Mathieu von Rohr

Die Lage am Morgen Deutschland ist jetzt Schweden

Mathieu von Rohr
Von Mathieu von Rohr, Ressortleiter Ausland

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute befassen wir uns mit der neuen deutschen Corona-Normalität und Bodo Ramelows Vorpreschen, außerdem mit einem Skandal, der Boris Johnson gefährlich werden kann - und mit dem Abgang von Trumps Undiplomat Richard Grenell aus Berlin.

Die neue deutsche Lockerheit

Sieht es bei Ihnen vor der Haustür auch so aus, als habe es Corona nie gegeben? Bei mir jedenfalls, mitten in Hamburg, sitzen die Menschen gedrängt in Bars und Restaurants, die Straßen sind voll, Masken sieht man auch immer weniger. Das ist noch nicht die alte Normalität, in Schulen und Kitas schon gar nicht, aber es fühlt sich anders an als vor wenigen Wochen. Befreiend.

Ein schales Gefühl kommt aber auf. Geht das nicht alles ein wenig schnell? Die Infektionszahlen sind sehr niedrig, doch es gibt auch die anderen Nachrichten: In Frankfurt am Main haben sich mehr als 100 Menschen beim Kirchgang infiziert - was einmal mehr belegt, dass Singen und geschlossene Räume ein Risiko sind. Im ostfriesischen Leer haben sich 18 Menschen in einem Restaurant angesteckt.

Die antrainierte Vorsicht wird in diesen Tagen schnell fallen gelassen - auch von Politikern: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow will in seinem Bundesland gleich alle Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung aufheben. Der deutsche Föderalismus hat viele große Vorteile, aber ist es wirklich sinnvoll, dass jeder Ministerpräsident im Pandemiefall seine eigenen Regeln aufstellt?

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Eine kleine, lautstarke Minderheit hat von Anfang an dafür gekämpft, dass Deutschland sich an Schweden orientieren solle. Wir sind auf jeden Fall auf dem Weg zu deutlich mehr Selbstverantwortung - und es sieht ja auch gerade so aus, als könne sich Deutschland das leisten. Doch das kann eben auch täuschen. Jeder Politiker, der jetzt genau weiß, dass wir uns ab sofort keine Sorgen mehr machen müssen, handelt verantwortungslos. Und es hilft daran zu erinnern: Schweden hat übrigens eine der höchsten Pro-Kopf-Opferzahlen der Welt . Die USA zählen gerade ihren hunderttausendsten Toten. Dass es hier nicht so gekommen ist, ist ein Grund, sich zu freuen - und trotz der vielen Besserwisser da weiterhin mit Maß vorzugehen.

Kann Boris seinen Chefberater retten?

Wenn Bürger eines nicht ertragen, dann sind es Mächtige, die harte Regeln für alle formulieren, sich aber ausgerechnet selbst nicht daran halten. In Großbritannien ist Boris Johnson aus genau so einer Angelegenheit ein Skandal erwachsen, der ihm richtig gefährlich werden kann.

Johnsons Chefberater heißt Dominic Cummings, er war einst Chef der "Vote Leave"-Kampagne für den Brexit und ist für den Premier ein unverzichtbarer Berater geworden. Doch Cummings soll nun gegen den Lockdown verstoßen haben, den er selbst in Kraft setzen half und der Reisen zu Großeltern und Zweitwohnsitzen klar ausschloss. Cummings, selbst an Covid-19 erkrankt, soll dennoch sogar zweimal zu seinen Eltern ins rund 430 Kilometer entfernte Durham gefahren sein. Er soll dort auch ein Schloss aus dem 12. Jahrhundert besucht haben.

Boris Johnson bügelte Fragen danach am Sonntag ab und behauptete, Cummings habe nichts falsch gemacht. Sein Auftritt wurde selbst von freundlich gesinnten Journalisten als desaströs bewertet. Das Tory-nahe Blatt "Daily Mail" titelt heute: "Auf welchem Planeten leben die?" Und Cummings wurde auf dem Nachhauseweg von Passanten und Nachbarn wütend beschimpft.

Der Sturm, der jetzt losgebrochen ist, stellt Boris Johnson vor die Frage: Will er wirklich seinen eigenen Posten riskieren, um seinen treuen Berater zu beschützen?

