilt. Nach bundesdeutscher Rechtslehre freilich war das »Dienstflucht«.
Während die Verkünder des Paradieses auf Erden, die in West- wie Ostdeutschland mit den Wehrgesetzen kollidieren, noch in der Zelle den Konflikt zwischen göttlicher und staatlicher Ordnung durchlebten, erreichte sie schon eine neue Versuchung: die zweite Einberufung zum zivilen Ersatzdienst, den sie nach ihrer Entlassung antreten sollten.
Wieder lehnten die Gläubigen ab, und sie wurden prompt noch einmal verurteilt -- jeder zu sechs Monaten Gefängnis. Ihre Revisionen verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als »offensichtlich unbegründet«.
Das aber waren sie offensichtlich nicht. Denn der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe setzte unlängst auf Beschwerden der Fürther Rechtsanwälte Ernst Escher und Werner Schier den Vollzug der zweiten Strafen aus und befand: Es seien zuvor »schwierige verfassungsrechtliche Fragen« zu klären, die »eingehender Prüfung« bedürften.
Mit dieser Entscheidung ist die zweifelhafte Rechtsprechungspraxis westdeutscher Richter, um des Staates willen durch wiederholte drakonische Strafen das Gewissen einer religiösen Minderheit zu drangsalieren, in Zweifel gezogen worden.
153 Zeugen Jehovas wurden bislang in der Bundesrepublik für einen Gewissensentscheid zweimal nach dem »Gesetz über den zivilen Ersatzdienst« wegen »Dienstflucht« (Mindeststrafe ein Monat Gefängnis) eingesperrt. 153 Zweitverfahren laufen noch. Und zwei Bibelforscher werden sogar zum drittenmal verfolgt.
Jahr um Jahr haben sich fast alle Oberlandesgerichte über die Gewissensnot der »Wachtturm«-Leute hinweggesetzt.
So dekretierte das Hanseatische Oberlandesgericht: »Bei einer zweiten Einberufung und zwei Verurteilungen zu vier bzw. fünf Monaten Gefängnis liegt ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht vor, ohne daß dies weiterer Ausführungen bedarf.« Großzügig verwiesen die Oberlandesrichter auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der das Problem überhaupt nicht erörtert worden war. Und laut Oberlandesgericht Hamm »bedarf es unter Umständen bei einem Überzeugungstäter, der ... nachdrücklich bei seiner Einstellung beharrt ... gerade besonders nachdrücklicher Ahndung«.
Dem Volk und der Verfassungs näher waren westdeutsche Amtsrichter. Der Flensburger Richter Johannes Meyer zum Beispiel beugte sich nur widerwillig höherer Rechtserkenntnis« als er die beiden Zeugen Jehovas Hans-Dieter Jensen und Siegmar Dukat zum zweitenmal verurteilte. Daß die Behörden durch einen zweiten Einberufungsbescheid einen neuen Straftatbestand auslösen könnten, so tadelte Meyer, passe »nicht in das Bild unseres demokratischen Staatswesens«.
Der Ravensburger Richter Kurt Schmidtmayer sprach einen Zeugen Jehovas von der zweiten Anklage wegen »Dienstflucht« mit dem Geständnis frei, er habe erstmals ein Urteil gefällt, von dem er genau wisse, daß es im Revisionsverfahren vom Oberlandesgericht Stuttgart aufgehoben werde.
·Artikel 4 des Grundgesetzes: »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.«
»So geht das nicht weiter«, kritisiert in der »Juristenzeitung« der Tübinger Professor Günter Dürig die Korrumpierung richterlichen Gewissens. Der Grundgesetz-Kommentator sieht die Mehrfachbestrafung der Zeugen Jehovas als Angriff auf ihre Gewissensentscheidung, die »durch die Forderung, sittliche Ratenleistungen zu erbringen«, verfälscht und »durch wiederholte Strafen zerbrochen werden soll«.
Und wie der Bremer Oberlandesgerichtsrat Dr. Horst Woesner (siehe Kasten Seite 66) weiß, betrachten Strafverteidiger die herrschende Rechtsprechung »als unverhüllte Terrorisierung einer religiösen Gruppe mit dem erklärten Ziel, deren sittliche Grundhaltung zu brechen«.
»Es ist ein Widerspruch«, so schreibt der Berliner Rechtsanwalt Dr. Adolf Arndt in der »Neuen Juristischen Wochenschrift«, »die Auschwitz-Mörder strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, weil sie ... ihr Gewissen unterdrückten, und gleichzeitig Ersatzdienstverweigerer, weil sie nach ihrem Gewissen ... dienen wollen, deswegen ins Gefängnis zu sperren, und zwar unbegrenzt und immer wieder, um ihr Gewissen zu brechen und darauf zu pochen, Gesetz sei Gesetz und das Gesetz komme vor dem Gewissen.«
Die rechte Rangfolge erläuterte vor zwei Jahren der Münchner Rechtsprofessor Willi Geiger so: »Der freiheitliche Rechtsstaat nimmt ... das Gewissen seiner Bürger so ernst, daß er niemals von Rechts wegen gegen sie den Zwang ausübt, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen.«
Geiger ist Richter in jenem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, der über die Beschwerden der drei Zeugen Jehovas zu entscheiden hat.
Das Oberlandesgericht Bremen hat bereits Konsequenzen gezogen: Sein Strafsenat setzte ein anhängiges Verfahren gegen einen Zeugen Jehovas bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts aus.