AIDS Nicht selten wild
Ende Mai, an einem Dienstag, ging die Biologie-Studentin Elly Raab _(Name von der Redaktion geändert. ) , wie schon öfter, zum Blutspenden ins Münchner Gesundheitsamt an der Dachauer Straße. Sie nahm 38 Mark und ein Pfund Kaffee als Vergütung in Empfang, verabschiedete sich von ihrer in München wohnenden Mutter und reiste unbeschwert zurück an ihren Studienort.
Elf Tage später saß die Blutspenderin in einer geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt München-Haar, wurde Tag und Nacht von Videokameras beobachtet, von Schwestern und Therapeuten bedrängt und von einem Nervenarzt mit Gummihandschuhen auf angeschwollene Lymphknoten abgetastet.
Das Blut der Studentin war, wie alle Spenden, routinegemäß mit drei verschiedenen Testverfahren auf Aids untersucht worden - Ergebnis: positiv. Schon zwei Tage nach der Spende schrieb der Leiter der Münchner Gesundheitsbehörde, Dr. med. Norbert Kathke, einen Vierzeilenbrief an die Heimatadresse der Studentin, es habe sich »ein Befund ergeben, den ich mit Ihnen persönlich besprechen muß«.
Die Mutter alarmierte ihre Tochter und vereinbarte mit dem Behördenleiter einen Besuchstermin: Bei dem Telephonat erwähnte sie auch, daß ihre Tochter mit einem Afrikaner befreundet sei. Kathke: »Dann ist ja alles klar.«
Wenige Tage später fand sich Elly Raab in der Münchner Behörde ein. Mediziner Kathke eröffnete ihr den bestürzenden Befund und erkundigte sich nach dem Namen des Freundes. Später notierte die Studentin in einem Gedächtnisprotokoll, daß der Behördenchef kritisiert habe, »sich mit einem Afrikaner einzulassen« - man müsse »doch schließlich wissen, daß dort das halbe Land Aids habe und daß solche Männer immer viele Freundinnen hätten«. Sie selber habe entgegnet, daß wohl »jetzt alles keinen Sinn mehr habe und daß sie sich umbringen wolle«.
Nach längerem Drängen des Behördenchefs brachte Elly Raab auch den vor dem Haus wartenden Freund zu Kathke. Der Arzt forschte den Afrikaner aus, ob er homosexuell oder drogenabhängig sei und wie er sein Studium finanziere. Weil ihm die Antworten nicht ausreichten, äußerte der Gesundheitschef laut Gedächtnisprotokoll der Studentin die Vermutung, daß der Kommilitone dann wohl »auf den Strich gehe«.
Wegen der Suizid-Andeutung brachte Kathke die Studentin schließlich noch zur Nervenärztin ein paar Türen weiter. Am Tag darauf durchsuchten zwei Polizisten die Wohnung und brachten Elly Raab mit Blaulicht zur Wache. Der diensthabende Polizeihauptkommissar erkundigte sich, ob sie mit dem Freund geschlafen habe, erklärte das Fehlen eines Hausdurchsuchungsbefehls mit »Gefahr im Verzug« und erwiderte auf die Beschwerde der Studentin, sie sei von den Beamten festgehalten worden: »Die Polizisten hätten sonst schießen müssen.«
Nach einer Stunde Wartezeit wurde Elly Raab schließlich mit einem Krankenwagen des Malteser-Hilfsdienstes in die Nervenheilanstalt Haar gebracht. Nachdem sie notgedrungen unterschrieben hatte, sie sei freiwillig gekommen, wurde sie nach zwei Tagen entlassen.
Weil sich der Fall einerseits so eindrucksvoll auf die »Bild«-Schlagzeile »Aidskranke 2 Tage in Haar eingesperrt« verkürzen ließ und andererseits so ungewöhnlich ausführlich und akribisch protokolliert war, entfachte er amtliche und öffentliche Proteste.
Münchens Polizeichef Roland Koller und Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl veranlaßten eine Untersuchung der Vorgänge, Oberbürgermeister Georg Kronawitter nahm sich der Sache an. Der Landtag wird sich in Kürze damit beschäftigen. SPD-Stadtrat Gerd Baumann verlangte ein Disziplinarverfahren gegen Kathke. Die Betroffene erstattete über ihren Anwalt Peter Wackerbauer eine Strafanzeige wegen Nötigung und Freiheitsberaubung.
Nach Ansicht des Behördenleiters Kathke ist jedoch alles mit rechten Dingen zugegangen. Nach Paragraph 31 des Bundesseuchengesetzes müsse schon bei einem Krankheitsverdacht die »Ansteckungsquelle« ermittelt und deshalb bei einem Aids-positiven Test nach Sexualpartnern gefragt werden.
Selbstmordabsichten, vor allem wenn sie in Amtsräumen der Gesundheitsbehörde geäußert werden, führten zu Maßnahmen nach dem Unterbringungsgesetz - die an einem Wochenende, wie hier, auch ohne gerichtliche Entscheidung eine sofortige vorläufige Unterbringung rechtfertigen. Kathke: »Bei Aids-Positiven ist die Suizidalität immerhin 50mal höher als normal.«
Und die Benachrichtigung der Polizei über den Verdacht einer Aids-Infektion ist vor polizeilichen Zwangsmaßnahmen angeblich auch Rechtens. Laut Kathke gibt es dazu eine »klare Dienstanweisung an die Gesundheitsbehörden«, die auch gerechtfertigt sei: »Nicht selten werden solche Personen wild und schlagen um sich.«
Allerdings haben es die Münchner Beamten im Fall Elly Raab an Einfühlsamkeit fehlen lassen und Regeln der Behutsamkeit mißachtet, wie sie etwa im jüngst veröffentlichten Bericht der Bonner Aids-Enquete-Kommission formuliert sind. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH), die höchste einschlägige Instanz im Freistaat, hat in einem Beschluß festgelegt, »die Belastung des Betroffenen möglichst gering zu halten«. Es sei »unerläßlich, daß das Testergebnis im Rahmen eines umfassenden ärztlichen Beratungsgesprächs bekanntgegeben« werde. »Personen des Vertrauens« seien hinzuzuziehen, »fachgerechte ärztliche, psychologische oder sonstige Behandlung und Betreuung« seien einzuleiten.
