ADENAUER Nie vergeben
Brigadier John Ashworth Barraclough, nach dreißig Jahren Kriegs- und Kolonialdienst in Mesopotamien, Palästina, Syrien, Ägypten, Indien und im Libanon schließlich Landpfleger der britischen Majestät in der nördlichen Hälfte der ehemals preußischen Rheinprovinz, zeigte sich geradezu galant. Er stand vom Schreibtisch auf, kam seinem zivilen deutschen Gast, den er zum Rapport beordert hatte, zwei, drei Schritte entgegen und gab ihm sogar die Hand; mit freundlicher Geste wies er auf den Stuhl vor dem Schreibtisch: »Take a seat, Mister Adenauer!«
Aber Dr. h. c. Konrad Adenauer, von 1917 bis 1933 und seit dem 16. März 1945 abermals Oberbürgermeister zu Köln am Rhein, überschätzte die Jovialität des Wüstenkriegers.
Das Resultat: Brigadier Barraclough brach das Gespräch, das er mit soviel Leutseligkeit begonnen hatte, schon nach einer halben Stunde brüsk ab: »The conference is finished.«
Und Adenauer stand zwei Tage später wiederum zum Befehlsempfang angetreten, diesmal vor dem Stab des britischen Besatzer-Detachements 808, das unter dem Kommando des in Düsseldorf residierenden Statthalters Barraclough den Regierungsbezirk Köln observierte. Stehend mußte der deutsche Oberbürgermeister zunächst anhören, alsdann per Unterschrift quittieren, was der britische General mit genau einem Dutzend, von eins bis zwölf durchnumerierten Sentenzen verfügt hatte.
Die Ziffer 4 dieser Order lautete: »Nach meiner Ansicht haben Sie Ihre Pflicht gegenüber der Bevölkerung nicht erfüllt.«
Folgte Ziffer 5: »Sie werden daher heute aus Ihrem Amt als Oberbürgermeister von Köln entlassen.«
Hinzu kamen unter den Ziffern 6, 10 und 11 die Sanktionen: »Sie werden Köln so bald wie möglich verlassen ... Sie werden weder direkt noch indirekt irgendeiner wie auch immer gearteten politischen Tätigkeit nachgehen. Wenn Sie die in diesem Schreiben enthaltenen Anweisungen in irgendeiner Hinsicht nicht befolgen, wird Ihnen durch das Militärgericht der Prozeß gemacht werden.«
Das Verdikt, hernach zwecks Bewährung ausgesetzt, trug das Datum des 6. Oktober 1945. Aber heute noch, da Konrad Adenauer sein Mißvergnügen über die Angelsachsen unverhohlen zur Schau trägt und englische Repräsentanten lieber nicht im Ratskollegium der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sehen würde, wollen die Auguren wissen, diese milde Art von Anglophobie des rheinischen Kanzlers gehe direkt auf eben jene schnöde Epistel des königlich-britischen Troupiers Barraclough zurück.
Um so neugieriger sind nicht zuletzt die Engländer, herauszufinden, welche Motive ihren General damals wirklich bewogen haben, den Kölner Oberbürgermeister zu feuern, und zwar unter derart rigorosen Bedingungen, daß Adenauer beinahe noch nicht einmal mehr hätte Bundeskanzler werden können.
Barraclough selber, mittlerweile Sir John und Präsident der »Birmingham Engineering and Allied Employers' Assoc.«, schweigt. Dem Londoner Wochenblatt »Sunday Express« sagte er Mitte vergangenen Monats, es sei nicht an der Zeit, den deutschen Kanzler »in Verlegenheit zu bringen«; die Regierung in London habe ihn gebeten, darüber nicht zu sprechen. Aber nach dem Tode Dr. Adenauers werde er die »ganze Geschichte« erzählen.
Doch gibt es deutsche Bundesbürger, Augen- und Ohrenzeugen, der Nachkriegsregentschaft Adenauers im Amt des Kölner Oberbürgermeisters, Kenner seiner damaligen intimsten Absichten. Und die »ganze Geschichte« dieser Zeitgenossen offenbart unverwechselbar Adenauersche Züge.
Konrad Adenauer, von den Besatzern nach Köln geholt, entwarf sogleich ein Kölner Großprojekt, das er in den sieben Monaten seiner zweiten Oberbürgermeisterperiode, wenn am Ende auch ohne Erfolg, so doch mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit immer wieder durchzudrücken versuchte: Der Landkreis Köln - mit dem Braunkohlenbecken um Frechen sowie dem Obst- und Gemüsereichtum zwischen der Stadt Köln und dem Städtchen Brühl (siehe Graphik) - sollte in den Stadtkreis Köln eingemeindet werden.
Deutsche Oberbürgermeister schlechthin haben derlei Expansionspläne zu allen Zeiten verfolgt. Grund: Die räumliche und zugleich verwaltungspolitische Ausdehnung der Großstadt schafft Platz für den erwünschten Zuzug neuer Arbeitsbürger und bringt neben generellem wirtschaftlichem Gewinn vor allem steuerliche Vorteile mit sich.
Denn die Großstadt spart den Anteil der Gewerbesteuer, den sie den vorher außerhalb der Stadtgrenze liegenden Wohngemeinden ihrer Angestellten und Arbeiter zahlen mußte, und kassiert zudem ungeteilt die Gewerbesteuer der eingemeindeten Kommunen.