Trumps Undiplomat verlässt Deutschland

In Berlin haben sicher viele aufgeatmet, als die Nachricht bekannt wurde: Der krawallige US-Botschafter Richard Grenell verlässt seinen Posten. Er hat sich weder in der Bundesregierung noch in der deutschen Öffentlichkeit viele Freunde gemacht - außer bei der "Bild"-Zeitung, die ihn hofierte. Zwar traf Grenell auch gelegentlich einen wunden Punkt, etwa was Deutschlands Weigerung angeht, sich finanziell stärker an der europäischen Verteidigung zu beteiligen. Doch er war kein Diplomat, sondern er betätigte sich als eine Art Mini-Trump, der Deutschland immer wieder drohte und schon beim Amtsantritt beteuerte, politisch gleich gesinnte Kräfte in Europa unterstützen zu wollen.

Sein Blick auf die Deutschen lässt sich mit einem seiner eigenen Tweets zusammenfassen: "Sie wünschen sich die USA, die Sie nicht zur Zahlung Ihrer Nato-Pflichten drängen, die wegschauen, wenn Sie zu viel russisches Gas kaufen, die Sie nicht zwingen, Ihren in New York lebenden Nazi-Gefängniswärter zurückzunehmen, die Ihre höheren Autozölle akzeptieren und trotzdem noch 50.000 Soldaten in Ihr Land schicken."

Ist Grenells Abgang also für die Bundesregierung Grund zur Freude? Vermutlich nicht. So feindselig er seinem Gastland gegenüber immer wieder auftrat - er spiegelte damit nur die Feindseligkeit Donald Trumps. Der sieht in Deutschland keinen Partner, sondern einen Profiteur und Widersacher.

Umgekehrt wusste Berlin immerhin, dass Grenell dem Präsidenten nahesteht und Einfluss bei ihm hat, was durchaus helfen kann, wenn man das Gespräch sucht. Was nun folgt, ist für Deutschland nicht besser: Seine Stellvertreterin Robin Quinville, eine Karrierediplomatin, wird wohl kommissarisch die Geschäfte führen. Es wird aber womöglich monatelang keinen offiziellen Nachfolger für Grenell geben, während die Angriffe auf Deutschland kaum weniger werden. Und vieles spricht dafür, dass Grenell im Trump-Universum weiter aufsteigen und mit seinen Attacken auf die Deutschen nicht nachlassen wird.

Um es mit Grenells eigenen Worten zu sagen: "Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie denken, dass der amerikanische Druck nun weg ist. Dann kennen Sie die Amerikaner nicht." Wie man halt so spricht unter Freunden.

Story des Tages

Ich möchte Ihnen einen Text besonders ans Herz legen, in dem es um Brasilien geht - das Land hat seit diesem Wochenende die zweithöchsten Infektionszahlen der Welt hat. Mein Kollege Marian Blasberg, der seit acht Jahren in Rio lebt, hat einen faszinierenden Text darüber geschrieben, was diese Zahlen mit der extrem ungleichen Gesellschaft zu tun haben, in der Heerscharen von Dienstmädchen zwischen dicht besiedelten Armenvierteln und Mittelstandsvierteln pendeln. An ihnen lässt sich das ganze Land erklären.

Verlierer des Tages…

…sind die Einwohner von Hongkong. Sie haben im Kampf um die Seele ihrer reichen, eigensinnigen Stadt kaum Chancen, aber viele von ihnen sind nicht bereit, sich von China einfach schlucken zu lassen. Am Sonntag gingen Tausende auf die Straße, um gegen das Nationale Sicherheitsgesetz zu demonstrieren, das China dem Stadtstaat aufzwingen will - und das es chinesischen Sicherheitskräften erlauben würde, auf Hongkonger Boden zu operieren.

China wird seinen Willen durchsetzen, wer soll es aufhalten? Die Pro-Demokratie-Kräfte werden ziemlich sicher am Ende die Verlierer sein. Aber auch China ist in dieser Auseinandersetzung ein Verlierer. Es hätte in Hongkong zeigen können, dass es dialog- und kompromissbereit ist - stattdessen hat es nur Repression zu bieten. Die Krise wäre kaum so eskaliert, wenn China gesprächsbereit gewesen wäre. Aber was anderswo als Reife gilt, gilt Peking als Schwäche. Die Übernahme einer Stadt, die Freiheit gewohnt war, wird China wohl am Ende gelingen. Aber nur um den Preis, den Willen der Mehrheit seiner Bewohner zu brechen und sich der Welt im schlechtesten Licht zu zeigen.

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