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»Nicht richtig, aber ich bin zufrieden«

aus DER SPIEGEL 8/1978

In den »Tagesthemen« der ARD wird er »mickrig« genannt. Eine Sonntagszeitung beschreibt ihn als »ausgewachsenen Knirps«. Ferenc Sos, 44, ist keine 1,60 m groß. Die Anklage behauptet, er habe am Abend des 19. Januar 1977 in Braunschweig-Mascherode fünf Menschen ermordet. Doch Ferenc Sos bestreitet. Es muß ihm also erst einmal nachgewiesen werden, daß er fünf Menschen getötet hat.

Bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung hat er als unschuldig zu gelten (falls er verurteilt werden sollte). Einigen Leuten paßt das gar nicht. Neuerdings bewahrt den Rechtsstaat, wer die Unschuldsvermutung malträtiert. Wenigstens ein bißchen Vorverurteilungsdampf muß abgelassen werden. »Mickrig« und ein »ausgewachsener Knirps": Der Kerl hat nicht einmal die Statur, die man als fünffacher Mörder zu haben hat.

Es empfiehlt sich freilich, nur ein bißchen Dampf abzulassen, denn da ist die Verteidigung von Ferenc Sos. lind mit der müssen die Medien vorsichtig umgehen hinsichtlich der (noch nicht erwiesenen) Schuld von Ferenc Sos. Die Verteidiger Leonore Gottschalk-Solger, Peter Gottschalk und Reinhard Daum haben nämlich gleich zu Beginn der Hauptverhandlung gefragt, ob ein fairer Prozeß überhaupt noch möglich sei.

Im Januar 1977 hat Hans-Günther Weber, der Oberstadtdirektor von Braunschweig, auf »Anregung Hunderter Braunschweiger Bürger« die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert: »Verbrechen wie dieser Meuchelmord an fünf unschuldigen Menschen können nicht nach den Grundsätzen humanen Strafvollzugs abgeurteilt werden, weil auch die ebenfalls bereits in Frage gestellte lebenslange Freiheitsstrafe keinen hinreichenden Schutz vor Mördern und Terroristen mehr bietet.«

Haben sich Mitglieder des Gerichts an der Unterschriften-Sammlung beteiligt, die im Zusammenhang mit dieser Aktion des Oberstadtdirektors stattfand? Die Verteidigung bittet die drei Berufs- und die zwei Laienrichter der Schwurgerichtskammer um Beantwortung dieser Frage und drei weiterer Fragen, die gleichfalls auf mögliche Voreingenommenheit zielen.

Das Gericht gestattet der Verteidigung diese Fragen gleich zu Beginn der Hauptverhandlung, zu einem Zeitpunkt, zu dem Gerichte sonst (fast immer) noch nicht bereit sind, sich mit längeren Erklärungen, mit Anträgen und schon gar nicht mit Anfragen der Verteidigung zu befassen. Vorsitzende Richter der Bundesrepublik neigen dazu, gleich auf den ersten Metern der Sitzung die Eisen zu zeigen; sie meinen erst einmal aufschieben, zurückweisen und ablehnen zu müssen, damit klar ist, wer das Sagen hat -- und dabei krepiert das Klima der Hauptverhandlung dann auch schon auf den ersten Metern ...

Dieses Gericht läßt die Verteidigung fragen, und es beantwortet die ihm gestellten Fragen auch, obwohl es sich nicht für verpflichtet hält zu antworten. Kein Mitglied des Gerichts hatte Kontakt zu den Getöteten, keines hatte oder hat Kontakt mit ihrer menschlichen oder beruflichen Umgebung. Keiner der Richter hat sich an der Unterschriftenaktion beteiligt. Die Richter haben teilweise die Berichterstattung verfolgt, aber sie haben auch einen Artikel der »Braunschweiger Zeitung« gelesen, der zu Zurückhaltung und Objektivität aufrief.

Nicht nur der Verteidigung wegen müssen die Medien hinsichtlich der (noch nicht erwiesenen) Schuld von Ferenc Sos vorsichtig sein. Wer über diesen Prozeß leichtfertig berichtet, wer über Ferenc Sos vorschnell den Stab bricht -- den beschämt ein Gericht, das in beispielhafter Weise unvoreingenommen verhandelt.

