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ZIGEUNER Nicht mehr schämen

Die meisten Zigeuner West-Europas hat Spanien -- und neuerdings auch den einzigen Zigeuner-Volksvertreter.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Zu Sitzungen erscheint er gern im giftgrünen, leuchtendlila oder feuerroten Hemd mit buntem Halstuch. Er schmückt sich, ein echter Lokalpatriot, mit Hosenträgern in den andalusischen Regionalfarben Grün und Weiß. Und seine Fraktionskollegen von der regierenden »Union des Demokratischen Zentrums« schockiert er, indem er auch mal mit den Kommunisten gegen die eigene Partei stimmt.

Ein Parlamentarier wie jeder andere ist Juan de Dias Ramirez Heredia, 35, zweifellos nicht. Der aus Andalusien stammende Abgeordnete der katalanischen Provinz Barcelona in den Madrider Cortes befindet sich vielmehr, so die konservative Madrider Tageszeitung »Ya«, »in einer historisch einmaligen Situation« er ist der bisher einzige Zigeuner in der spanischen Geschichte, der je ins Parlament kam.

Dorthin brachten ihn, im vergangenen Sommer, die ersten freien Wahlen, nach vier Jahrzehnten

Franco-Diktatur. Seither kämpft Heredia vom Hohen Haus aus gegen das »falsche Bild von den Zigeunern«, gegen die noch immer verbreitete Vorstellung, wonach der »gitano« der »Inbegriff von Lüge, Betrug, Falschheit und Diebstahl« (Heredia) sei.

Die jahrhundertealte Geschichte dieses Vorurteils und seiner oft barbarischen Folgen ist nachzulesen im Archiv eben jener Cortes, in denen der

Zigeuner-Abgeordnete Heredia nun Sitz und Stimme hat:

Das erste Gesetz gegen die Zigeuner wurde in Spanien bereits 1494 erlassen, nur kurz nach der ersten Einwanderungswelle der aus Indien stammenden Nomaden. Mit 100 Peitschenhieben und dem Abschneiden der Ohren strafte das Gesetz alle Zigeuner, die keinen festen Wohnsitz hatten.

1525 drohten die spanischen Cortes, damals noch mit Sitz in Toledo, Zigeunern, die sich weigerten, seßhaft zu werden, die Ausweisung an. Und weil das nichts nutzte, schlug rund 70 Jahre später der Cortes-Abgeordnete Don Martin die Porras vor, Zigeunermänner und -frauen voneinander zu trennen, in entlegene Provinzen zu schaffen und mit dort Ansässigen zwangsweise zu verheiraten, um auf diese Art die »Gottlosen, Barbaren, Diebe, Faulenzer und Betrüger« zu domestizieren.

Mit Gefängnis und Galeere, im 17. Jahrhundert gar mit der Todesstrafe, mußten Spaniens Zigeuner dafür büßen, daß sie anders waren als die Bürger ringsum. Und von Staats wegen verfolgt wurden sie bis in die allerjüngste Vergangenheit, besonders unnachsichtig vom Franco-Regime: Die spanische Landpolizei, die Guardin Civil, hatte stets Anweisung, Gitanos noch schärfer als andere Spanier zu überwachen.

Voll Mißtrauen, Scheu und Stolz blieben die Zigeuner am äußersten Rand einer Gesellschaft, die sie entweder verteufelte oder romantisch verklärte, weil sie nichts von ihnen wußte. Da veröffentlichte 1971 in Barcelona ein junger Mann ein Buch mit dem Titel »Wir, die zigeuner« -- den ersten Bericht eines spanischen Gitanos über sein Volk. Autor des schon zehn Tage nach Erscheinen vergriffenen Buches: Juan de Dios Ramirez Heredia, Mitglied der alteingesessenen Heredia-Sippe, deren Namen der Schriftsteller Federico Garcia Lorca in seinen »Zigeunerromanzen« berühmt machte.

Weitere Bücher und erste Soziologenberichte folgten, als das Franco-Regime seinem Ende zuging und das Bewußtsein der spanischen Gesellschaft für ihre ethnischen Minderheiten sich schärfte. Das Bild, das sich da enthüllte, ist düster:

Von den über 300 000 Zigeunern, die heute in Spanien leben -- mehr als in jedem anderen westeuropäischen Land -,hausen drei Viertel in elenden Wellblech- oder Lehmhütten, »chabolas«, am Rand der großen Städte. Acht von zehn Erwachsenen haben keine feste Arbeit, 73 Prozent sind noch heute Analphabeten. Die Rate der Rachitiserkrankungen bei Zigeunerkindern liegt fünfmal so hoch wie in der übrigen Gesellschaft,

Unter der jahrhundertelangen Verfolgung, so befand der in den siebziger Jahren ins Leben gerufene »Verband für die Entwicklung der Zigeuner«, »hat sich die Zigeunerbevölkerung auf sich selbst zurückgezogen und den ungangbaren Weg einer Parallel-Gesellschaft versucht, die von sich aus jeden Kontakt nach außen scheut.«

Der junge Heredia gehörte zu den ersten, die diesen Teufelskreis zu durchbrechen suchten. Er gründete in Barcelona, wo heute neben Madrid die meisten Zigeuner leben, das »Andalusische Zentrum«, wurde führendes Mitglied des »Sekretariats für Zigeuner-Angelegenheiten« und leitete eine Berufsbildungsschule. Denn die traditionellen »Berufe«, mit denen sich die Gitanos in der Vergangenheit ernährten, wurden längst Opfer der modernen Industriegesellschaft.

Als Kesselflicker, Scherenschleifer, Pferdehändler ist heute nicht mal mehr das Existenzminimum zu verdienen. Allenfalls als Touristenattraktion wie Flamenco-Sänger oder Stierkämpfer hätten Zigeuner im Spanien von heute noch gewisse Zukunftschancen.

Doch nun fordern sie erstmals mehr, nämlich »Verantwortung und Rechte für eine gemeinsame Gesellschaft, in der sich ein Zigeuner nicht mehr schämen muß«, so der Verband für die Entwicklung der Zigeuner.

Vergangenen November überreichte eine Verbands-Delegation dem Ministerpräsidenten Adolfo Suárez einen umfassenden Forderungskatalog. 2400 prominente Spanier hatten ihn unterschrieben, darunter Sozialistenführer Felipe González und Bischof Alberto Iniesta.

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