REFORMEN Nichts anschärfen
Noch kurz vor Mitternacht war Rudolf Scharping im Dienste seines Vorsitzenden unterwegs. In der Bar des Hannoveraner Maritim-Hotels, in dem sich die SPD-Spitze zum Parteitag einquartiert hatte, spürte er Oskar Lafontaine in einer gemütlichen Lederecke beim Bier auf. »Oskar, ich hab' das klargezogen«, meldete Scharping stolz, »jetzt wissen alle, daß es für uns bei 49 Prozent bleibt.«
Scharping und Lafontaine hielten es für angebracht, im Bonner Steuer- und Rentenstreit ihre Haltung nochmals zu verdeutlichen. Die Regierung hatte sich in übermäßigem Optimismus gewiegt, daß eine umfassende Steuerreform zu ihren Bedingungen zustande kommen werde - mit einem Spitzensteuersatz, der noch unter den von Lafontaine angebotenen 49 Prozent liege. 49 ist aber 49, lautet die Botschaft der SPD.
FDP-Parteichef Wolfgang Gerhardt läßt sich seine Zuversicht dennoch nicht rauben. Er freut sich vorsorglich auf eine mögliche »Einigung noch vor Weihnachten«. Für die Liberalen findet er plötzlich eine völlig neue Rolle im Parteiensystem: Sie würden »Brückenbauer« für die großen Parteien sein, auf die es bei den stagnierenden Reformen nun einmal ankommt.
»Schon dieser Woche«, hofft auch CDU-Unterhändler Hans-Peter Repnik, könne die erhoffte Einigung mit der SPD erzielt werden: zuerst eine Vereinbarung über die Senkung der Lohnnebenkosten, dann Arbeitsgruppen für die Details der Steuerreform.
Am vergangenen Donnerstag abend hatten sich Finanzminister Theo Waigel, FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms und sein Unionskollege Wolfgang Schäuble in dessen Büro zu einem vertraulichen Gespräch mit Scharping und dem SPD-Finanzexperten Hans Eichel getroffen. Am Wochenende wollten die Koalitionspartner weiter über ihr Vorgehen beraten. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt träte im günstigsten Fall am 1. April ein, die Steuerreform Anfang 1999. »Die Signale aus der SPD sind eindeutig«, findet Repnik: »Die wollen fast das gleiche wie wir.«
So ließ sich tatsächlich jener Antrag interpretieren, den die SPD auf ihrem Parteitag verabschiedet hat: Eine »deutliche Absenkung der Steuersätze über den gesamten Tarifverlauf« wird da in Aussicht gestellt - das klingt nach mehr als der bislang von Lafontaine offerierten Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 49 Prozent.
Einen Kompromiß, wenn es irgend geht, strebt Schäuble an. Der Reform-Antreiber der Koalition sieht nach wie vor die Chance, »daß bei Renten und Steuern gemeinsam etwas zu bewegen ist«. Eventuelle Widerstände von seiten der FDP und der CSU glaubt der CDU/CSU-Fraktionschef »niederbügeln« zu können.
Allerdings gibt es bei der SPD Grenzen der Gemeinsamkeit. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder bekräftigte nach dem Hannoveraner Parteitag, nur bei der Rente halte er »einen schnellen Kompromiß für wahrscheinlich«, in Sachen Steuerreform sei das »viel schwieriger«.
Die Grundlinie gab Lafontaine in Hannover vor. Er erneuerte sein Angebot, den Spitzensteuersatz von 53 auf 49 Prozent zu senken, und wiederholte seine Bedingungen: Die Facharbeiter und Pendler müßten verschont, die Einkommensschwachen entlastet werden. Intern äußert sich der SPD-Chef, der in seiner Parteitagsrede bewußt jede persönliche Attacke auf Kanzler Helmut Kohl gemieden hatte ("Ich wollte nichts anschärfen"), skeptisch über einen möglichen Kompromiß: »Der Dicke kriegt für eine Einigung mit uns seinen Laden nicht mehr zusammen.«
Beim Koalitionspartner FDP sträuben sich noch immer viele, die versprochene Nettoentlastung der Steuerzahler auf eine zweite Stufe der Reform zu verschieben. Niemand werde der Regierung diesen Stufenplan abnehmen, glaubt der Altvordere Otto Graf Lambsdorff: »Ihr Vertrauenskonto bei der Wählerschaft hat die deutsche Politik längst aufgebraucht.«
Um Einfluß auf die SPD zu nehmen, umwarben Abgesandte der Union sogar die Grünen. Für die ist ein Spitzensteuersatz von 45 Prozent seit langem akzeptabel. Bei den Fraktionssprechern Kerstin Müller und Joschka Fischer und der Finanzexpertin Christine Scheel sprach Repnik selbst vor, Haushaltsexperte Oswald Metzger wurde von Finanzminister Theo Waigel und Fraktionschef Schäuble ins Gebet genommen. Die Botschaft war stets die gleiche: »Macht doch endlich Druck auf die SPD.«
Dabei waren sich Regierung und SPD schon einmal ziemlich nah: SPD-Verhandlungsführer Henning Voscherau stand im Sommer kurz davor, das Angebot der Union - Spitzensteuersatz 45 Prozent, Nettoentlastung sieben Milliarden Mark - anzunehmen.
Damals habe auch der endlose Streit über Mehrwertsteuerpunkte und Steuerschlupflöcher für den allseits beklagten Stillstand in der Republik gesorgt, sagt der Unionsunterhändler Repnik: »Den einen Tag hat Waigel dies verkündet, am nächsten Tag kam vom bayerischen Finanzminister Huber das Gegenteil.« Nun aber liege eine Liste zum Stopfen der Steuerschlupflöcher mit einem Umfang von 30 Milliarden Mark vor: »In zwei, drei Sitzungen kann man das hinbekommen«, glaubt Repnik.
Ein Kompromiß nur für die Rente kommt für den CDU-Unterhändler allerdings nicht in Frage: »Entweder wir lösen Rente und Steuer im Paket, oder es geht gar nichts.«