»NICHT BLUTÜBERSTRÖMT, NUR ETWAS BLUTIG«
Eine unglückliche Formulierung unterlief einem verdienten und unbestrittenen Mann, Ernst Friesenhahn, dem Bundesverfassungsrichter a. D. und Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn. Als Präsident des 46. Deutschen Juristentags in Essen leitete er am Dienstag vergangener Woche eine Sonderveranstaltung zum Thema »Verfolgung und Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen«. Er sagte:
»Der Öffentlichkeit im In- und Ausland soll gezeigt werden, daß sich der deutsche Juristenstand dieser Aufgabe stellt.«
Die Aufgabe - die Verfolgung und Ahndung von NS-Verbrechen - ist mindestens so alt wie die Bundesrepublik. Zu spät wurde sie erkannt, allzu hartnäckig unterschätzte man lange ihre Größe. So verbietet sich jeder demonstrative Akzent, 21 Jahre nach Hitler ist nicht das Ende des Gerichts über die Vergangenheit, sondern erst sein Höhepunkt in Sicht.
Nahezu täglich wird heute in einer, meist in mehreren Städten der Bundesrepublik gegen Menschen verhandelt, die unter dem NS-Regime Verbrechen begangen haben sollen. Täglich arbeiten überall die Strafverfolgungsbehörden mit 20 bis 30 Prozent ihrer Besetzung an Ermittlungen und Vorbereitungen in NS-Sachen.
1965 wurde die Verjährung von NS -Morden im letzten Augenblick verhindert. Seitdem haben sich Gräber geöffnet, an denen die Bundesrepublik vorübergegangen war. Der Bevölkerung, deren Mehrheit fraglos schon 1965 gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist war, aus unannehmbaren Gründen, aber auch aus Erschöpfung, stehen Verfahren in allen Teilen der Bundesrepublik bevor, die an Dauer und Umfang dem ersten Auschwitz-Prozeß wenigstens gleichkommen werden. Bis weit in die 70er Jahre hinein...
Im Einbruch einer Flut, die alle Kategorien und die Kapazität der Strafjustiz zu überschwemmen droht, lud die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags, gewiß nicht zuletzt auf Betreiben von Präsident Friesenhahn, 18 namhafte Juristen zu einer Beratung ein. Sie tagten in Klausur vom 1. bis 3. April dieses Jahres in Königstein im Taunus. Die Entschließung dieser Kommission wurde jetzt in Essen bekanntgemacht.
Sie beschäftigt sich vor allem mit der Frage, ob die NS-Verbrechen ausreichend bestraft werden. Schon im April 1965 hatte der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gefragt: »Was nützt eine Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen, wenn die Täter keine angemessene Strafe zu erwarten haben?«
Die Königsteiner Kommission »hat mit Besorgnis von Urteilen Kenntnis genommen, in denen NS-Gewaltverbrecher nach den in den Urteilen getroffenen Feststellungen mit auffallend niedrigen Strafen geahndet werden«.
So sieht die jüngste Statistik der NS -Prozesse aus: Vom 1. Januar 1965 bis zum 1. September 1966 wurde in 46 Schwurgerichtsverfahren gegen 176 Angeklagte verhandelt. In 26 Fällen lautete das Urteil auf lebenslanges Zuchthaus. 15mal wurden zehn bis 15 Jahre Zuchthaus verhängt. In 31 Fällen erkannten die Gerichte auf Zuchthaus zwischen fünf und zehn Jahren. Zu Freiheitsstrafen unter fünf fahren Gefängnis oder Zuchthaus wurden 50 Angeklagte verurteilt. 54mal ist freigesprochen, von Strafe abgesehen oder eingestellt worden.
Die Zahlen der jüngsten Statistik sind vorerst nicht zu deuten. Die Mehrheit der Entscheidungen muß noch die Revision passieren. Das kann beim Umfang der Strafsachen lange dauern. Die Revisionen gegen das im August 1965 ergangene Urteil im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozeß zum Beispiel werden kaum vor Ende nächsten Jahres entschieden werden.
Die Verhandlungen, die der Statistik zugrunde liegen, haben Gemeinsamkeiten. Fast alle dauerten weit länger als vorgesehen. Sieht man von Ausnahmen ab, so wurden die Prozesse von der Öffentlichkeit kaum beachtet. In allen Prozessen wurden Greuel enthüllt, vor denen selbst die Mitteilung zuviel ist, daß es keine Worte für sie gibt.