Der Gerichtsmediziner Professor Berg, Göttingen, er soll als Sachverständiger zu den Umständen des Todes der fünf Opfer gehört werden, hat dem Leiter der Sonderkommission, die in dieser Mordsache ermittelte, einen bemerkenswerten Brief geschrieben. Der Presse entnehme er, daß die Arbeit der Kommission »Früchte getragen hat": »Ich möchte Ihnen meine kameradschaftlich empfundenen Glückwünsche aussprechen ...«

Die Verteidigung lehnt Professor Berg wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Gericht gibt dem Antrag statt. Zwar sei der Sachverständige der Schwurgerichtskammer als ein integrer und objektiv unbefangener Mann bekannt: »Maßgeblich aber ist allein die Optik des Angeklagten. Wenn aus seiner Sicht Besorgnis um die Objektivität bestehen kann -- und das ist der Fall, wenn ein Sachverständiger seine kameradschaftliche Verbundenheit bekundet -, dann darf dieser böse Schein nicht weiter fortbestehen.«

Sauberer konnte nicht entschieden und begründet werden. Denkt man daran, wie sonst nur zu oft mit solchen Ablehnungen umgesprungen wird ... Der »böse Schein«, genau der ist es, der berücksichtigt werden muß, wenn ein Angeklagter Befangenheit befürchtet.

Professor Berg wird danach nur noch als sachverständiger Zeuge gehört. Und der Vorsitzende Richter Manfred Flotho, 41, achtet darauf, daß sich Professor Berg wirklich nur als Zeuge äußert. Richter Flotho macht auch den Verteidiger Gottschalk darauf aufmerksam, daß er im Begriff steht, dem von der Verteidigung erfolgreich abgelehnten Sachverständigen Professor Berg eine Frage zu stellen, die nur ein Sachverständiger beantworten darf. Richter Flotho tut das ohne Bosheit, ohne Ironie, mit nicht mehr als einem angedeuteten, freundlichen Erstaunen.

Das Gericht hat die Fragen der Verteidigung beantwortet, die auf eine mögliche Voreingenommenheit ziehen. Richter Flotho geht mit dem Angeklagten Ferenc Sos die Angaben zur Person durch, fragt nach dem Geburtsdatum, nach der richtigen Schreibweise des Namens. Als es um den Namen des Ortes geht, in dem Ferenc Sos die Schule besuchte. wird es schwierig. Denn der Ort heißt Tapilószentmárton. Wie spricht man das aus?

Richter Flotho versucht es und fragt Ferenc Sos. ob das so richtig sei. Ferenc Sos: »Nicht richtig. Aber ich bin zufrieden.« Er sagt das lächelnd, sozusagen auf einer Ebene mit Richter Flotho und nicht von der Angeklagtenbank zum Gericht hinauf. Nicht richtig, aber halten wir uns nicht damit auf -- so etwa antwortet Ferenc Sos.

Richter Flotho könnte scharf reagieren. Er könnte drohend davon sprechen, worum es echt (und so erlebt man das ja nur zu oft). Doch die Frage nach der korrekten Aussprache hat sich für Richter Flotho damit erledigt, daß Ferenc Sos zufrieden ist.

Das, was zu sagen Ferenc Sos bereit ist, und vorerst möchte er überhaupt nicht Stellung nehmen, kann er uneingeschüchtert vorbringen."Ich habe mit dieser Geschichte nichts zu tun«, sagt er. Es wolle ihm jemand etwas anhängen. Er wisse nur noch nicht wer.

In den Abendstunden des 19. Januar 1977 wurden in ihrem Haus im Braunschweiger Ortsteil Mascherode der Direktor an der Volksbank Braunschweig. Wolfgang Kraemer, 46, seine Ehefrau Brigitte, 40, der Sohn Stefan, 16, die Tochter Nele, 11, und der Sohn Martin. 6,« bei teilweiser vorangegangener Fesselung und Knebelung durch Erdrosseln getötet«. Kann eine solche Tat einem Menschen »angehängt« werden? Kann überhaupt einer allein so etwas tun?