Konrad Adenauer war denn auch schon zu seiner ersten Oberbürgermeisterperiode mit Fleiß bemüht, seiner Rheinmetropole ein kurkölnisches Randdorf nach dem anderen einzuverleiben. Aber zu Weimars Zeiten schützten Verfassung und Gemeindeordnung die kleinen Nachbarkommunen vor dem willkürlichen Zugriff der mächtigen Großstadt.
Eingemeindet werden konnte immer nur das Dorf, das dem Verlust seiner verwaltungsrechtlichen Hoheit ausdrücklich zustimmte.
Adenauer lockte daher vor 1933, um die Stadt Köln zu arrondieren, mit mancherlei Verheißungen, wie dem billigeren Anschluß der Eingemeindeten an das städtische Versorgungsnetz oder dem Bau von Straßen, Schulen und Kinderhorten. Oft genug verschlugen solche Köder nichts.
Nach 1945 dagegen waren die Schranken althergebrachten Verfassungs- und Gemeinderechts außer Betrieb gesetzt. Es galt nur der Befehl des Besatzers. Ein Federstrich reichte hin, um Preußen von der Landkarte zu streichen - und, so wähnte Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer, den Landkreis Köln in den Stadtkreis Köln einzusacken.
Adenauer ging systematisch zu Werke. Der frühere Bürgermeister von Uerdingen, Dr. Wilhelm Warsch, später Regierungspräsident von Köln, sollte in der Stellung eines städtischen Beigeordneten als Eingemeindungskommissar fungieren - eine Aufgabe, die laut Adenauer »Jahre erfordern« werde.
Den Eingemeindungsfahrplan diktierte der Oberbürgermeister auf zehn Schreibmaschinenseiten. Mit diesem Memorandum ging er zu den Besatzungsherren, unverdrossen von Instanz zu Instanz, zuerst zu den Amerikanern, die Köln erobert hatten, später zu den Briten bis hinauf zu Brigadier Barraclough nach Düsseldorf.
Der alliierte Bescheid hieß von Tür zu Tür immer wieder: später vielleicht.
Aber Adenauer hatte Eile; sein Groß-Köln-Projekt konnte, wenn überhaupt, nur verwirklicht werden, solange das verwaltungsrechtliche Interregnum währte. Wann und wo er auf einen mehr oder weniger kompetenten Besatzer traf, schlug er das Thema Eingemeindung an
Unterdessen sperrte Trümmerschutt Immer noch die Straßen Kölns. Brigadier Barraclough kam aus Düsseldorf, inspizierte die Nachbarstadt und war ungehalten. Konrad Adenauer pries die Vorzüge seines Eingemeindungsplans. Das war Anfang August 1945.
Acht Wochen später reiste Barraclough wieder in Köln an. Britische Offiziere, die mit feldgängigen Jeeps im Kölner Straßenschutt steckengeblieben waren, hatten Beschwerde geführt.
Verbindlichen Tons bezeugte der britische General dem Kölner Oberbürgermeister gleichwohl, er habe volles Verständnis für die Schwierigkeiten der Stadt; allerdings, in Düsseldorf seien die Straßen schon fast ganz sauber.
Adenauer: »Ich bin überzeugt, daß alles zu unserer und Ihrer vollsten Zufriedenheit geregelt wird.«
Dem General war die Auskunft etwas zu vage. Seine Stimme hob sich zu dienstlicher Präzision: So viel Schutt verursache doch Krankheiten. Und er müsse darauf bestehen, daß nun mit Nachdruck für drei Dinge gesorgt werde: für die Volkshygiene, die Ernährung und die Unterkunft der Bürger.
Adenauer: Die Fragen der Ernährung und Unterbringung könnten am besten gelöst werden, wenn die Militärregierung nun endlich die Eingemeindung des Landkreises in die Stadt befehlen würde.
Barraclough: »Aber zuerst diese drei Dinge: öffentliche Gesundheit, Ernährung, Unterkunft. Sofort, jetzt, jetzt, jetzt!«
Adenauer begriff nicht, wie dem General zumute war. Um solche Einzelheiten, sagte er, kümmerten sich sehr tüchtige Beigeordnete, aber solange der Landkreis nicht eingemeindet sei, blieben die Probleme Ernährung und Unterbringung schwierig.
Barraclough, entschlossen, Schluß zu machen: »Ich kann nicht einsehen, Mister Adenauer, daß Ihr Eingemeindungsplan für die Lösung der drei wichtigsten Probleme von Belang sein soll.«
Adenauer schickte sich an, die Details seines Eingemeindungsplans noch einmal auszubreiten.
Brigadier Barraclough fuhr dazwischen: »Unser Gespräch ist beendet.«
Zwei Tage später antwortete der geschaßte Kölner Oberbürgermeister im Kölner Hauptquartier der Briten auf die Frage, ob er gegen seinen Rausschmiß noch etwas vorzubringen wünsche, einsilbig: »Nein.«
Brigadier a.D. Sir John Barraclough
sagt heute: »Ich weiß, daß er mir das nie vergeben hat.«
Kölner Oberbürgermeister Adenauer (1945): »Pflicht nicht erfüllt«
Adenauer-Entlasser Barraclough (1945)
»Jetzt, jetzt, jetzt«