Gemeinsam hatten die Prozesse schließlich auch das Verhalten der Angeklagten. Sie wissen nichts, sie taten nichts und haben nichts gesehen.
In Oldenburg berief sich Erich Kassner, ehemaliger Gebietskommissar von Kowel in der Ukraine, unter anderem wegen 13 Einzelerschießungen aus Mordlust angeklagt, auf einen »Führerbefehl« über die Geheimhaltungspflicht. »Ich fühle mich noch heute dem Deutschen Reich verbunden. Wer garantiert mir, daß ich nicht nächstes Jahr vor einem anderen Gericht stehe, weil ich hier zuviel erzählt habe?«
In Stuttgart wurde Paul Raebel, ehemaliger SS-Führer in den Arbeitslagern um Tarnopol, angeklagt des Mordes an 124 jüdischen Häftlingen, zum Tod einer Jüdin befragt, die sich und ihre Kinder vergiftete, als sie zur Erschießung befohlen wurde. Darauf trat ihr Mann freiwillig unter jene, die erschossen wurden. Wie Paul Raebel zumute war dabei, wollte der Vorsitzende wissen. »Das war natürlich alles eine große Schweinerei, denn der Mann war ja in erster Linie Facharbeiter.«
In diesem Prozeß bestritt ein anderer Angeklagter, Julius Aust, den Mord an einem Juden. Er habe auf Elstern geschossen und den Juden versehentlich getroffen.
Im Lager Sobibor, über das in Hagen verhandelt wurde, hatten sich die SS -Dienstgrade von Häftlingen eine Kegelbahn und Häuschen im Tiroler Stil bauen lassen, denen sie Namen wie »Gottesheimat« oder »Schwalbennest« gaben. Die Peitschen der SS-Leute waren mit Initialen gezeichnet, die des Angeklagten Kurt Bolender mit silbernen. Er bewahrte die seine so lange auf zur Erinnerung, bis sie unter den Asservaten im Prozeß vor ihm lag.
Im Freiburger Prozeß wegen Judenerschießungen im Gebiet von Zakopane versuchte der ehemalige SS-Mann Josef Mertens frühere Aussagen abzuschwächen. Nicht »blutüberströmt« sei ein Mann gewesen, sondern »nur etwas blutig im Gesicht«.
Aus derartigen Details ließe sich ein nahezu endloser Streifen von Bildern zusammensetzen, die alles sagen - und nichts mehr sagen. Denn sie lassen im rechtsstaatlichen Verfahren und in der Beweisnot nach mehr als 20 Jahren nur noch Gesten der Ohnmacht zu, selbst wo die Höchststrafe verhängt wird. Auch gerät die Mühe um eine Antwort, die der Schuld entspricht, in eine Schere: Die Nachsicht kann genauso der Selbstentschuldigung des Zeitgenossen jener Jahre dienen wie die unnachsichtige Härte in der Verfolgung.
Die Entscheidungen über die 176 Angeklagten, von denen die jüngste Statistik handelt, sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Zwar begannen die Urteilsbegründungen der Schwurgerichte fast immer mit Grundsatzerklärungen, die in einem Meer ohne Ufer, über dem sich kein Himmel spannt, die Position zu bestimmen suchten. Dabei entstanden mißverständliche Ausführungen sogar dort, wo die Urteile im Strafmaß den Anträgen der Anklage entsprachen und noch über sie hinausgingen.
So war im Tuchel-Prozeß in Mannheim zu hören, man müsse die Bedenken ernst nehmen, daß Verbrechen an Angehörigen anderer Völker derzeit nur in Deutschland geahndet würden.
Weiter fällt an allen Urteilen auf, welch großen Raum die Erörterung der Strafzumessungsgründe einnimmt; einen größeren jedenfalls als sonst bei Kapitalverbrechen. Doch immer wieder stechen da und dort »entlastende Momente« zugunsten der Angeklagten hervor, die sich nicht einordnen lassen.
In einem auf dem Juristentag in Essen erwähnten Urteil wurde strafmildernd berücksichtigt, daß sich die Angeklagten nach dem Krieg mit völlig veränderten Verhältnissen abzufinden hatten.
