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KANADA / TRUDEAU Neue Zeit

aus DER SPIEGEL 16/1968

Amerikaner und Franzosen haben einen neuen, einen gemeinsamen Feind. Es ist Pierre Elliott Trudeau, 46, Kanadas neuer Premier.

»Wunderkind« Trudeau, Professor und Sportwagenfan (Mercedes 300 SL), Politiker mit Blitzkarriere und Judospezialist mit braunem Gürtel, löst den Friedensnobelpreisträger Lester Pearson, 70, als Parteichef und Premierminister ab. Trudeau will Kanadas Einheit und Selbständigkeit gegen Amerikas wirtschaftliche und Frankreichs politische Einmischung stärken. Er will Kanadas Rolle in der Nato neu überdenken, Rotchina anerkennen und -- vielleicht -- auch mit der DDR verhandeln.

Trudeau studierte Marx, plauderte mit Mao und schockierte das stalinistische Moskau, als er ein Abbild des Diktators mit Schneebällen bewarf. Per Motorrad durchquerte er die Wüste Gobi.

In seiner Heimatprovinz, dem französischsprachigen Quebec, focht er nach glanzvollem Studium in Harvard, Paris und London für Gleichberechtigung und friedliche Koexistenz in der kanadischen Föderation.

In der Zeitschrift Cité Libre wetterte Herausgeber Trudeau gegen den klerikalen Faschismus in Quebec und die Autoritätshörigkeit in Familie, Gesellschaft und Staat: »Zwar hat es während der letzten hundert Jahre sicherlich Vorkämpfer für Demokratie und Freiheit gegeben, doch Kirche und Staat machten sie impotent.«

Später schrieb der Rebellen-Dozent: »Die Zwanzigjährigen von 1960 sind die erste Generation in unserer Geschichte, die wirklich Freiheit zu spüren bekam.« Und diejenigen, die sie falsch verstanden, die Bomben warfen, um die Unabhängigkeit Quebecs zu erzwingen, brandmarkte der Anwalt aus Montreal als »nationalsozialistische Konterrevolutionäre": »Sie wollen die Freiheit abschaffen, indem sie die Diktatur ihrer Minderheit errichten.«

Den Franzosen drohte der Frankokanadier, er werde die diplomatischen Beziehungen zu ihnen abbrechen, wenn Paris das frankophone Quebec als souveränen Staat behandele.

Den Amerikanern bestritt er das Recht, Atomwaffen auf kanadischem Boden zu stationieren und nannte die dafür Verantwortlichen in Ottawa »Idioten«. Die Amerikaner setzten den linksverdächtigen Mao-Kenner auf die schwarze Liste ihrer Grenzkontrollen.

Erst vor zweieinhalb Jahren wurde der inzwischen zum Professor der Universität Montreal avancierte Trudeau Mitglied der Liberalen Partei Kanadas. Als Nichtjude kandidierte er in einem nahezu reinjüdischen Wahlkreis von Montreal und gewann.

Siebzehn Monate später war er bereits Justizminister und begann, Kanadas antiquiertes Recht zu reformieren. So will er beispielsweise die lebenslange Haftstrafe für Homosexuelle abschaffen sowie Scheidung und Schwangerschaftsunterbrechung erleichtern.

Als Altpremier Pearson im vergangenen Dezember seinen Rücktritt ankündigte, drängten sich 16 Kandidaten um seinen Platz als Parteichef der Liberalen. Pearson hatte nicht nur auf seine Ämter verzichtet, sondern auch auf das Gewohnheitsrecht, seinen Nachfolger zu bestimmen.

Am vorletzten Wochenende wählten auf dem Nationalkonvent in Ottawa zum erstenmal seit 20 Jahren Delegierte den neuen Partei- und Regierungschef. Im vierten Wahlgang erhielt Pierre Elliott Trudeau mit 1203 Stimmen die absolute Mehrheit.

Vergebens hatte der konservative Parteiflügel versucht, den Aufstieg des radikalen Professors zu bremsen. Doch Partei und Patrie waren in Not: Kanada droht in englisch- und französischsprachige Teile zu zerfallen, und spätestens 1970 müssen Parlamentswahlen stattfinden. So forderten die Jüngeren für neue Wege einen neuen Mann. Trudeau wird der dritte frankokanadische Premier in der hundertjährigen Geschichte des Landes.

Einen Vorgeschmack der neuen Zeit erhielten die Abgeordneten bereits: Unlängst erschien Junggeselle Trudeau in Blue jeans, Sandalen und offenem Hemd im Parlament.

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