KANADA Neues Kuba?
Die Börse von Montreal reagierte mit dem tiefsten Kurssturz des Jahres, die Börse von Toronto verzeichnete den heftigsten Kurseinbruch seit 1974, in New York sackte der kanadische Dollar leicht ab.
Das Ende der seit 1867 bestehenden Föderation Kanadas schien nahe -- heute noch zweitgrößter Staat der Welt, Wirtschaftsriese im Norden Amerikas, Eckpfeiler des Nato-Bündnisses, morgen womöglich schon zerrissen von blutigem Bürgerkrieg, nur noch ein Rumpfstaat.
Zwar warnten besonnene Kanadier vor Panik, doch getroffen hatte sie alle, was am vorigen Montag in Quebec, der größten Provinz des Landes, geschehen war: Bei den Wahlen zum Provinzparlament hatte jene Partei triumphiert, die seit ihrer Gründung vor acht Jahren nur ein Ziel verfolgt -- die Loslösung der Provinz von Rest-Kanada.
»Dies ist vermutlich der schönste und größte Abend in der gesamten Geschichte Quebecs«, begeisterte sich in der Wahlnacht vor 12 000 jubelnden Anhängern der Parteichef René Lévesque: Von den 110 Abgeordneten des Parlaments gehören statt bisher sechs künftig 69 seinem »Parti québécois« an.
Nun könne sich, verkündete der 54jährige Kettenraucher ("Hören Sie den Husten? Das ist Lévesque"), Weltkrieg-Il-Berichterstatter der US-Armee und spätere Rundfunk- und Fernsehjournalist, die Provinz anschicken, »Herr im eigenen Haus« zu werden, in einer »neuen und gleichberechtigten Verbindung mit dem Rest Kanadas«.
Der Triumph des Parti québécois widerlegte, was Kanadas Regierungschef Pierre Trudeau, selbst aus Quebec, Anfang des Jahres noch hoffnungsfroh behauptet hatte: »Der Quebec-Separatismus ist tot.« Er ist lebendiger denn je. Und er hat Geschichte.
Über der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms, am Ende der Quebec-Halbinsel Gaspé, ragt ein großes steinernes Kreuz empor -- Erinnerung an den Entdecker und Errichter Jacques Cartier, der dort am 24. Juli 1534 ein Stück der Neuen Welt für Frankreich reklamierte.
»La Nouvelle France« von 1759 jedoch, Neufrankreich, war nicht von Dauer. Bald kamen die Briten, machten Kanada zu einem britischen »Dominion« -- und seither empfinden sieh die heute etwa sechs Millionen Frankokanadier als »ein unterdrücktes und geprelltes Volk« (so 1967 der frankokanadische Parlamentarier Francois Acquin).
Den Kampf gegen die Engländer führten sie aus der selbstgewählten Isolation ihrer Provinz Quebec -- wo mehr als 80 Prozent der Frankokanadier leben -, gelegentlich mit Waffen. vor allem aber mit Worten.
1966 sagte der nationalistische Quebec-Premier Daniel ("Danny Boy") Johnson den »Juden und Engländern in Montreal« den Kampf an. Quebec, so forderte er, solle nicht länger als Provinz, sondern als Nation bezeichnet werden. Alle in Quebec verkauften Waren mußten Etiketten und Gebrauchsanweisungen in französischer Sprache tragen, alle in Quebec produzierten Güter den Stempel »Made in Quebec«.
Seinen unbestrittenen verbalen Höhepunkt erlebte Quebecs Separatismus ein Jahr später, als Charles de Gaulle, der Hohepriester der »francité«, in Montreal ihr Hochamt zelebrierte. Die Arme erhoben, tönte der General vom Balkon des Rathauses in Montreal: »Es lebe Quebec. es lebe das freie Quebec, es lebe Französisch-Kanada, es lebe Frankreich.«
»Man dachte fast«, entsetzte sich damals die Londoner »Times«, »jetzt starten sie zum Marsch auf (die Bundeshauptstadt) Ottawa.«
Ein paar Fanatiker der radikalen »Befreiungsfront für Quebec« starteten tatsächlich. Sie bombardierten anglokanadische Büros und britische Monumente und kidnappten -- 1970 -- den britischen Diplomaten James Cross sowie den bundestreuen Quebec-Minister Pierre Laporte. Premier Trudeau verhängte das Kriegsrecht über das Land. Cross wurde wieder freigelassen, Laporte ermordet.
Zugleich aber machten Trudeau und (der 1970 gewählte) Quebec-Premier Robert Bourassa den Frankokanadiern weitgehende Zugeständnisse: Die Bundesregierung in Ottawa etwa erklärte Kanada offiziell zum zweisprachigen Staat und pumpte jährlich 1,5 Milliarden Dollar als Bundeshilfe in die Provinz. Bourassa andererseits machte 1974 per Gesetz ("Loi 22") Französisch zur offiziellen und alleinigen Amtssprache von Quebec.