Die Königsteiner Entschließung zielt denn auch auf den Kernpunkt der Auseinandersetzung um die Urteile in NS -Sachen, wenn sie beanstandet, »daß Täter des Mordes als Gehilfen verurteilt worden sind«. Täter ist nach Ansicht der Kommission, »auf jeden Fall, ohne Rücksicht auf seine Beweggründe im übrigen«,
- wer ohne konkreten Befehl getötet
hat;
- wer mehr getan hat, als ihm befohlen war;
- wer als Befehlsgeber mit selbständiger Entscheidungsgewalt oder eigenem Ermessensspielraum Tötungen befohlen hat.
Die Entschließung verkennt nicht, daß manche Täter ihre Handlungen unter dem Gefühl einer unbestimmten Drohung beginnen und daß in solchen Fällen die Strafe lebenslangen Zuchthauses als zu hart erscheint, wenn auch »die Entschuldigungsgründe..., die mindestens die Vorstellung einer aktuellen Bedrohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben voraussetzen, nur selten vorgelegen haben«.
Zu oft, so die Entschließung, werden Entschuldigungsgründe zu großzügig angenommen, und es fällt auf, wie oft die Strafen am unteren Rand der gesetzlichen Mindeststrafe liegen.
Vom »irrationalen Widerstreben« der Gerichte, vornehmlich der Laienrichter, sprach Präsident Friesenhahn in Essen, ein Pauschalurteil sei nicht am Platze, aber »negative Tendenzen in der Rechtsprechung« müßten hinsichtlich der NS -Verfahren festgestellt werden. Friesenhahn hob einen Satz der Präambel der Entschließung hervor: »Die Mitverantwortung der Gesellschaft für die geschehenen Verbrechen darf nicht dazu führen, daß gegenüber diesen Taten unangebrachte Milde geübt wird.«
Dieser Satz, ist in der Tat entscheidend. Es gibt Urteile und Beschlüsse, die ihn fordern. In Augsburg wurde Günter Waltz, gegen den die Anklage viermal lebenslanges Zuchthaus beantragt hatte, wegen vier rechtlich zusammentreffender Verbrechen des Mordes und drei weiterer selbständiger Verbrechen des Mordes zu 13 Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt, unter »großen Bedenken« des Gerichts.
Die Bedenken müssen sehr groß gewesen sein: »Seine (Waltz) ethische Einstellung hat sich nicht geändert.« Er habe in Wahrheit aus niedrigen Beweggründen gehandelt, aus Rassenhaß, um die Juden als »unnütze Fresser« zu beseitigen. Dennoch wurde Waltz vom Gericht, dem drei Frauen als Geschworene angehörten, ein Verbotsirrtum zugestanden.
Unangebrachte Milde ist immer wieder am Werk. Doch ist zu fragen, ob nicht wenigstens die Neigung zu Milde sorgfältig diskutiert, ob ihr nicht ein vertretbarer Weg gewiesen werden sollte. Die Springprozession der »Vergangenheitsbewältigung« durch die Strafjustiz, ihre explosive Steigerung hinter jedem bislang »endlich« erreichten Ziel, ist nicht der Öffentlichkeit allein und auch nicht nur der Justiz vorzuwerfen. Das Verbot, im Osten lagerndes Material im Osten durchzuarbeiten, bis Anfang 1965 ein nur zu überlistendes Hindernis, ist in vorderster Linie schuld daran, daß es zu niederschmetternden-Überraschungen kam, deren Ausmaß für viele erst noch sichtbar werden wird.
Die Neigung zu Nachsicht hat unannehmbare, aber auch verständliche Quellen. Ist es richtig, spät, unerträglich spät, die Notwendigkeit schärfster Maßstäbe zu proklamieren, wenn nicht gleichzeitig Wege gesucht werden, die das Gefühl von der »Solidarität der Schuld« gehen kann? Die Königsteiner Entschließung darf nur ein Anfang sein. Und wenigstens in einem Punkt läßt sie, wenn auch einstimmig gefaßt, einen Ansatz in dieser Richtung spüren.
