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Artikel 3 / 79

»Niemand kommt hier raus«

aus DER SPIEGEL 6/1979

Wir halten auf einer großen Bahnstation. Auf dem Gebäude des Bahnhofs prangt eine Aufschrift, der Name des Ortes: Auschwitz. Jemand erklärt, es sei Oswiecim. Irgend so ein kleines Nest. Wir denken nicht länger darüber nach.

Plötzlich werden die Türen unseres Waggons aufgerissen. Irgend jemand draußen schreit entsetzlich: »Alle raus! Los, verfluchte Banditen.«

Unsere Begleiter helfen uns auf ihre Art, aus dem Waggon auszusteigen. Sie schlagen uns mit den Karabinerkolben auf den Rücken. Einer nach dem anderen springen wir aus dem hohen Waggon, direkt auf die SS-Männer zu, die ein Spalier bilden; das zieht sich in Richtung eines hohen Zaunes hin, der ein großes Gebäude umgibt. Unter dem entsetzlichen Gebrüll der SS-Männer stürzen wir, geschlagen und gestoßen, wie eine Herde verrückt gewordener Schafe in das offene Tor hinein.

Auf dem Platz vor dem Gebäude wurde wieder ein schwer passierbares

© Alle Rechte bei S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt/Main.

Spalier gebildet, das sich diesmal nicht aus SS-Männern zusammensetzte, sondern aus finsteren großen Kerlen, die sonderbarerweise mit etwas angezogen sind, was täuschend an gestreifte Pyjamas erinnert. Jeder von ihnen hält einen großen Stock in der Hand und winkt damit unermüdlich nach rechts und nach links. Ich kriege etwas an der Hand ab, aber der Mantel, den ich in der Hand hielt, minderte zum Glück ein wenig den Schlag.

Zum Glück dauerte das Schlagen nicht länger, da man begann, uns in Reihen aufzustellen. Die »Gestreiften« stellten sich in einer Reihe zusammen mit uns auf.

Wir bemerkten, daß auf ihren Hosen und auf ihren Jacken schwarze oder grüne Winkel aufgenäht waren und darunter die Nummern von 1 bis 30. Die Nummer 1 hatte ein Breitschultriger und Dunkelhäutiger mit dem Gesicht eines Räubers. Jetzt gab er mit einer scharfen lauten Stimme den Befehl: »Das Ganze stillgestanden! Mützen ab! Augen rechts!«

Plötzlich begab er sich mit elastischem Schritt zu der Gruppe von SS-Männern, die etwas abseits stand. In kurzer Entfernung vor ihnen nahm er Haltung an, schlug laut die Absätze zusammen, nahm mit einer blitzartigen Bewegung die Mütze ab und kauderwelschte etwas schnell auf deutsch, was wir natürlich nicht verstanden.

Einer der SS-Männer antwortete ihm etwas langsam durch die Zähne, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, wobei er auf ein benachbartes Gebäude zeigte. Sobald er geendet hatte, schlug der »Gestreifte« erneut die Hacken zusammen, setzte seine blaue Mütze wieder auf und begab sich an seine vorherige Stelle zurück. Erneut fiel ein Kommando, dann lief der Rest der »Gestreiften« auseinander und stellte uns nach einer Weile in Reihen in der Nähe des Gebäudes auf.

Durch eine schmale Tür ließ man uns in Gruppen hinein, indem man uns zu den Treppen, die in die Keller führten, schickte. Nachdem wir weitere Räume des Kellers passiert hatten, wurden wir sämtlicher persönlicher Sachen beraubt, einschließlich der Behaarung, welche man uns vor einem Bad in eisigem Wasser vom Kopf und von allen möglichen Stellen entfernte.

Anstelle der abgenommenen Sachen erhielt jeder von uns ein Pappschildchen mit einer Nummer darauf, die von diesem Zeitpunkt an den Namen zu ersetzen hatte. Ich bekam die Nummer 290. So wurden wir auf eine einfache Weise zu Nummern.

Nach einiger Zeit gab man uns die Kleidungsstücke zurück und trieb uns auf den Hof, wo wir dann in Fünferreihen aufgestellt wurden. Zwei von uns, die gut deutsch konnten, wurden zu Dolmetschern gemacht. Ihre erste Aufgabe war es, uns mitzuteilen, daß wir von diesem Zeitpunkt an sogenannte Schutzhäftlinge geworden waren, die zum lebenslänglichen Aufenthalt im Konzentrationslager Auschwitz verurteilt waren.

Und was das ist, ein Konzentrationslager, sollten wir bald erfahren!

Wir wußten bereits, daß jene in der gestreiften Kleidung ebenfalls Häftlinge waren und aus dem Lager Sachsenhausen hierher gekommen waren. Desto schwerer war für uns zu verstehen, warum sie uns so sehr mißhandelten, sogar dann, wenn keine SS-Männer in der Nähe waren. Oftmals waren sie schlimmer als die SS-Männer.

