
Die Lage am Abend Drei Sterne sinken. Wie tief?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Grüner Filz – hat Vetternwirtschaft in der Partei System?
Türkei – droht Recep Tayyip Erdoğan die Abwahl?
Sexuelle Belästigung – was wird dem Spitzengastronomen Christian Jürgens vorgeworfen?
1. Der Stuhl wackelt
Die Grünen haben derzeit ein gewaltiges Imageproblem. Die Müsli- und Moral-Partei scheint doch nicht so unkonventionell anders zu sein, als viele vielleicht noch immer denken. Vetternwirtschaft! Das klang bisher nicht nach einem grünen Problem.
Was passiert ist? »Ein Spitzenbeamter der Bundesregierung wollte seinen alten Freund und Trauzeugen zum Chef eines Staatsunternehmens befördern, ohne seine Befangenheit transparent zu machen. Damit hat er sein Amt missbraucht«, schreibt mein Kollege Alex Neubacher im SPIEGEL-Leitartikel .
SPIEGEL-Kolumnistin Sabine Rennefanz wundert sich : »Es zeigt sich, dass es in Deutschland nicht vorrangig auf Leistung ankommt, sondern auch auf die richtigen Verbindungen.« Wenn die Klimapolitik offenbar nur von einem kleinen Kreis erdacht wird, der auch noch untereinander verwandt, eng befreundet und verschwägert ist, also von Leuten, die alle ein ähnliches Umfeld, eine ähnliche Denke haben, »dann erklärt das, warum solche Gesetzentwürfe wie zum Heizungsaustausch entstehen, die an der Lebensrealität vieler Menschen vorbeigehen«, findet Sabine.
Robert Habeck hat offenbar die Resthoffnung, der Skandal um seinen Staatssekretär Patrick Graichen werde sich irgendwie wegräumen lassen. Das Wirtschaftsministerium hat Dokumente vorgelegt, die den Klüngelvorwurf entkräften sollen.
Außerdem glänzt der Wirtschaftsminister mit Aktionismus: Heute hat er sich mit Branchenvertretern zu einem Solargipfel getroffen. Außerdem legte er ein erstes Konzept für einen subventionierten Industriestrompreis vor, mit dem die Abwanderung energieintensiver Unternehmen aus Deutschland aufgehalten werden soll.
»Es ist glaubhaft, dass Habeck der Kampf gegen die Klimakrise am Herzen liegt; er will, dass die Energiewende gelingt.« Das billigt ihm auch Leitartikel-Schreiber Alex Neubacher zu. Dennoch fordert er Graichens Entlassung. »Jeder Tag, an dem Habeck an Graichen festhält, ist ein verlorener und gefährlicher Tag. Verloren für Habeck, weil seine Energiewendepläne nicht gelingen werden, wenn der zuständige Spitzenbeamte mit Selbstverteidigung beschäftigt ist. Und gefährlich für Habeck, weil die Frage im Raum steht, warum der Minister gern moralisiert, im eigenen Haus jedoch die Sitten verlottern lässt.«
Lesen Sie hier mehr: Wie es zur Trauzeugen-Affäre kommen konnte – und was sie für Habeck bedeutet
2. Der Thron wankt
Vielleicht ist es ein weiteres grünes Ablenkungsmanöver. Oder der Versuch, dem Anspruch einer wertebasierten Außenpolitik Taten folgen zu lassen. Heute jedenfalls wurde bekannt, dass die Grünen sich in die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai einmischen wollen. Meine Kollegin Marina Kormbaki berichtet von einem Beschluss des Grünen-Bundesvorstands, laut dem offen zur Abwahl von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aufgerufen werden soll.
In Deutschland leben rund drei Millionen türkeistämmige Menschen, etwa die Hälfte von ihnen hat einen türkischen Pass. Sie können noch bis zum 9. Mai ihre Stimme für die Wahl in der Türkei abgeben. Präsident Erdoğan muss nach zwei Jahrzehnten an der Macht um seine Wiederwahl fürchten.
Die meisten Umfragen sehen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu vorne. SPIEGEL-Redakteurin Özlem Topçu, Redakteur Maximilian Popp und Mitarbeiterin Şebnem Arsu trafen ihn in Ankara. Popp erfuhr zudem von Erdoğans ehemaligem Deutschlandberater Mustafa Yeneroğlu, warum er inzwischen Wahlkampf für die Opposition macht. Steht die Ära Erdoğan also tatsächlich vor ihrem Ende? Auf der Suche nach einer Antwort reiste das Team von Istanbul bis Zentralanatolien, zu enttäuschten Anhängern, verarmten Aufsteigern – und Angehörigen der jungen Generation, die Erdoğans überdrüssig sind.
