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Auf der Suche nach einer besseren Welt Neue Welle aus Moskau?

Zu Lebzeiten Lenins diente die revolutionäre Sowjetbühne der Welt als Vorbild. Wie sowjetische Regisseure, Darsteller und Autoren heute versuchen, sich aus der Erstarrung der Stalin-Zeit zu lösen, schildert der stellvertretende Chefredakteur der »New York Times«, Harrison E. Salisbury, 38.
aus DER SPIEGEL 45/1967

Am Abend des 2. Juli 1967 wimmelte es auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Moskauer »Theater an der Taganka« von ungeduldigen jungen Leuten, die den Vorübergehenden erwartungsvoll zuraunten: »Lischnij bilet jest?« ("Haben Sie noch eine Karte übrig?")

In dem kleinen schmucklosen Haus war jeder Platz besetzt. Unter den Zuschauern saßen zwei, drei Diplomaten -- ein seltener Anblick in der avantgardistischsten aller Moskauer Studiobühnen; mehrere Auslandskorrespondenten waren gekommen und viele jener Leute, die in Moskau die liberale Richtung in Literatur, Malerei und Musik repräsentieren. Man spürte es: Ein Ereignis stand bevor.

Copyright 1967 The New York Times News Service.

Auf dem Programm stand die zweihundertste Aufführung des Stücks »Antimiry« ("Antiwelten"), eines Theater-Spektakulums, das nach einem schmalen Gedichtband von Andrej Wosnessenski inszeniert wurde.

Die Aufführung fand zu einem Zeitpunkt statt, da Wosnessenski sich in großen Unannehmlichkeiten befand. Etwa einen Monat zuvor war er in den USA gewesen, und nach seiner Rückkehr sah er sich heftiger als sonst der Parteikritik ausgesetzt.

Während er sich im Ausland stets zurückgehalten hatte, sprach er bei seiner Rückkehr nach Moskau sehr offen. Er hatte einen Brief an den sowjetischen Schriftstellerverband gerichtet, in dem er sich der Forderung Alexander Solschenizyns anschloß, die Zensur abzuschaffen.

Die kalten Krieger der sowjetischen Kulturfront parierten sofort. Man entzog Wosnessenski die Erlaubnis, ein zweites Mal nach New York zu reisen, obwohl er sein Erscheinen im Lincoln Center bereits zugesagt hatte. Das Wissen um Wosnessenskis Auseinandersetzung mit den Behörden und der Ruf von Mut und Streitlust, den das Taganka-Theater genoß, hatten ein volles Haus gebracht. Es hieß, Wosnessenski werde persönlich auftreten. Was würde er sagen?

Das Schauspiel begann in Taganka-Tradition. Jurij Ljubimow, der Theaterintendant, hai. eine moderne Technik perfektioniert, die erregendste, die Rußland seit den großen Tagen von Wsewolod Meyerhold und Alexander Tairow erlebte: Ljubimow bringt keine Stücke, er bringt Spektakel auf die Bühne, eine Montage aus Bild, Ton, Farbe, Schatten, Wort und Musik.

Das Wosnessenski-Spektakulum begann mit der Szene »Rock'n'roll": spritzige Musik und Bewegungen. Junge Leute twisteten über die Bühne. Darauf folgte eine Satire »Striptease«, in der ein gelenkiges Gin auftrat. Die Lichter zuckten. Elektronische Musik griff die Zuschauer an. Die Vorstellung lief im Ljubimow-Stil weiter, Keine Unterbrechung. Die Spannung stieg höher und höher.

Schließlich war es zu Ende. Wie ein verhärmter Teenager tauchte Wosnessenski auf: mit zerzausten Haaren und ernstem Gesicht.

Er begann zu rezitieren: Zunächst übte er einen konventionellen Angriff auf China und die Kulturrevolution. Dann schalt er Rußlands traditionelle »Ungehobeltheit«. Er las ein Gedicht »Der Aufstand der Striptease-Mädchen«, ein anderes über den Tod der Poesie, über den Tod von Kopernikus und Dante. Diese Großen starben -- ihre Wahrheit aber blieb bestehen.

