ABERGLAUBE Nichts gesehen
An diesem Tag arbeitete niemand im Sägewerk von Taxicaringa, rund 90 Kilometer oder sechs Autostunden südlich von Durango, obwohl genug Holz zu schneiden war. Auch der Schulunterricht für die Kinder fiel aus, und die kleine Kirche blieb leer.
Die Mehrheit der Menschen zog es vor, zu Hause zu bleiben - so zumindest erzählen sie. Sie hatten Angst und wollten nicht mit ansehen, was eine Gruppe
betrunkener und mit Pistolen bewaffneter Indianer am frühen Morgen angekündigt hatte: »Heute mittag werden wir die Hexer verbrennen!«
Im kleinen Dorfgefängnis mit seinen sechs Zellen saßen nur zwei Häftlinge. Zwei Meter vor dem Eingang brannte seit Tagesanbruch ein Holzhaufen aus Pinienscheiten, welche die Indianer erst in der Nacht frisch geschnitten hatten - »grünes Holz«.
Auch auf dem Friedhof, auf dem jedes Grab von einer kleinen Holzhütte abgedeckt ist, »um die Geister der Toten vor der Kälte zu schützen«, loderte seit Morgengrauen ein Stapel grünes Holz.
Der Indianer Florentino Diaz hatte die ganze Nacht hindurch zusammen mit seinen Stammesbrüdern berauschenden Mescal getrunken. Denn an diesem Tag, dem 19. Dezember, nur knapp zwei Wochen vor Ablauf seiner einjährigen Amtszeit, mußte der 55jährige seine »schrecklichste« Aufgabe als Gemeindechef, Richter und »geistiger Führer« erledigen.
Einige Dörfler waren auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Begonnen hatte das Sterben mit Fieberanfällen, dann magerten die Erkrankten stark ab, ihre Haut verfärbte sich zu wächsernem Gelb, schließlich starben sie, so etwa das Mädchen Petra Montiel.
Immer wieder hatte sie gezetert, Matilde Diaz habe sie verhext - die Schwester des angesehenen Gemeindechefs.
Nur drei Tage nach Petras Tod starb Celestino Padilla. Seine Familie, eine der reichsten im Dorf, machte ebenfalls Matilde Diaz als Hexe dafür verantwortlich, dazu noch den örtlichen »curandero«, den Medizinmann Alejandro Barraza.
Anfang Dezember erkrankte schließlich noch eine Cousine Celestinos. Da gab es für die mächtige Familie keine Zweifel mehr: Schuld waren die »brujos«, Hexe und Hexer: Matilde Diaz und Alejandro Barraza.
Auf einer Ratsversammlung entschieden die Männer, der Hexerei müsse ein Ende gemacht, die beiden Verdächtigen müßten getötet werden: zuerst gehenkt, anschließend auf grünem Holz verbrannt.
Florentino Diaz setzte die Hinrichtung der beiden auf elf Uhr an. Gemeinsam mit seinem Sohn und einigen anderen fesselte er die Gefangenen, dann warfen sie zwei Stricke über den Balken einer Zellentür und erdrosselten sie langsam.
Als sie die beiden tot wähnten, warfen sie die Körper auf den Scheiterhaufen vor dem Gefängnis. »Ungefähr um die Mittagszeit hörten wir plötzlich entsetzliche Schreie«, berichtet ein Angestellter des Sägewerks.
Sie kamen von Barraza, der »sich in den Flammen krümmte«, wie Florentino Diaz später vor der Polizei von Durango erklärte. Barraza versuchte verzweifelt, den Flammen zu entkommen, wurde aber von den Indianern mit Holzstöcken immer wieder in das Feuer zurückgeschoben.
Schließlich wurden die beiden Körper aus der Glut genommen und auf einem Lastwagen zum Friedhof gebracht.
Dort stand ein noch größerer Scheiterhaufen, auf den die Männer Matildes und Alejandros Leichname warfen. Am Nachmittag kehrte die Gruppe in ihre Häuser zurück, und anderntags ging das Leben in der Sierra wieder seinen gewohnten Gang - bis die Polizei kam und den Gemeindechef festnahm.
Irgend jemand hatte die Behörden informiert. »Der schaurige Vorgang erschütterte die Gesellschaft von Durango«, kommentierte die Lokalzeitung »Norte«, »nie hätten wir es für möglich gehalten, daß sich solche Dinge noch im 20. Jahrhundert ereignen.«
In anderen Teilen Mexikos arbeiten angebliche Hexer und Zauberer allerdings offen und sind gefürchtet, da sie nach eigenem Bekunden Satan repräsentieren oder den gefallenen Erzengel zumindest ihren guten Freund nennen.
Andere Hexen der Folklore, wie die legendenumwobenen »Tlahuelpuchi«, verwandeln sich im Volksglauben nächtens in Rabengeier oder Eulen und trinken das Blut von Kindern. Niemand weiß, wie sich in der Vorstellungswelt jener Menschen indianische Mythen und katholische Heilslehre zu einem unentwirrbaren synkretistischen Gemisch verbinden.
Obschon die Fabelgestalten mithin Schrecken verbreiten, ist bislang kein Fall von Hexentötung oder -verbrennung bekanntgeworden. Die Ereignisse in Taxicaringa scheinen einmalig und daher um so rätselhafter.
Der Chef des Büros für Indianerfragen in Durango, ein pensionierter General und, wie er sagt, »intimer Freund« des Stammes der Tepehuanes, findet nur eine sehr profane Erklärung: Es müsse ein persönlicher Racheakt gewesen sein.
»Die Tepehuanes sind sehr friedliche Menschen«, versichert er, »wir hatten nie Probleme mit ihnen.« Aber wie die Mehrheit der indianischen Bevölkerung Mexikos lebt auch der 27 000 Menschen starke Stamm weitgehend isoliert von der Moderne. Und wenn er einmal mit den Weißen in Berührung kam, dann »wurden die Indianer schlecht behandelt und betrogen«, klagt der Stammesfreund.
Diese Erfahrungen dürften auch der Grund sein, warum die Bewohner von Taxicaringa zu den Vorkommnissen des 19. Dezember schweigen. Alle, ohne Ausnahme, hielten sich an jenem Tag angeblich nur zu Hause auf oder waren gerade im Nachbardorf.
»Weil ich nichts gesehen habe, fühle ich auch nichts«, behauptet Ascension Diaz, ein Bruder der getöteten Matilde und des Täters Florentino. Ascension zeigt keinerlei Mitgefühl für die Schwester, ebensowenig Florentino, der im Gefängnis von Durango auf seine Aburteilung wartet: 30 Jahre, die Höchststrafe, drohen ihm.
»Was hilft es, traurig zu sein«, sagt der einstige Gemeindevorsteher heute, »meine Schwester ist nicht mehr da, und außerdem ist es richtig, was geschah.« Es sei die einzige Möglichkeit gewesen, die bösen Geister zu vernichten.
Doch manchmal quälen Zweifel den gläubigen Katholiken Florentino: »Es war eine große Sünde, die ich beging. Ich war betrunken, aber ich hoffe auf die Beichte.«