STÜCK-NOTITZ Nichts wird billiger
Westdeutschlands Aktionäre haben
in diesem Jahr durch Kursverluste ein Vermögen von rund zwölf Milliarden Mark eingebüßt. Jetzt erwartet sie ein neuer Schock: In dieser Woche sinken die Börsenkurse von sechs deutschen Star-Unternehmen um die Hälfte.
Die Dresdner Bank zum Beispiel, in der letzten Woche noch mit etwa 360 notiert, wird auf 180 rutschen, die Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) von etwa 400 auf 200.
Aber diesmal ist der Sturz nur optische Täuschung. In Wahrheit stürzt am 17. Oktober 1966 die jahrzehntealte deutsche Börsenpraxis, den Kurswert von Aktien in Prozent ihres-Nennwerts auszudrücken. Künftig soll der Wert als Preis in Mark und Pfennig, bezogen auf eine Aktie im Nominalbetrag von 50 Mark, angegeben werden. Auch die Dividende erscheint dann nicht mehr als Prozentsatz, sondern als der Geldbetrag, der auf jede 50-Mark-Aktie ausgeschüttet wird. Mit der neuen »Stücknotiz« beginnen in dieser Woche
- die BASF;
- die Farbwerke Hoechst;
- die Farbenfabriken Bayer;
- die Dresdner Bank;
- die Deutsche Bank;
- der Siemens-Konzern.
Ernst Matthiensen, Aufsichtsrats -Chef der Dresdner Bank und Vorkämpfer der Stücknotiz: »Für die Aktie ist der Nennwert etwas rein Zufälliges und eine Quelle ständiger Mißverständnisse.« Nennwert und Kurswert einer Aktie stimmen in der Regel allenfalls an dem Tag überein, an dem das Papier neu ausgegeben wird. Danach muß aus der Prozentnotiz immer neu errechnet werden, was etwa eine Aktie über 500 Mark beim Kurs von 325 wirklich kostet (1625 Mark).
Nur auf rechnerischen Umwegen läßt sich ermitteln, wie hoch eine Dividende von beispielsweise zehn Prozent beim Kurs von 250 tatsächlich ist (vier Prozent); nach dem neuen Verfahren sehen Aktionäre auf einen Blick: Sie bekommen fünf Mark für 125 Mark.
Die deutsche Prozentnotiz (Versicherungs- und Bergwerksanteile sowie Investment-Zertifikate wurden bisher schon mit Stückpreisen notiert) war im internationalen Börsengeschäft ein Einzelgänger. In aller Welt werden Aktien mit Preisangaben in der Landeswährung feilgeboten. In New York kostet ein Chrysler-Share etwa 34 Dollar, in London eine Unilever-Aktie 35 Shilling.
In ausländischen Börsensälen spielt auch der Nominalwert keine Rolle: Die Aktien haben häufig nicht einmal Nennwerte. Sie werden zu einem bestimmten Preis ausgegeben und danach nur noch mit ihrem täglichen Marktpreis notiert. Die Dividende wird in Geld ausgedrückt und nicht an einem Nennwert gemessen.
Ernst Matthiensen hatte vor der letzten Bundestagswahl für eine gründliche Reform plädiert, die auch in Westdeutschland nennwertlose Aktien einführen sollte. Aber das neue Aktiengesetz - es trat Anfang dieses Jahres in Kraft - bestimmt weiterhin, daß die Papiere »auf einen Nennbetrag in Deutscher Mark lauten« müssen. Das Gesetz erlaubt lediglich, fortan Aktien mit einem Nennwert von 50 Mark auszugeben; bislang war 100 Mark das kleinste zulässige Stück.
Die sechs Pionierfirmen führten daraufhin 50-Mark-Aktien ein und entschlossen sich, für ihr gesamtes Aktienkapital künftig die Stücknotiz zu wählen. Die Unternehmen mit insgesamt 900 000 Aktionären und 5,14 Milliarden Mark Aktienkapital, das auch an Auslandsbörsen gehandelt wird, wollen die »Anpassung an internationale Usancen« und die »Abkehr vom Prozentdenken« - so der Frankfurter Bankier Albert von Metzler, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Wertpapierbörsen.
Da auch andere Konzerne wie Volkswagen, Hoesch, Metallgesellschaft, Conti Gummi und Dyckerhoff Zement die Stücknotiz übernehmen wollen, erklärte sich das Bundeswirtschaftsministerium bereit, die neue Methode bis 1968 für alle vorzuschreiben.
Die Bayerische Staatsbank freute 'sich bereits auf einen Vorteil, den die Bar-Ankündigung der Dividende Deutschlands Unternehmern bringen könnte: In Zukunft gebe es keine »optisch hohen Dividendensätze« mehr, an denen die Gewerkschaften oft ihre Lohnforderungen maßen. Großbank-Aktionäre erhalten künftig nicht 16 Prozent, sondern acht Mark, Anteilseigner von Hoechst oder der BASF nicht provozierende 20 Prozent, sondern zehn Mark.
Die niedrigeren Zahlen der neuen Kurs-Optik können bei Aktienkäufern freilich zunächst auch Verwirrung stiften. Darüber tröstete sich die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz: »Kaufen werden nur die Dummen, bis sie merken, daß nichts billiger geworden ist.«
Kursnotiz an der Hamburger Börse
»Kaufen werden nur die Dummen«