Immer wieder sprach Wosnessenski von der Wahrheit. Nichts anderes zähle

Wahrheit im Leben, in der Kunst, in der Politik. Schließlich trug er ein Gedicht »Monolog« vor: Wir müßten der Heuchelei ein Ende bereiten.

Ein Gesicht sei nicht nur zum Rasieren da. Es sei auch dazu da, vor Scham rot anzulaufen. Er sprach von jenen, die ihre Schuhe auf den Tisch der Vereinten Nationen knallten und sich keine Gedanken darüber machten, und von jenen, die mit Vietnam umgingen, als sei es ein Spielzeug. Heute, sagte Wosnessenski, verlangt und braucht das Volk die nackte Wahrheit.

Als er endete, verließ niemand das Theater. Die Leute standen und klatschten Beifall. Wosnessenski bat um Ruhe. Er sprach von Ljubimow, der krank in einem Hospital lag. »Er ist ein tapferer Mann«, sagte Wosnessenski. »Er braucht Ihre Unterstützung!«

Die zweihundertste Vorstellung von »Antimiry« war für das sowjetische Theater ein bedeutendes Ereignis. Seit der letzten öffentlichen Rede, die der große Meyerhold im Jahre 1939 hielt, waren auf keiner Moskauer Bühne so eindringliche, so starke Worte gesprochen worden, hatte sich noch niemand so kompromißlos für die Freiheit des Künstlers eingesetzt, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sein Bewußtsein sie wahrnimmt.

Während der bolschewistischen Revolution und der Jahre kurz danach war das russische Theater hinreißend. Damals erlebte das Moskauer »Künstlertheater« unter Konstantin Stanislawski und Wladimir Nemerowitsch-Dantschenko seine Glanzzeit. Damals war Meyerhold tonangebend für die Theaterwelt weit über Rußlands Grenzen hinaus. Damals blühte Tairows Talent und das des jungen Nikolal Ochlopkow.

In jenen Tagen fand der Dichter und Bühnenautor Wladimir Majakowski neue Formen, die Ikonen zerbrachen und Traditionen stürzten.

Wie ein Brand stürmte die Revolution durch die Welt der Künste -- unter Diaghilew, Bakst, Nijinsky und Strawinski erlebte das Ballett seine Metamorphose, unter Kandinsky, Malewitsch, Tatlin und Chagall wandelte sich die Malerei. Die Filmwelt geriet angesichts der Werke Eisensteins, Pudowkins und Dowschenkos in einen Begeisterungstaumel.

Stalin vernichtete die meisten dieser Talente. Meyerholds Theater wurde am 8. Januar 1938 geschlossen, er selbst, der Intendant, lebte nur wenig länger. Im Juni 1939 hielt er vor einer Versammlung von Theaterdirektoren eine Rede:

»Ohne Kunst gibt es kein Theater! Gehen Sie in die Moskauer Theater. Sehen Sie sich ihre ermüdenden und farblosen Vorstellungen an, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen und von denen jede noch miserabler als die anderen ist ... Alles ist so sauertöpfisch akkurat, so mittelmäßig wohldosiert, so verblüffend und tödlich in seinem Mangel an Talent. Ist es das, was Sie wollen? Wenn ja, dann haben Sie etwas Ungeheuerliches getan. Bei der Jagd auf den Formalismus haben Sie die Kunst zu Tode gehetzt.«

Zwei Tage danach führte die Geheimpolizei Meyerhold fort -- in den Tod. Er starb wahrscheinlich im Jahr 1940 in einem der Konzentrationslager Stalins. Dramatiker wie Isaak Babel, Artjom Wesjoly, Wladimir Kirschon und Sergej Tretjakow starben in Stalins Lagern.

Tairow versuchte, mit seinem »Kamerny-Theater« weiterzumachen. Während der Kampagne gegen den »Kosmopolitismus« der Jahre 1948 und 1949 wurde das Theater geschlossen, Tairow starb eines vorzeitigen Todes.

Nach Stalins Ende begann das sowjetische Theater sich allmählich und unter vielen Mühen wieder zu beleben. Einer der ersten Neuerer war Nikolai Ochlopkow. Er war einst einer von Meyerholds vielversprechendsten jungen Männern. Nun begann er in seinem neuen »Majakowski-Theater« zu experimentieren.