Ein Teil der Kommission »hat die Meinung vertreten, daß für solche aus einer außergewöhnlichen Lage entsprungenen Fälle ausnahmsweise ein übergesetzlicher Strafmilderungsgrund in Betracht gezogen werden könnte; andere Mitglieder wollen die Lösung dem Gesetzgeber oder der Gnadeninstanz überlassen«.
In Kurzreferaten wurde in Essen diese Andeutung erläutert, von Professor Hanack, Heidelberg, zum Beispiel, der die Mitwirkung der Gesellschaft am Ruin des Unrechtsbewußtseins behandelte. Rechtsanwalt Redeker, Bonn, fragte nach dem Unterschied zwischen dem Kindermörder Strack und den NS-Tätern. »Der Mörder im landläufigen Sinn... stellt sich außerhalb von Staat und Gesellschaft.« Der NS-Täter, nicht der Exzeß-Täter freilich, »ging vielleicht in der Tat mit Staat und Gesellschaft konform«. Mit dem »Ideologietäter« wird sich die Strafrechtswissenschaft dringend befassen müssen.
Neben die Ohnmacht eines Strafgesetzes aus dem vergangenen Jahrhundert stellte Senatspräsident Hofmeyer, Frankfurt, der den Vorsitz im ersten Auschwitz-Prozeß führte, die Ohnmacht der Strafprozeßordnung aus dem vergangenen Jahrhundert. Die von Zahlen und Akten überwältigten Strafverfolgungsbehörden sind bereits dazu übergegangen, nur dort anzuklagen, wo Taten besonders strafwürdig scheinen. Hofmeyer: »... was ja dem Opportunitätsprinzip sehr nahe kommt«.
»Die deutsche Justiz leidet unter einem Rechtsstaatlichkeitskomplex. Während in der Nazizeit oft Todesurteile in wenigen Minuten ausgesprochen wurden, scheint man jetzt das schlechte Gewissen durch eine uferlose Ausweitung jedes Verfahrens abreagieren zu wollen.« Gegen diese Äußerung eines Reporters der »Times« wandte sich Hofmeyer: »Zu geschehenem Unrecht darf nicht weiteres Unrecht gefügt werden.«
Hofmeyer, der sich gegen Prozesse vom Umfang des Auschwitz-Prozesses erklärte ("Ein Gedränge ohne Ausweg, wenn der BGH aufhebt"), hält an einer Beweisaufnahme fest, die den Rechtsgarantien entspricht, auch wenn sie in NS-Sachen stets eine Tortur ist, vor allem für die überlebenden Zeugen. »Wir haben außer dem Zeugenbeweis so gut wie keine Beweise. Und der Zeugenbeweis war schon immer der schlechteste Beweis.« Auch die sachlichsten Zeugen können das Gericht in die Irre führen, »nicht weil sie das Falsche sagen wollen, sondern weil sie das Richtige nicht mehr wissen«.
In Präsident Friesenhahns Schlußwort erschien noch einmal ein Schatten, den schon Redeker beschworen hatte, als er das Reichsgericht erwähnte, von dem die »Judengesetze« Hitlers »noch exzessiv zuungunsten der Juden ausgelegt wurden« und jene Juristen, die zu Hitlers Euthanasie-Plänen versprachen, es würden ihnen noch bessere Wege »der Tarnung und Verschleierung« einfallen.
Präsident Friesenhahn: »Wir alle sind verantwortlich, die wir damals geschwiegen haben.« Ein klares Wort auf dem Juristentag in Essen. Es fiel am Dienstag vergangener Woche, während in Dortmund eine Strafkammer über den Antrag beriet, mit dem der Angeklagte Petras Dominas, Klimperkastenvirtuose der Anklagebank, seine Richter abzulehnen suchte, die älter als 45 Jahre sind.
Angeklagter im NS-Prozeß*: Peitschen in der Gottesheimat
Simplicissimus
»Dauernd werden diese langweiligen Judenerschießungen verhandelt, Wachtmeister - gibt es denn gar keine Brühne mehr?«
* Franz Hofmann, zuletzt SS-Hauptsturmführer. Verurteilt wegen Mordes und Totschlags (München 1961), Mordes und gemeinschaftlichen Mordes (Frankfurt 1965) und Beihilfe zum Totschlag (Hechingen 1966): zweimal lebenslanges Zuchthaus und 13 Jahre Zuchthaus.