Doch vergebens. Aus Furcht vor den Separatisten wanderten immer mehr Unternehmen in die benachbarte anglokanadische Provinz Ontario ab, die Arbeitslosigkeit in Quebec stieg auf über zehn Prozent, die Verschuldung der Provinz auf über vier Milliarden Dollar. Allein im vorigen Jahr streikten in Quebec 95 000 Lehrer, 5200 Bedienstete der Provinzregierung, 80 000 Bedienstete der Krankenhäuser, 5500 Krankenschwestern, 9200 Arbeiter der Wasserkraftwerke.
Das war der »Nährboden für René Lévesque. Bewußt präsentierte sieh der kleine Mann mit dem lichten Haar im Wahlkampf als fortschrittlicher Sozialpolitiker, als einzige Alternative zur »trostlosen und korrupten« Regierung Bourassa.
Das allein hätte möglicherweise noch nicht zum Sieg gereicht. Doch Lévesque hatte unfreiwillige Helfer, die nicht für ihn, sondern gegen Bourassa stimmten -- vor allem jene meist aus Südeuropa stammenden Einwanderer, die in etwa 20 der 110 Quebec-Wahlkreise die Mehrheit stellen.
Sie zahlten Bourassa das Gesetz 22 heim, das ihren Kindern den Weg in eine bessere Zukunft versperrte. Denn aufgrund der Loi 22 werden Kinder nur dann zu einer anglokanadischen Schule zugelassen, wenn sie Englisch beherrschen. Die Kinder der Einwanderer landeten so meist in den französischen Schulen -- nicht gerade der beste Ausgangspunkt für eine Karriere auf dem anglophonen nordamerikanischen Kontinent.
Von der Unzufriedenheit der Einwanderer und anderer Bourassa-Gegner profitierten die Separatisten. Denn die Neukanadier votierten hauptsächlich für Splitterparteien, die ihre Sorgen zu beheben versprachen. Weil in Kanada jedoch nach dem Mehrheitsrecht gewählt wird, fielen ihre Stimmen damit zumeist aus. Folge: Mit 41 Prozent der Stimmen errangen die Separatisten Lévesques fast 63 Prozent der Sitze.
»Lévesque und seine Partei«, interpretierte Kanada-Premier Trudeau, »haben ein Mandat zur Regierungsbildung in der Provinz erhalten, nicht zur Abtrennung der Provinz vom Rest Kanadas.
So sah es auch Quebecs nächster Premier. Er werde, so versicherte Lévesque, sein Amt im Rahmen der vorgegebenen Strukturen ausüben.
Nicht ganz, denn er will die Bundesregierung auffordern, alle Quebec betreffenden Rechte an Quebec zu übertragen und anschließend Verhandlungen über »die reibungslose Übergabe der Rechtshoheit« zu beginnen.
Ein unabhängiges Quebec, so sieht zum Beispiel das separatistische Parteiprogramm »La Solution« (Die Lösung) vor, solle mit 27 Prozent an Vermögen und Schulden Gesamtkanadas beteiligt werden. Jedes vierte Flugzeug der »Air Canada« würde demnach künftig für eine »Air Quebec« fliegen.
Daß solche Gespräche je stattfinden oder sogar zum Erfolg führen können, bezweifeln allerdings selbst die Separatisten. Premier Trudeau, von der anglokanadischen Mehrheit Unter Druck gesetzt, kann schwerlich weitere Konzessionen machen.
Lévesque und seine Freunde vertrauen denn auch eher auf eine Volksabstimmung, in der 1978 die Bürger Quebecs über die Zukunft Quebecs befinden sollen.
Im Stich gelassen von der Zentralregierung und vor allem von den USA, die große Teile auch der Wirtschaft Quebecs kontrollieren, könnten sich die Quebecer -- ähnlich wie vor elf Jahren die Weißen in Rhodesien -- für eine einseitige Unabhängigkeit entscheiden, ohne auf die Zustimmung der übrigen neun Provinzen oder der formell zuständigen Krone in London zu warten.
Rest-Kanada wäre dann in Gefahr. »Die westlichen Provinzen«, prophezeite bereits der »Toronto Star«, »werden von den Vereinigten Staaten angezogen werden ... Ontario wird seine Märkte in Rest-Kanada verlieren und in größere Abhängigkeit von den USA gezwungen werden.«
Quebec aber könnte sich, warnen jetzt schon besorgte kanadische Kommentatoren, zu einem Kuba im Norden entwickeln: Die Sowjets würden keine Gelegenheit auslassen, das allein wirtschaftlich wenig tüchtige Land kräftig zu unterstützen und zu unterwandern, um so die USA auf ihrem eigenen Kontinent weiter zu isolieren.
Wie ein US-Präsident Carter darauf reagieren würde, steht dahin. Gewiß ist nur, daß im Pentagon schon seit Jahren eine dicke Akte mit der Aufschrift »Project Camelot« existiert.
Dem Geheimdokument, das Kanada als »danger spot«, als Gefahrenherd, auf eine Stufe mit Afrika und Südamerika stellt, ist ein Einsatzplan für den Fall einer Sezession Quebecs beigefügt: Die Provinz soll danach zu Wasser, zu Lande und aus der Luft von US-Kampftruppen domestiziert werden.