Lesen Sie hier die SPIEGEL-Titelgeschichte: Erdoğans Kampf um die Macht
3. Psychospielchen am Herd
Dass es in den Küchen der weltweiten Spitzengastronomie häufig nicht so fein zugeht wie auf den Tellern, die aus ihnen herausgetragen werden, weiß man. Jedenfalls dann, wenn man hin und wieder Serien oder Filme wie »The Bear« (lesen Sie hier eine Rezension ) oder auch Pixars »Ratatouille« gesehen hat.
Dennoch ist es schockierend, wenn man – wie in der Recherche meiner Kolleginnen Maria Christoph und Nora Voit – in allen Details beschrieben bekommt, wie Machtmissbrauch am Herd in der Realität offenbar aussieht und auf die Betroffenen wirkt. Um es kurzzufassen: nicht gut!
Die Vorwürfe betreffen den Sternekoch Christian Jürgens, der geschafft hat, wovon viele Küchenchefs ein Leben lang träumen: drei Michelin-Sterne, vier Hauben im Gault-Millau, zweimal Koch des Jahres. In das Restaurant »Überfahrt« am Tegernsee pilgern jene, die es sich leisten können, Promis und Oligarchen, Politikerinnen und Manager, Sportler, die Münchner Schickeria.
Rund zwei Dutzend ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werfen Sternekoch Jürgens Machtmissbrauch, Schikane und teils sexuelle Belästigung vor. Sie beschreiben Jürgens als manipulativ, cholerisch, sexistisch und übergriffig.
Über Monate hat der SPIEGEL mit mehr als zwei Dutzend früheren Angestellten aus Küche und Service gesprochen. Es liegen ihre Arbeitszeugnisse vor, Chatverläufe, eidesstattliche Erklärungen. Die Schilderungen zeichnen »das Bild eines überaus erfolgreichen Mannes, der den Blick für das Wohl seiner Mitarbeiter verloren zu haben scheint – und deren Grenzen offenbar systematisch überschreitet«, so die Autorinnen des Textes.
Jürgens selbst hat über seine Anwältin die »schwerwiegenden Vorwürfe« als »unwahr« zurückgewiesen. Die im SPIEGEL geschilderten Vorgänge hätten sich »zu keinem Zeitpunkt« ereignet.
Das »Überfahrt« reagierte dennoch prompt – kurz nach Veröffentlichung des SPIEGEL-Berichts hat das Unternehmen seinen bisherigen Küchenchef freigestellt.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Griff zwischen die Beine, Psychospielchen – was Mitarbeitende diesem Sternekoch vorwerfen
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Prigoschin kündigt Abzug der Wagner-Söldner für kommende Woche an: Erst wettert er wüst gegen den eigenen Verteidigungsminister, kurz darauf verliest er stoisch eine offizielle Erklärung: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin droht damit, die russische Armee im Kampf um Bachmut alleinzulassen.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
US-Geheimdienst besorgt über »anhaltende Bedrohungen« aus China und Russland: Der Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes sieht die Welt in einer gefährlichen Bedrohungslage: Autoritäre Regime würden eine »größere Risikotoleranz« gegenüber möglichen Eskalationen zeigen, warnte Scott Berrier.
Hälfte der 25 höchsten Brücken in kritischem Zustand: Bauexperten warnen vor einem hohen Verschleiß und Überlastung bei Brücken in Deutschland. Die Politik müsse rasch handeln, um weitere Sperrungen zu verhindern.
Credit Suisse tauscht Ecuadors Schulden gegen den Erhalt der Galapagos-Inseln: Die Skandalbank Credit Suisse hat in großem Stil ecuadorianische Staatsanleihen zurückgekauft. Hinter dem 1,6 Milliarden Dollar schweren Deal steckt der bislang wohl größte Tausch von Schulden gegen Natur.
Verbraucherzentrale warnt vor betrügerischen Paketdienst-SMS: In massenhaft versandten Kurznachrichten werden Empfänger aufgerufen, Zollgebühren für ein Paket über einen bestimmten Link zu bezahlen. Die SMS sollen oft den Eindruck erwecken, sie kämen von der Deutschen Post.
