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S-BAHN Nichts drin

aus DER SPIEGEL 27/1966

Die Arbeiter wollten mehr Lohn. Der

Direktor lehnte ab. Die Arbeiter drohten mit Streik. Der Direktor gab nach. Und dann erhöhte er die Preise.

Nach der Eskalation modernen Klassenkampfes, mit der Westdeutschlands Sozialpartner am Bestand der Mark zehren, verfuhren jetzt erstmals auch Ostdeutschlands Sozialisten - in West-Berlin: Die S-Bahn, von der DDR betrieben, wird vom 1. Juli an um einen Groschen teurer. Es ist die erste Preiserhöhung seit einem Vierteljahrhundert.

Als die Sieger 1945 Berlin aufteilten, verfügten die Westmächte die Einheit im Verkehr: Sie überließen das Betriebsrecht für die S(Stadt)-Bahn der sowjetzonalen Reichsbahn. Seither arbeiten auf den West-Strecken der Ost-Stadtbahn West-Berliner Eisenbahner. Sie sind Angestellte der Ost-Berliner Reichsbahndirektion, die sie auch entlohnt.

Im kapitalistischen Berlin fuhr die sozialistische S-Bahn von Anfang an ins Defizit. Jährlich muß die Ost-Reichsbahn etliche West-Millionen freimachen, damit diesseits der Sektorengrenze die Räder weiterrollen können. Dennoch blieb der Fahrpreis mit 20 Pfennig auf Propaganda- und Vorkriegsniveau stehen. Die S-Bahn unterbot damit die U-Bahn- und Bus-Tarife des West-Berliner Senats um mehr als die Hälfte.

Doch der ökonomische Anreiz bewirkte keine Mengenkonjunktur. Selbst in ihrer Nachkriegs-Glanzzeit beförderte die S-Bahn nur 500 000 West-Berliner täglich (Gesamtberliner Vorkriegsspitze: zwei Millionen Fahrgäste); nach dem Mauerbau aber und einem Boykott-Aufruf der West-BerlinerGewerkschaften sank die Tagesquote auf 30 000 Fahrgäste.

Für die Bilanzsorgen der Ost-Bahndirektoren zeigten die West-Eisenbahner indessen kein Verständnis. Schon 1949, nach der Währungsreform, muckten sie erstmals auf. Die Reichsbahn entschloß sich zu einem finanziell schmerzlichen Zugeständnis: Sie füllte fortan ihrem bislang mit Ost-Mark entlohnten West-Berliner Personal die Gehaltstüten zu 60 Prozent mit West-Mark.

Und 1964 mußten die Reichsbahn-Direktoren ihren West-Arbeitern abermals entgegenkommen, um nicht die letzten 5000 Fahrkartenknipser, Gleisbauer und S-Bahn-Fahrer zu verlieren, die den Lockungen der besser zahlenden West-Berliner Industrie widerstanden hatten: Sie zahlten nur noch West-Mark und gewährten 20 Prozent Zulage.

Aber noch immer lag das durchschnittliche Monatseinkommen der West-Berliner Eisenbahner rund 20 Prozent unter der Besoldung westdeutscher Bundesbahner. Unzufrieden meldeten die zumeist in DDR-Gewerkschaften organisierten West-S-Bahner weitere Lohnforderungen an.

Die Reichsbahndirektion, von einer Kündigungswelle ihrer West-Bahner ohnedies beunruhigt, drehte zum drittenmal bei.

Doch da laut DDR-Chef Walter Ulbricht niemand »aus einer Schüssel mehr essen kann als drin ist«, schuf sie für einen Lohn-Nachschlag zunächst die Voraussetzungen: Diese Woche erhöht die S-Bahn in West-Berlin den Fahrpreis auf 30 Pfennig.

Sobald der Mehrerlös fließt, sollen die Lohntüten der S-Bahner aufgefüllt werden - im Westen. Bei der Stadt -Bahn Ost bleiben die Fahrkarten billig und die Löhne niedrig.

Berliner S-Bahnhof: Nach der Teilung vereint

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