Der Sturz der derzeitigen Bundesregierung kann in diesem Jahr auf zweierlei Weise zustande kommen: Die Koalition Brandt/Scheel kann entweder vorzeitige Neuwahlen verlieren, oder ihre Mehrheit kann in einer schleichenden Dauerkrise versickern. Abgeordnete wie der Freie Demokrat von Kühlmann-Stumm könnten sich unter dem anhaltenden Eindruck von Führungslosigkeit und Schwäche auf ihr Klasseninteresse besinnen und sich schließlich nicht nur gegen die Ostpolitik des Kanzlers und seines Außenministers stellen, sondern gegen das sozialliberale Regierungsprogramm insgesamt.
Dies also sind die zwei Wege zum möglichen Untergang der Reformkoalition. Und nach der vorläufig letzten Bonner Krisenwoche muß man hinzufügen: Der Weg zum Ende auf Raten läßt sich am ehesten noch vermeiden, wenn Brandt und Scheel die Neuwahlen in diesem Sommer riskieren.
Einen Anflug solcher Einsicht soll es ja in Bonn gegeben haben. Aber dennoch hat man die Karre eine halbe Woche lang so laufen lassen, daß alle Welt sich an die späten Kanzlertage Erhards im Herbst 1966 erinnert fühlte.
Daß die Termine der Steuerreform nicht gehalten werden können, ist ziemlich lange schon bekannt. Nur Helmut Schmidt scheint davon nichts gewußt zu haben denn wie anders soll man begreifen, daß er seinen für die Versäumnisse teilzuständigen Kollegen Karl (Eitel Friedrich) Schiller ausgerechnet in der Hupka-Woche bis an den Rand des Rücktritts prügelte; Scheel konnte dann nachziehen, und die Jagd war auf. Das interne Krisenmanagement der Bundesregierung gibt es offenbar nur als eine gute Absicht. In der Praxis treten an seine Stelle das allzu geduldige Stillhalten des Regierungschefs, die Profilnöte der FDP und die Disziplinlosigkeit von Kabinetts-Primadonnen.
Immerhin, von der Notwendigkeit, sich auf Neuwahlen einzurichten, wußte man in Bonn am Ende der Woche mehr als am Anfang. So hat denn auch alles sein Gutes, wenn es auch bitter ist zu sehen, einen wie hohen Preis diese Regierung immer erst bezahlen muß, bis man hoffen kann, sie hat dazugelernt.
Die Politik des Augenzwinkerns ist jetzt vorüber. Weder Regierung noch Opposition dürfen länger annehmen, die Ablehnung der Ostpolitik durch die CDU/CSU sei zwar ernst gemeint, solle aber mit stillschweigender Duldung Barzels nicht bis zur letzten Konsequenz durchgezogen werden. Die Opposition kommt nun gar nicht mehr umhin, in voller Stärke gegen die Verträge zu stimmen und auch den Bundesrat einzuspannen. Es mag sein, daß der CDU-Vorsitzende nicht froh ist bei dem Gedanken an Bonns Isolierung nach einem Scheitern der Abkommen mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin; froh nicht einmal einer etwa derart gewonnenen Kanzlerschaft. Aber jetzt muß er alle Früchte ernten, kein Abgeordneter der CDU/CSU wird bei der Abstimmung straflos fehlen können.
Die Regierung sollte aus dieser Einsicht den Vorsatz machen, nun auf jeden Fall die entscheidende Abstimmung mit der Vertrauensfrage zu koppeln und die Wahlen zum Bundestag in dieses Jahr vorzuverlegen. Natürlich kann sie verlieren, aber ihre Wahlaussichten sind in diesem Sommer besser als im Herbst 1973.
Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens ermöglichen es vorzeitige Wahlen Brandt und Scheel, den Wahlkampf mit ihrem ganz eigenen Thema, der Ostpolitik, zu führen, und darin liegt die Chance einer Wiederbelebung der schlichten Alternative von 1969, die damals das Bedürfnis nach einer Wachablösung in Bonn aktivierte und die jetzt in ihrer Zuspitzung auf eine realitätsbezogene Entspannungspolitik manche Fehlansätze der bisherigen sozialliberalen Innenpolitik zudecken könnte.
Die Opposition müßte alle Parolen, auf die sie setzt -- also law and order, Unlust an teuren Reformen, Emotionalisierung gegen die Thesen der Jusos -, gegen das Thema durchsetzen, über das zum Quasi-Volksentscheid aufgerufen worden wäre.
Bei einem Wahlkampf über die Ostverträge wäre die SPD -- zweiter Grund für baldige Wahlen -- weniger gefährdet, zwei Prozent oder ein paar Zehntel mehr nach links zu verlieren; und schließlich, drittens, ist die Stimmenvorgabe, die sich hierzulande aus der Kanzlerschaft ergibt, im nächsten Jahr eher kleiner als in diesem. Brandt und Scheel müssen ihre Terminkalender umstoßen: Vorbereitung der Neuwahlen sollte auf jedem Blatt stehen.