Dabei ist der bayrische Gerichtshof längst auf die harte bayrische Linie der Aids-Bekämpfung eingeschwenkt. »Bereits ein schwacher Verdacht«, ja »schon die Annahme« eines Ansteckungsverdachts rechtfertigt nach VGH-Ansicht behördliche Maßnahmen wie einen Zwangstest. Denn stets handele es sich um »eine weit vorgeschobene gesundheitsbehördliche Ermittlung«, um »der Weiterverbreitung der Aids-Erkrankung vorzubeugen«.
In diesem Fall ging es um einen ehemaligen Drogenabhängigen, der seit Jahren clean ist und sich zwischenzeitlich freiwillig einem Aids-Test - negativ - unterzogen hatte.
Während die Vorinstanz, das Verwaltungsgericht München, das Begehren der Gesundheitsbehörden auf erneute Zwangstestung zurückwies, weil das Gericht zweifelte, »ob allein die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe jemanden zum seuchenrechtlichen Störer macht«, fand der VGH »keine stichhaltigen Anhaltspunkte« für eine »nicht hinnehmbare Härte«.
Der VGH berief sich bei seinem Beschluß allerdings allein auf Regelungen des Bundesseuchengesetzes, während er der von Innenstaatssekretär Peter Gauweiler (CSU) so vehement durchgedrückten bayrischen Aids-»Bekanntmachung« keine »rechtliche Verbindlichkeit« zusprechen mochte.
Die Behandlung der Biologiestudentin Elly Raab und die sich verhärtende Rechtsprechung in Bayern haben die Aids-Diskussion von neuem angefacht. Der Epidemiologe Knut M. Wittkowski vom Institut für Medizinische Biometrie der Tübinger Universität, dessen Chef
Klaus Dietz als Gutachter für das Bundesgesundheitsministerium tätig ist, wirft dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof »erhebliche methodische Fehler« vor.
Das Gericht habe in seinem Beschluß über den Zwangstest bei dem ehemaligen Drogenabhängigen bestimmte fachspezifische Begriffe verwechselt und notwendige Überlegungen aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsberechnung außer acht gelassen. Bis heute nämlich gibt es falsch-positive und falsch-negative HIV-Testergebnisse. Je nachdem, ob die Testperson einer Risikogruppe zugehört oder nicht, ist es mehr oder weniger wahrscheinlich, ob das Testergebnis tatsächlich stimmt.
Für Aids-Tests ist eine Genauigkeit von 99 Prozent vorgeschrieben und bei den aufwendigeren Testverfahren inzwischen in der Praxis nahezu erreicht. 100 Prozent lassen sich nicht erreichen, weil in den Labors Schlampereien vorkommen, die sogenannte Serokonversion bei Frischinfizierten noch nicht stattgefunden hat und weil die für den Test maßgebenden Antikörper bei Schwerstkranken allmählich verschwinden.
Würde eine völlig Aids-freie Bundesrepublik einem Massentest unterzogen, so wären wegen der nicht gänzlich ausrottbaren Testungenauigkeit von den rund 60 Millionen Einwohnern gut eine halbe Million positiv - natürlich falsch-positiv. Doch die Betroffenen würden in eine unnötige Todesangst gestürzt.
»Diese ganze Problematik«, sagt Wittkowski, sei »noch nicht zu den Politikern vorgedrungen«. Während die Bonner Enquete-Kommission vorerst nur »einen eher vorsichtigen, in jedem Falle aber bedachtsamen Umgang mit dem Test« empfiehlt, gibt es in den USA bereits Kampagnen: »The best test is no test.«
Für Wittkowski ist beispielsweise »das Screening bei Blutspendern das Unsinnigste, was man sich vorstellen kann«. Er empfiehlt, positive Blutspenden »einfach wegzuschmeißen und auf ein paar Mark Einnahmen lieber zu verzichten«.
Der Münchner Medizinalbeamte Kathke hingegen, der letztes Jahr aus 81 154 Blutspenden fünf Positive herausgefischt hat, will entschieden an der bayrischen Testmethode festhalten, weiterhin die Betroffenen benachrichtigen und nach ihren Kontaktpersonen befragen: »Die würden mich doch anzeigen, wenn eines Tages auch ihre Ehepartner und ihre Kinder angesteckt sind.«
Solch eher übertriebene Vorsicht paßt ins bayrische Aids-Abschreckungsprogramm. Letzte Woche gab das Münchner Innenministerium die Broschüre »Aids - Was Reisende wissen sollten« heraus. Darin wird auch vor einer Gefahr der Virusübertragung beim Zungenkuß gewarnt. Ein Sprecher der Aids-Hilfe: »Panikmache.«
Tatsächlich ist weltweit kein einziger Fall belegt, bei dem es zur HIV-Übertragung per Zungenkuß kam.
Name von der Redaktion geändert.