JAPAN Nicht geschenkt
Am Kap Nosappu, der nordöstlichen Spitze von Hokkaido, in Sichtweite eines Leuchtturms auf einem sowjetisch besetzten Felsen, erhebt sich ein 13 Meter hohes Denkmal, die »Brücke zu den vier Inseln«. Es wurde errichtet als »Symbol des Wunsches des japanischen Volkes zur Rückgabe der nördlichen Territorien«.
Daneben steht ein »Haus der Sehnsucht« mit Informationsmaterial für Besucher wie am Berliner Checkpoint Charlie. Hunderttausende haben sich in Unterschriftslisten eingetragen, in denen sie die verlorene Heimat einiger japanischer Fischer zurückwünschen.
Die Sehnsucht gilt vier unwirtlichen Eilanden. Meist verborgen in dichtem Nebel, gepeitscht von Stürmen und Springfluten, erschüttert von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, lagen sie für die Russen jenseits vom »Ende der Welt«, wie sie Kamtschatka nannten. Die Japaner tauften sie »Taubstummen«-Inseln, weil dort in Urzeiten geheimnisvolle, weißhäutige Menschen lebten, die Ainu, deren Sprache kein Japaner verstand.
Die Kurilen, wie die Inseln zwischen Japan und der sowjetischen Halbinsel Kamtschatka heute heißen, sind nach wie vor »eine der am wenigsten bekannten Ecken der Welt«, so der US-Wissenschaftler John Stephan. Wälder von Gras, das oft höher als zwei Meter steht, bedecken den Boden; dicht unter dem Meeresspiegel ringsherum schwebt nahrhafter Seetang. Das Gebiet gilt als einer der besten Fischgründe der Welt.
Es ist zugleich einer der strategisch wichtigsten Winkel der Erde. Denn hinter der Inselkette liegt der sowjetische Hafen Wladiwostok ("Beherrsche den Osten"), Standort der sowjetischen Pazifik-Flotte.
Die vier südlichsten Kettenglieder - Etorofu, Kunaschiri, Schikotan und die Habonais, zusammen knapp 5000 Quadratkilometer groß - hat die Sowjet-Union 1945 annektiert. Seither hindern sie die Entspannung zwischen Moskau und Tokio, weil die Russen sich beharrlich weigern, ihre Kriegsbeute wieder herauszurücken.
Doch jetzt vermeint Japans Außenminister Shintaro Abe, »konstruktive Bewegungen« in Moskau zu erkennen. Die Hoffnungsfreude gedieh überraschend beim Besuch seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse vorletzte Woche.
Anders als sein mürrischer Vorgänger Andrej Gromyko gab sich der Mann aus Georgien in Tokio allzeit fröhlich. Mit Ehefrau Nenuli rollte er lachend im Elektromobil an Robotern vorbei, filmte eigenhändig per Video seine Begleiter und ließ sich beim Gouverneur der Hauptstadt von Kimono-Mädchen grünen Tee in Schalen reichen.
Drei Verhandlungsrunden und dann noch einmal drei Stunden hörte sich Schewardnadse, 58, geduldig die japanischen Beschwerden an. Am Ende seiner
Reise in das Inselreich, das seiner Heimat benachbart ist, »solange die Erde besteht« (Schewardnadse), offerierte der Sowjetdiplomat neuen Typs sein scheinbar höchst bescheidenes Mitbringsel, das in Wirklichkeit eine Wende der sowjetischen Außenpolitik ankündigen könnte:
Obwohl der Sowjetstandpunkt »unverändert« sei, könne man endlich über einen Friedensvertrag verhandeln, und zwar aufgrund eines 18 Jahre alten, von Gromyko stets ignorierten Übereinkommens, die »nach dem Zweiten Weltkrieg offengebliebenen Fragen zu klären«. Dazu gehört in japanischer Sicht auch die Frage der Souveränität über die vier kleinen Inseln.
Auf der Jalta-Konferenz von 1945 hatte Stalin sich US-Präsident Roosevelt gegenüber zum Bruch des bis dahin für Moskau höchst vorteilhaften Neutralitätspakts mit Japan bereit erklärt, wenn er dafür Revanche üben dürfe: Vierzig Jahre zuvor hatten die Japaner dem zaristischen Rußland den südlichen Teil der Insel Sachalin abgenommen. Die wollte Stalin wiederhaben, und als Draufgabe die Kurilen-Inseln.