Auf Schritt und Tritt hatten wir sie im Genick, und ihre Hände, die mit Stöcken bewaffnet waren, teilten tüchtige Schläge aus, wo sie nur treffen konnten. Deswegen hatte mancher von uns ein angeschlagenes Auge oder Platzwunden am Kopf.

Man belehrte uns, daß wir die »Gestreiften« mit den Worten »Herr Kapo« anzusprechen hatten. Wenn man einen Kapo ansprach, mußte man Haltung annehmen, vorschriftsmäßig »Mütze ab« machen -- obwohl keiner von uns eine Kopfbedeckung besaß -- und danach eine stereotype Formel vor sich hinleiern, etwa: »Nummer 290 meldet sich gehorsamst.«

Erst gegen Abend ließ man uns ein wenig Luft. Nur vor dem Betreten des Gebäudes bekamen wir noch eine ordentliche Taufe. Auf den Befehl des Kapos Nr. 1 mußten wir alle -- und wir waren über 700 -- in die schmale Tür des Blocks hineingehen, um dann die als Schlafstelle vorgesehenen Räume zu betreten. Durch Erfahrung belehrt, wußten wir, daß der Befehl sofort auszuführen war und warfen uns daher alle zur Tür.

Dort war aber ein unbeschreibliches Gewühl. Einer drängte den anderen, einer preßte den anderen hinein, würgte, zerquetschte, trampelte nieder ... Und von hinten bestürmten uns schon wutentbrannt die Kapos, sie schlugen und traten und droschen uns mit Stangen auf die Köpfe, auf die Rücken, auf die Hände. Geschrei, Röcheln, Flüche.

Endlich das rettende Tor. Noch ein furchtbarer Pfropfen direkt im Tor. Plötzlich, wie aus der Schleuder geschossen, fliege ich längs durch einen kurzen Korridor, um mit dem Fuß an der Treppe hängenzubleiben. Jeder fällt auf den anderen, und von irgendwoher hageln wieder Schläge auf uns nieder. Wir springen also hoch und laufen die Treppe nach oben.

Ich kann nicht mehr atmen, mache aber doch noch einen Sprung und bin auf der Stufe. Ein riesiger Kapo steht quer in der Mitte des Korridors mit weit gespreizten Beinen. Er schlägt mal mit der linken, mal mit der rechten Hand. Im Mund spüre ich den Geschmack des Blutes und -- was soll ich es verheimlichen -- der Tränen. Ich laufe mit letzter Kraft und stürme in den Saal, der sich am Ende des Korridors befindet. Halb von Sinnen falle ich auf den Boden, der mit Stroh belegt ist.

Nach einer Weile füllt sieh der ganze Raum mit den nebeneinander liegenden,« niedergemachten, abgehetzten, geschlagenen und erniedrigten, erschrockenen und bis an die Grenze des Möglichen erschöpften Häftlingen.

Bald schon hört man Schritte beschlagener Stiefel, die im Korridor dröhnen. Sie gehen von Saal zu Saal. Nach einer Weile erscheinen auch in unserer Tür Kapo Nr. 1 und der SS-Mann mit der Pfeife zwischen den Zähnen. Jemand schreit: »Achtung«, wir springen schnell hoch.

Das ruhige »Pfeifchen« nimmt langsam seine Pfeife aus dem Mund, flüsternd, mit fast milder Stimme, befiehlt er: »Hinlegen.« Wir legen uns langsam, nicht gleichmäßig hin. Bevor sich die Letzten gelegt haben, ein erneuter Befehl, diesmal aber energischer: »Auf!« Wir springen hoch. Plötzlich schreit er ganz laut: »Hinlegen!« Wir fallen zu Boden. »Auf! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf! ...«

Das Hemd klebt am Körper, der Schweiß fließt über die Augen. »Hinlegen! Auf!« Schon hat man keine Luft mehr. Wir können nicht mehr atmen. Schon lange gibt es kein Stroh mehr auf dem Boden. Dafür gibt es viel Häcksel, überall! In der Nase. Im Hals. In den Augen. In den Staubschwaden hört man nur die unermüdliche Stimme des SS-Mannes: »Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf!« Man sieht nichts mehr, man hört aber zum Glück kein Kommando mehr. Sie sind fortgegangen!

Wir fallen nebeneinander auf den Boden, wo noch vor einer Weile das Stroh lag. Irgend jemand läuft zum Fenster, um es zu öffnen. Den Fenstern gegenüber steht, in geringer Entfernung, die kleine Bude des SS-Wachmannes. »Fenster zu!« brüllt der Deutsche. Da der Mann am Fenster ihn nicht hört, läßt der Deutsche eine Garbe aus seiner Maschinenpistole los, zur Abschreckung. Das hilft. Niemand wagt sich mehr an die Fenster heran.