Homeoffice löst Ansturm aufs Umland aus: Rund um die großen Metropolen ist die Nachfrage nach Wohnungen deutlich gestiegen. Mögliche Gründe: die horrenden Immobilienpreise in den Städten – und die neue Homeoffice-Kultur.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Ein Urteil, das die Popmusik rettet
»Immer schon hat sich Popmusik bei anderen Musikformen bedient – ohne Blues kein Rock ’n’ Roll, ohne Funk kein Hip-Hop.« Das schreibt mein Kollege aus dem SPIEGEL-Kultur-Ressort Felix Bayer . Er kommentiert das Urteil eines New Yorker Geschworenengerichts, das besagt: Ed Sheeran hat nicht bei Marvin Gayes »Let’s Get It On« geklaut – trotz ähnlicher Akkordfolge in seinem Song »Thinking Out Loud«.

Popstar Ed Sheeran (M.) nach Prozessgewinn in New York am 4. Mai 2023
Foto: JUSTIN LANE / EPADass es bei dem Prozess in New York ums große Ganze ging, konnte man an Sheerans Drohung erkennen, er werde seine Karriere beenden, wenn er nicht gewinne. So zitierten ihn Gerichtsreporter. Es war eine heftige Drohung von einem Singer-Songwriter, der mit über 150 Millionen verkauften Tonträgern zu den erfolgreichsten weltweit zählt.
Auch Felix schätzt den Wert des Urteils hoch sein. Es gehöre zum Wesen des Pop, »aus Vergangenem Frisches« zu schaffen. Das sei am Ende immer wieder künstlerisch neu zu bewerten, aber letztlich »entwickelt sich Pop auf diese Weise weiter«. Ed Sheeran hat in seinem Statement nach dem Urteil betont, Akkorde gehörten ebenso wenig irgendwem wie die Farbe Blau. Man muss nicht mögen, was er damit anfängt, aber er hat recht.
Lesen Sie hier den ganzen Kommentar: Ein Urteil, das die Popmusik rettet
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Wie Neapel die Großklubs aus dem Norden besiegte: 32 Jahre nach dem Abgang Diego Maradonas feiert die SSC Neapel ihre dritte Meisterschaft. Es ist der Triumph einer Stadt, die gegen die Verachtung des reichen Nordens ebenso kämpft wie gegen die eigenen Dämonen .
Wo die SPD abstirbt: Wichtige Landesverbände der Partei sind zerrüttet, Hoffnungsträgerinnen entzaubert – und die Kritik an der Bundes-SPD wird lauter. Könnte das rote Comeback schon wieder beendet sein?
»Wir sind vom Kurs abgekommen«: Brian Chesky will seine Reiseplattform Airbnb zurück zu ihren Wurzeln als private Zimmervermietung führen – und räumt Fehler beim Wachstum in großen Städten ein .
Was heute weniger wichtig ist
Royale Bahndurchsage: Wer am verlängerten Krönungswochenende in Großbritannien mit der Bahn unterwegs ist, der sollte einmal genauer hinhören: König Charles III. und seine Frau Camilla haben eine Bahndurchsage aufgenommen. Diese soll am Wochenende und am Krönungsfeiertag am Montag im gesamten Streckennetz der Züge in Großbritannien und der Londoner U-Bahn zu hören sein. »Meine Frau und ich wünschen Ihnen und Ihren Familien ein wunderbares Krönungswochenende«, beginnt Charles die Ansage. Camilla sagt darauf: »Wo auch immer Sie reisen, wir hoffen, Sie haben eine sichere und angenehme Reise.«
Mini-Hohlspiegel

Plakat im Altmühltal (Bayern)
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages
Und am Wochenende?
Weil in den News des Tages heute so viele Stühle, Tische, Posten, Positionen und Lebenswerke bedrohlich gewackelt haben oder gleich ganz zusammengestürzt sind, erscheint mir folgendes Video für den Weg ins Wochenende passend: »Alles, was uns hält«, ein Lied des Berliner Slam-Poeten Felix Römer und der Leipziger Band Nachtfarben. Die berührende Mischung aus Lyrik und Jazz ist Teil des Poesiealbums »Schön«, das vor zwei Wochen im Satyr Verlag erschienen ist. Ein Kunstwerk aus Text und Ton , das ich allen sehr gerne ans Herz legen möchte, die das gesprochene Wort mindestens so schätzen wie das geschriebene.
Noch mehr Alben der Woche stellt mein Kollege Andreas Borcholte in seiner Kolumne »Abgehört« vor. Neben Ed Sheeran gibt es Neues von Paula Paula, Monika Roscher Bigband und The Smashing Pumpkins.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß, Leiterin Meinung und Debatte