

Die Lage am Morgen Lockerungen erst, wenn die Lücke gefüllt ist

Liebe Leserin, lieber Leser,
heute beschäftigen wir uns mit dem ärgerlichen Mangel an Impfstoff, mit der Frage, warum auch das Recht auf Office wichtig ist, und mit den Selbstfindungsproblemen der FDP.
Biontech-Chef: »Es fehlen weitere zugelassene Impfstoffe«
Silvester habe ich auf dem Dach des Mehrfamilienhauses verbracht, in dem ich wohne. Von dort aus kann man die umliegenden Straßenzüge gut überblicken und auf die Balkone und durch die Fenster der gegenüberliegenden Häuser schauen. Viele Wohnungen waren dunkel, die Bewohnerinnen und Bewohner waren wahrscheinlich Einladungen gefolgt oder verreist – »reduzieren Sie Ihre Kontakte auf ein Minimum, reisen Sie nicht«, hatte Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts, vor Weihnachten und dem Jahreswechsel gesagt. In manchen Wohnungen kamen größere Gesellschaften zusammen, in einigen wurde getanzt. Aber auf vielen Balkonen standen nur wenige Menschen, die wahrscheinlich zu einem Haushalt gehörten; Kinder schwenkten Wunderkerzen. Natürlich gab es auch ein Feuerwerk, Krankenwagen und Polizeisirenen waren zu hören.
Insgesamt war es ein gemischtes Bild. Regeln wurden eingehalten, Regeln wurden gebrochen. Das war in ganz Deutschland so. Berichten zufolge waren zwar deutlich weniger Menschen unterwegs als sonst zu Silvester, schreckliche Unfälle gab es trotzdem.
Weil es war, wie es war, und ist, wie es ist, weil es in den Pandemiemonaten des Jahres 2020 sowohl staunenswerte Anpassungsleistungen gegeben hat als auch teils nachvollziehbare, teils unverständliche Disziplinprobleme, gibt es nur diesen einen Ausweg aus dem Elend: das Impfen.
Das aber ist leichter gesagt als getan, denn die Logistik lässt bisher zu wünschen übrig. Die SPD kritisiert den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wegen der noch zu geringen Menge an Impfstoff. Und in einem SPIEGEL-Gespräch mit den Biontech-Chefs Özlem Türeci und Uğur Şahin – dem Titelstück des neuen Heftes – sagt Şahin: »Momentan sieht es nicht rosig aus, es entsteht ein Loch, weil weitere zugelassene Impfstoffe fehlen und wir mit unserem Impfstoff diese Lücke füllen müssen.«
Der Mangel hänge auch mit der Bestellstrategie der EU zusammen: »Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert«, so Şahin.
Die USA hatten sich im Juli 600 Millionen Dosen von Biontech/Pfizer gesichert, doppelt so viel wie die EU, die außerdem erst im November den Auftrag vergab.
Ashram für Liberale
Die Oppositionsparteien im Bundestag haben sich das ganze Jahr über schwergetan, ihre Rolle zu finden, was auch nachvollziehbare Gründe hatte: Im Nachhinein lässt sich an Entscheidungen der Regierung zwar viel kritisieren, aber bei Ereignissen wie dieser Pandemie, die für alle neu ist, war es riskant, frisch getroffene Regierungsentscheidungen anzugreifen. FDP-Chef Christian Lindner hat nach einem anfänglichen Schlingerkurs einen ordentlichen Mittelweg zwischen Kritik an der Regierung und Unterstützung gefunden und damit einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Auseinandersetzung geleistet – denn die Momente zu großer Einigkeit im Parlament waren auch ein wenig unheimlich.
Aber wegen des vorherigen Schlingerkurses und wegen den immer noch beträchtlichen Nachwirkungen seines Ausstiegs aus den Koalitionsverhandlungen nach der letzten Bundestagswahl nützten der Partei auch die guten Momente ihres Chefs wenig: Die FDP dümpelt bei 6 Prozent, mit 10,7 Prozent war sie in den Bundestag eingezogen. Ihr Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart sollte sie zu einem Selbstfindungstrip nutzen, sonst wird sie im Superwahljahr eine Rolle spielen, die ihr nicht behagt.
Selbstfindung aber ist immer ein mühsames Unterfangen, das ist für einen Hippie im Ashram nicht anders als für einen Liberalen beim alljährlichen Parteitreffen. Meine Kollegen Christoph Schult und Severin Weiland zitieren im SPIEGEL den saarländischen FDP-Landesvorsitzenden Oliver Luksic, der gesamtgesellschaftlich eine »von rechts und links betriebene Spirale der moralischen Empörung, vor allem bei den Themen Umweltschutz und Migration« wahrnimmt und die Rolle der FDP darin sieht, »dass die Räume für Debatten breit bleiben«. In seiner Partei gebe es eine Frage, »die vor der Folie einer möglichen Regierungsbeteiligung 2021 vielleicht nicht so gern diskutiert wird: Wie halten wir es mit dem grünen Zeitgeist?« Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum kritisiert wiederum seine Partei von der ganz anderen Seite. »Manchmal scheint mir die FDP aus der Zeit gefallen.«
Ein Recht auf Office
Das Homeoffice ist für die einen der Fluch, für die anderen die Errungenschaft. Ich selbst empfand das Arbeiten zu Hause nach Jahrzehnten des Bürolebens tatsächlich jede Minute als Wohltat, ich tue hier dasselbe, was ich sonst im fünf Kilometer entfernten Büro tun würde, bekomme aber ganz anders mit, was meine Kinder machen (die allerdings auch nicht mehr klein sind). In der neuen SPIEGEL-Ausgabe aber warnt die Soziologin Jutta Allmendinger vor den Folgen des Homeoffice gerade für Frauen: Frauen hätten lange gebraucht, um den öffentlichen Raum für sich zu erobern, es sei somit zu früh, sich daraus zurückzuziehen. Insofern scheint beides nötig: ein Recht auf Homeoffice und ein Recht auf Office.
Gewinner des Tages...
... ist Pinocchio. Wie die »Süddeutsche Zeitung« auf ihrer heutigen Titelseite schreibt, gibt es bald drei neue Filmversionen der Geschichte über die lebendige Holzfigur, deren Nase bei jeder Lüge wächst. Es wird kein Zufall sein, dass der Stoff in Zeiten vagabundierender Fake News wiederentdeckt wird. Über Pinocchio wäre noch zu sagen, dass das verräterische Wachstum seiner Nase während des Lügens den Holzjungen letztlich vom Lügen abbringt. Früher war die Geschichte übrigens als Erziehungsmittel gedacht – für Kinder.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Corona-Shutdown: Mediziner dringen auf bundesweite Verlängerung
Coronavirus: RKI registriert mehr als 12.000 Neuinfektionen

Die Heilsbringer
Die beiden Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin haben der Welt zum Ende dieses Jahres ein Stück Hoffnung geschenkt: Dass die Pandemie zu Ende geht, eine Rückkehr zu einem normalen Leben in Sicht ist. Der von ihnen entwickelte Impfstoff war der erste, der in klinischen Tests eine Wirksamkeit von 95 Prozent aufwies. Millionen Dosen sind nun auf dem Weg in die ganze Welt. Mit dem SPIEGEL sprachen die beiden über ihren Forschungserfolg, über die Frage, ob genug Impfstoff für alle da sein wird – und darüber, wie sie mit dem Rummel um ihre Person zurechtkommen.
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Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den zweiten Tag des Jahres und außerdem ein schönes Wochenende.
Ihre Susanne Beyer