Er brachte einen eindrucksvollen »Hamlet« auf die Bühne und eine interessante »Mutter Courage«, die erste Brecht-Aufführung in Moskau. Seine Inszenierung der »Medea« von Euripides mit hundert Sängern und einem griechischen Chor von vierzig Frauen wurde ein Bühnenkommentar zu Stalins Gefängnissen des Geistes und der Leiber.

Ochlopkow starb im letzten Jahr, ohne daß sich seine Hoffnungen als Intendant erfüllt hätten.

Walentin Plutschek, Intendant des Moskauer »Satire-Theaters«, war der erste, der wieder die großen Satiren Majakowskis spielen ließ: »Die Wanze«, »Das Schwitzbad« und »Mysterium Buffo« -- alle jahrelang von Stalin verboten.

»Wir haben hier kein absurdes Theater«, sagte er. »Wir haben nicht einmal Bühnenautoren, die in diesem Genre schreiben. Ionesco ist dem russischen Publikum unbekannt. Vor einigen Jahren wurden »Die Nashörner« vorbereitet, aber nie auf den Spielplan gesetzt.«

Der Grund: offizieller Konservativismus, das Zögern der Zensoren, ein Stück zu genehmigen, aus dem das Publikum eine -- noch so verbrämte -- Kritik an der Parteidiktatur herauslesen könnte.

Außer der »Dreigroschenoper« sind selbst Brecht-Aufführungen in Rußland kaum verbreitet. Die »Dreigroschenoper« allerdings wurde ins Repertoire aufgenommen und auch auf Provinzbühnen aufgeführt. Das »Lenin-Komsomol-Theater« in Leningrad brachte das Stück in diesem Jahr in einer kühnen und phantasievollen Inszenierung. Viele Zuschauer hörten hier zum erstenmal auf russischer Bühne Wörter wie »Freudenhaus« und »Prostituierte«.

»Wir bringen Brecht hier nicht besonders gut«, gab Plutschek zu. Seiner Meinung nach lag das an der von Stanislawski begründeten Tradition des Realismus. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo die Methode Stanislawskis progressive Theaterkunst repräsentiert, wurde er in Rußland zum Hemmschuh für phantasievolle Techniken.

Ausländische Stücke und Autoren sind im Moskauer Theater durchaus nicht unbekannt. John Osborne, Arthur Miller und Lillian Hellman wurden aufgeführt. Man kennt Edward Albee, Harold Pinter und Leroi Jones. Albees »Ballade vom traurigen Café« wurde vom »Zeitgenössischen Theater« aufgeführt. Allerdings bemerkte ein Moskauer Intendant: »Homosexualität ist für uns kein so dringendes Problem -- Albees Stücke scheinen weit von unserer Wirklichkeit entfernt.«

Der für sowjetische Intendanten interessanteste Bühnenautor ist Peter Weiss. Plutschek nennt ihn »ein Genie erster Ordnung": »Marat/Sade ist überwältigend.«

Auf die Frage, ob er dieses Stück auf den Spielplan setzen werde, antwortete Intendant Plutschek: »Ich glaube, wir können im Jubiläumsjahr der Revolution kein Stück aufführen, in dem eine Revolution im Irrenhaus stattfindet.«

Grigorij Kosinzew, Schwager des jüngst verstorbenen Schriftstellers Ilja Ehrenburg, ist ein sowjetischer Film-Regisseur, der die schärfsten Repressalien Stalins überlebte und in der Nach-Stalin-Ära für seinen Film »Hamlet« ausgezeichnet wurde. Zusammen mit seiner Frau und seinem 17jährigen Sohn bewohnt er in Leningrad eine vornehme Wohnung. Auf einem Tisch voller Bücher liegt ein dicker neuer Band »Begegnungen mit Meyerhold«. »Meyerhold ist heute das große Vorbild«, sagt Kosinzew.