»Man möchte sie nicht geschenkt haben«, schrieb damals »Newsweek« über die Eilande.
Als Japan 1951 mit 55 Staaten - nicht aber mit der UdSSR - den Friedensvertrag von San Francisco schloß, verzichtete es auch auf Sachalin und die Kurilen. Erst viel später entdeckte Japan, daß die vier letzten Inseln der Kette nie zu den Kurilen gehört hatten.
So würde eine Wiedervereinigung Japans mit den Außenposten nördlich von Hokkaido nicht gegen den Vertrag von San Francisco verstoßen. Die Sowjets, so die Rechtsposition der Japaner, halten die Inseln illegal besetzt, sie müssen wieder der Souveränität Japans unterstellt werden.
Dem japanischen Begehren stand dabei nicht unbedingt die altrussische Scheu entgegen, ein erobertes Territorium je wieder aufzugeben, weil dann womöglich auch anderswo kein Halten mehr wäre. Einer verbreiteten Legende zuwider hat Rußland illegalen Zugewinn oft wieder preisgegeben, auch nach 1945:
Sowjettruppen zogen sich aus Finnland, Norwegen, dem dänischen Bornholm zurück, weil der Rückzug mehr einbrachte als das Festkrallen. Sie wichen auch aus der Tschechoslowakei, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Nord-Persien; sie gaben die Mandschurei und wichtige Häfen Chinas auf.
Auf Japans Mini-Inseln aber blieben sie. Der Grund: Den Riegel vor ihrer Pazifikflotte müßten sie, so ein japanischer Kommentator, »am ersten Tag eines Kriegsausbruchs zurückerobern«. Die Preisgabe besonders der beiden größeren Inseln Etorofu und Kunaschiri hieße für Moskau, »sich in den eigenen Fuß zu schießen«, sagt ein europäischer Militärattache in Tokio.
Das Ochotskische Meer zwischen der sowjetischen Insel Sachalin und den Kurilen ist der sicherste Unterschlupf für Moskaus Atom-U-Boote; auf Etorofu sind 20 MIG-23-Jäger stationiert - so dicht an Japan wie nur möglich, weil jede Flugminute zählt. Vor Wladiwostok führen nur drei Wasserstraßen in den offenen Pazifik; die sicherste durch die La-Perouse-Straße zwischen Sachalin und Japan und dann durch die Kurilen.
Dennoch zeigte sich der Kreml 1956, zur Zeit des Reformers Chruschtschow, zum Kompromiß bereit. Aus Anlaß der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen schrieben beide Partner in einer Deklaration, wenigstens zwei der vier Streitobjekte sollen an Japan zurückfallen - die kleinsten, Habomais und Schikotan.
Für die Fischer auf Hokkaido wäre das schon von großem Nutzen gewesen, aber es reichte Tokio nicht. Darauf stellte Moskau eine neue, unerfüllbare Bedingung: Abzug der US-Truppen aus Japan. Und seit 1961 erklärte Sowjetaußenminister Gromyko nur noch, die Inselfrage sei »längst gelöst«.
Die Japaner konterten mit der uneingeschränkten Forderung nach den vier »Nördlichen Territorien«, proklamierten 1981 den 7. Februar zum »Tag der Nördlichen Territorien«, ordneten Gedenkstunden in den Schulen an und bezahlten Fernsehwerbung, um das Nationalbewußtsein für das Problem wachzuhalten.
Am weitesten ging Japans - von Moskau unabhängige - KP, die nicht nur die Rückgabe der vier, sondern aller 30 Inseln des Kurilen-Archipels verlangt. Sowjetvertreter Schewardnadse ließ nun immerhin über eine Heimkehr der auf Sachalin festgehaltenen 45000 Koreaner - Bergarbeiter aus der Zeit der japanischen Herrschaft - mit sich reden, auch über Besuche von Japanern an den Gräbern ihrer Ahnen auf den vier Kurilen-Inseln.
Bei einem Mittagessen mit Minister Abe, schon drei Wochen vor der Schewardnadse-Reise, hatte der Sowjetdiplomat Jewgenij Primakow wieder auf die Lösung von 1956 verwiesen: für jeden zwei Inseln (für die Sowjets die größeren). Primakow ist ein außenpolitischer Berater des Parteichefs Gorbatschow - er begleitete den Kreml-Herrn im November zum Genfer Gipfel.
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Von Japan zurückgeforderte Inseln
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