Das Haus, in dem die Kraemers starben, ist keine »Villa«, sondern ein Einfamilienhaus schlichten Schnittes auf einem 684 Quadratmeter großen Grundstück. Es liegt an der Kohliwiese, einer 210 Meter langen Sackgasse, der letzten Straße vor freiem Feld am südwestlichen Ortsrand von Mascherode. Das Haus steht etwa in der Mitte der an beiden Seiten mit Einfamilienhäusern bebauten Straße. Dieses Haus und die Lebensgewohnheiten seiner Bewohner kann man nicht auskundschaften, ohne aufzufallen. Doch es ist niemand aufgefallen.

In der Straße, in der Ungewöhnliches sofort auffallen würde, in der man aber das Gewohnte kaum noch bemerkt, erinnert man sich später daran, daß Martin am 19. Januar 1977 zuletzt gegen 14.30 Uhr gesehen wurde. Er spielte mit seiner Schwester Nele.

Stefan ist zuletzt um 16.15 Uhr und kurz vor 17 Uhr gesehen worden. Er fuhr auf seinem Moped. Um 17 Uhr hatte er eine Verabredung mit einem Freund, die er nicht einhielt. Der Freund ging daraufhin zum Haus der Kraemers. Brigitte Kraemer öffnete die Tür. Stefan sei nicht zu Hause. Doch als sie das um etwa 17.10 Uhr sagte -- war in der offenen Garage Stefans Moped zu sehen.

Nach diesem Gespräch an der Haustür wird Brigitte Kraemer nicht mehr gesehen. Vor dem Gespräch ist gegen 16 Uhr bemerkt worden, daß sie in ihrem roten VW-Käfer nach Hause fuhr. Befinden sich Brigitte Kraemer, Martin und Stefan bereits in der Hand eines Eindringlings, als Brigitte Kraemer sagt, Stefan sei nicht zu Hause (obwohl das Moped in der Garage doch für seine Anwesenheit spricht)?

Es ist nicht undenkbar, daß einer allein die Tat begangen hat. Er könnte sich, als nur Martin anwesend war, Zugang verschafft haben. Und als dann Brigitte Kraemer kam und nach ihr Stefan, war der Eindringling bereits Herr der Szene. So könnte sich einer allein der Familie bemächtigt haben.

Nele, die um 14.30 Uhr gesehen wurde, als sie mit ihrem Bruder Martin auf der Straße vor dem Hause spielte, besucht gegen 15 Uhr eine Freundin und fährt mit der in einem Bus der Linie 12 in die Stadt. Um 17.30 Uhr sind die Mädchen wieder in Mascherode. Etwa um 18.30 Uhr geht Nele nach Hause.

Wolfgang Kraemer kommt als letzter heim. Es ist anzunehmen, daß er keinen von seinen Angehörigen sieht, daß diese einer nach dem anderen bedroht, ihrer Handlungsfreiheit beraubt und in verschiedene Räume des Hauses gesperrt worden sind. Denn als Wolfgang Kraemer kurz vor 21 Uhr bei Kurt Rosenau, einem Prokuristen der Braunschweiger Volksbank, anruft, sagt er: »Meine Familie ist weg!«

Wolfgang Kraemer sagt, seine Familie werde getötet werden, wenn er nicht zahle. Kurt Rosenau holt 165 000 Mark aus der Bank und übergibt diese Wolfgang Kraemer gegen 22.30 Uhr an der Haustür in der Kohliwiese.

Vor allem aber entspricht Kurt Rosenau einer immer wieder vorgebrachten, verzweifelten Bitte Wolfgang Kraemers: Er hält sieh bis zum Morgen des 20. Januar 1977 an das Versprechen, nichts zu unternehmen und auf keinen Fall die Polizei einzuschalten.

In der Geschichte dieser Tat ist Kurt Rosenau eine tragische Gestalt. Am Morgen des 20. Januar 1977 findet die jetzt erst alarmierte Polizei im Haus der Kraemers fünf tote Menschen. Und danach läßt sich leicht sagen, Kurt Rosenau hätte sich nicht an sein Versprechen halten dürfen.

Doch wie hätte man selbst sich verhalten? Der Wolfgang Kraemer. mit dem Kurt Rosenau sprach, war ein Mann, der offenbar annehmen mußte, seine Familie befinde sich außerhalb des Hauses an einem unbekannten, unerreichbaren Ort in der Hand von Mittätern,

Die Inständigkeit, mit der Wolfgang Kraemer darum bat, nichts zu unternehmen, wird wohl stärker gewesen sein als jedes Gegenargument. Auch arbeitet Kurt Rosenau bei einer Bank. Und für Bankleute lautet, was Gewaltakte angeht, die Devise, daß Geld ersetzt werden kann und daß alles zu unterlassen ist, wodurch Lehen gefährdet werden könnte.