Kosinzew arbeitet an einer »König Lear«-Verfilmung. Seiner Ansicht nach war Shakespeare ein Mann mit bemerkenswert modernem Denken; sein Verständnis für die Allgemeingültigkeit menschlichen Charakters habe ihn die Zukunft vorausschauen lassen. Nach Kosinzews Plänen soll König Lear eine beispielhafte, moderne Figur sein.

Solch eine Auffassung von Lear, so sagte man Konsinzew, werde unweigerlich an Stalin erinnern. Kosinzew lächelte: »Natürlich.«

Der fünfzigste Jahrestag der Oktoberrevolution wirkte sich auch auf das Niveau des sowjetischen Films aus. Es hieß, mehr als ein Dutzend ausgezeichneter Filme werde zurückgehalten, his die Feiern zum 7. November vorüber seien. Erst dann würden sie freigegeben. Drei sollen bedeutende Werke sein: eine Verfilmung von Dostojewskis »Sonderbarer Geschichte«, ein Film über das Leben auf dem Lande und die »Passion des Andrej Rublew«, die Geschichte des berühmten mittelalterlichen Ikonenmalers.

Alle diese Filme sind im Ingmar-Bergman-Stil atonal-realistisch. Jeder enthält grausame, pathologische, sadistische Sequenzen. Weil sie mit der Tradition brachen und Widerspruch herausforderten, wurden sie verschlossen und werden erst nach dem Feiertag wieder hervorgeholt.

Sie teilen das Schicksal von Bühnen-Inszenierungen des Satirischen, des Zeitgenössischen und des Taganka-Theaters. Sechs Monate kämpfte Taganka-Intendant Ljubimow um die Erlaubnis, ein Stück über Majakowski aufführen zu können. Das Stück heißt »Posluschaite!« (Hört her!)

Im Sommer 1967 kam endlich die Erlaubnis, »Posluschaite« aufzuführen. Das Stück, ein Konglomerat aus Majakowski-Zitaten und Bekenntnissen zu

* »Der gute Mensch von Sezuan« In einer Inszenierung von Jurij Ljubimow.

Majakowski, wurde sofort zur populärsten Inszenierung Moskaus.

Das Tempo war so rasant, daß das Publikum sich an den Sesseln festhielt. Auf der Bühne erschien Majakowskis Porträt in Überlebensgröße. Das Spiel verwandelte sich in eine Auseinandersetzung zwischen Majakowski und den unterwürfigen, sterilen Kräften der Parteibürokratie: Eine Parteiversammlung wurde einberufen, um Majakowski wegen sein es Nonkonformismus anzuklagen.

»Warum machst du nicht alles so schön, wie sie es im Bolschoi-Theater machen?« fragt ein weibliches Parteimitglied. »Du mußt so schreiben, daß die Arbeiter und Bauern dich auch verstehen können«, beharrt der Parteisekretär. Einer der Kritikaster ruft die Partei als Gruppe an. »Habe ich recht -- ja oder nein (da iii niet)?« Alle rufen »da«. Nur Majakowski sagt »niet«. Er flieht vor der Banalität seiner Beckmesser von der Bühne.

Die letzte Szene zeigt eine Beerdigung. Majakowski ist gestorben. Ikonenähnliche Porträts von ihm stehen auf der Bühne. Die Grabrede preist den Dichter wegen seiner Originalität, seiner Unabhängigkeit und seiner Hingabe an die Wahrheit -- und nur die Wahrheit zählt.

Das Publikum des Taganka-Theaters brach in Applaus aus, und es drängte sich die Frage auf: Deutet Ljubimow etwa an, Majakowski sei 1930 durch die Forderungen der Partei nach Konformität zu seinem Selbstmord getrieben worden? Sah der Regisseur eine Parallele zwischen Majakowskis Schicksal und dem Kampf um Wosnessenski, Jewgenij Jewtuschenko und die neuen sowjetischen Autoren?

Noch hat das sowjetische Theater die Brillanz der ersten Jahre nach der Revolution nicht wieder erreicht. Wenn die reaktionären Kräfte die Sterne des Taganka-, des Zeitgenössischen- und des Satire-Theaters in Moskau nicht zum Erlöschen bringen, dann könnte eine russische »Neue Welle« bald die Bühnen von Berlin, Paris, London und New York überrollen.

Harrison E. Salisbury

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