Kurt Rosenau ist aber auch ein entscheidender Zeuge. Es kann einer allein diese Tat verübt haben. Doch Wolfgang Kraemer soll, während er mit Kurt Rosenau telephonierte, von »Männern« gesprochen haben, die ihn mit der Schußwaffe bedrohen. Es gab auch Unterbrechungen während der Telephonate. Beispielsweise teilte Kurt Rosenau mit, daß der zunächst geforderte Betrag zwischen 700 000 und einer Million Mark nicht zu beschaffen sei. Und Wolfgang Kraemer mußte das mit dem oder den Tätern besprechen.

Hat Kurt Rosenau gehört, daß Wolfgang Kraemer diese und andere Mitteilungen mit mindestens zwei, vielleicht sogar mit mehr als zwei fremden Stimmen erörterte?

Der erste Hinweis auf Ferenc Sos kam aus der Strafanstalt Fuhlsbüttel, und er bezog sich nicht nur auf Ferenc Sos. sondern auch auf einen Freund und ehemaligen Mithäftling des (vorbestraften) Ferenc Sos' namens Klaus-Heinz Petereit. Beide wurden festgenommen, doch nur Ferenc Sos blieb in Untersuchungshaft. Klaus-Heinz Petereits Aussagen sollen Ferenc Sos schwer belasten und auch dazu geführt haben, daß wichtige Beweismittel gefunden wurden, Hat er Ferenc Sos etwas »angehängt«? Die Verteidigung argwöhnt, hier sei ein »Kronzeuge« aufgebaut worden.

Die Schwurgerichtskammer geht methodisch vor. Sie hat bei der Auffindung der Toten begonnen, die Todesursachen und die Todeszeitpunkte verhandelt. Die Anwohner der Kohliwiese sagten aus (mehrere haben in der Tatnacht zwei Autos gehört). Und als Zeugin mußte auch Sabine Kraemer, 21, erscheinen. Sie ist die einzige Überlebende der Familie Wolfgang Kraemers. Sie war nicht in Braunschweig, als die Tat geschah.

Richter Flotho erklärt der Zeugin, warum das Gericht nicht auf sie verzichten darf. Er findet Worte, die Sabine Kraemer die Situation erleichtern können: Das Gericht hätte sie lieber in Frieden gelassen, »in stummer Beklommenheit vor dem Schicksal, das Sie zu tragen haben«.

Sabine Kraemers Auftritt könnte Öl ins Feuer gießen. Doch mit keinem Wort und keiner Geste fordert sie Emotionen heraus. Ihr Auftritt fordert nur zu der Besonnenheit auf, die allein ihrem Schmerz und dem Unglück ihrer Familie gerecht werden kann.

Es ist oft davon die Rede, den Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen werde zu wenig Anteilnahme zuteil. Wie paßt zu dieser Klage, daß Sabine Kraemer seit dem 20. Januar 1977 vom sogenannten öffentlichen Interesse gejagt wird? Es darf nicht photographiert werden seit Beginn der Hauptverhandlung. Doch Sabine Kraemer wird photographiert. und das Photo wird auch gedruckt. Die Anteilnahme braucht ein Photo, damit sie Sabine Kraemer besser jagen kann.

Spuren werden erörtert in der vergangenen Woche. Sie lassen Schlüsse zu, zwingen aber nicht zu Schlüssen. Die Speichelanhaftung an einer Zigarettenkippe beispielsweise könnte von Ferenc Sos, doch auch von einem Drittel der Bundesbürger stammen.

Am Freitag letzter Woche nimmt Ferenc Sos einmal Stellung. Bei der Untersuchung seiner Hände habe er nicht abwehrend oder beunruhigt reagiert. Er habe einfach keine Lust mehr gehabt, so lange wie das dauerte.

Wenn Ferenc Sos unschuldig ist, hat seine Verteidigung vor diesem Gericht jede ihre zustehende Chance. Sollte Ferenc Sos schuldig oder mitschuldig sein, so muß er gerade dieses Gericht fürchten.

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