Es wird dunkel. Aus einer Ecke des Raumes hört man ein laut geflüstertes Gebet. Die anderen fallen ein. Aus dem dunklen Korridor ertönt ein ohrenzerreißender Schrei: »Ruhe da!« Es wird still, so schlafen wir ein. Nur Dziunio Beker wirft sich unruhig hin und her, schlägt machtlos mit der Faust gegen den Boden und würgt, fast erstickend an Tränen, heraus: »Ihr Hurensöhne!«

Es ist bereits der dritte Tag im Lager. Drei Scheibchen Brot, drei Schüsseln Suppe, drei Stückchen Speck, einige blaue Flecken, Dutzende von Tritten, Tausende von Erniedrigungen. Ich bin aber unverletzt und lebe. Und ich will leben.

Gerade heute habe ich zum erstenmal in meinem Leben das Sterben gesehen. Ich habe mir niemals vorgestellt. daß man so lange sterben kann. Vielleicht war aber der Jude äußerst hart. Obwohl er nicht so aussah, jenes alte, abgemagerte und kurzsichtige Männlein. Er lag, gestützt an die Wand des Blocks, in der Hitze der Junisonne. Die Haut seines nackten Schädels war an einigen Stellen geplatzt. Ganze Schwaden von Fliegen klebten an dem mit Sand vermischten Blut.

rief eingefallene Augen in violettschwarzen Rändern wurden von den schweren Lidern zugedeckt. Schwarze. geplatzte Lippen, vor Durst versengt, bewegten sich krampfartig. »Wasser, Wasser«, röchelte er. Die Kapos umstellten ihn in einem engen Kreis. Als sie fortgingen, gab der alte Jude kein Lebenszeichen mehr von sich.

Wir hatten ein äußerst vielseitiges Tagesprogramm. Dafür sorgten schon unsere Kapos und die SS-Männer. Sie überboten sich gegenseitig im Ausdenken immer neuer Folterungen. Man könnte meinen, ganz harmloser. Die ganzen Tage lang machten wir »Sport": Hüpfen, Rollen, Tanzen, Kniebeugen. Wenn es Hüpfen war, so bedeutete es Dutzende von Metern über den Platz und zurück. Wenn Rollen, dann dort, wo der größte Staub war, Tanzen zur Entspannung, damit es lustiger wird.

Das »Pfeifchen« begleitete uns die ganze Zeit. Er stand mit gespreizten Beinen im Schatten eines Baumes und rauchte seine Pfeife oder pfiff eine Opernarie, wenn er die Pfeife weglegte. Manchmal rief er jemanden mit dem Finger herbei. Dann erfolgte ein Soloauftritt.

Er rief den Häftling zu sich. »Was bist du von Beruf?« fragte er harmlos. »Oh, Schüler? Prima!« lobte er. Dann schlug er plötzlich mit der ganzen Wucht auf die Zähne. »Hau ab, du polnischer Dreck.«

Es war seine Idee, eine Art religiöser Schau zu veranstalten. Mühelos suchte er sich einen Juden aus, befahl ihm, ein riesiges Faß zu erklettern und Gebete zu sprechen. Der Jude sang laut und verbeugte sich dabei dem Ritus entsprechend, was den SS-Männern und den Kapos eine unheimliche Freude bereitete. Sie brüllten vor Lachen, wir hatten aber dadurch eine Atempause.

Damit endete die Schau jedoch nicht. Rapportführer Plagge, das war der mit dem Pfeifchen, erinnerte sich daran, daß einer von uns ein Priester war. »Wo ist der Pfarrer?«

Der Priester stellte sich auf das Faß neben den Juden und begann zu beten. Zuerst leise, dann mit einer immer lauteren und sichereren Stimme. Der Spaß hörte auf, lächerlich zu sein, daher setzte man den »Sport« fort.

Jetzt übten wir ohne Atempause. Der Jude und der Priester hüpften in die Richtung des Baumes. Der Kapo Nr. 1, Bruno Brodniewicz, half ihnen, indem er sie immer wieder mit der Stange schlug. Der Lagerführer Mayer ("Püppchen") befahl ihnen, auf den Baum zu klettern, in dessen Schatten Plagge so gerne zu sitzen pflegte.

Sie kletterten ungeschickt hinauf; sobald einer ein wenig höher war, zog ihn der Hund von »Püppchen« herunter. Der Spaß hätte noch länger gedauert, aber zum Glück hatte der Hund bald genug. Man zog den Juden und den Priester vom Baum fort.

Der heutige Tag verspricht besser zu sein. Vielleicht, weil ein Teil der Leute für die Arbeit gebraucht wird. Einige Häftlinge sind mit zwei SS-Männern und Kapos zu den ehemaligen Kasernen gegangen. Angeblich sollen wir alle bald dorthin übersiedeln.

Ich bin bei dem Kommando, das das Gras um das Gebäude herum herauszupft. Kapo Otto ernannte einen der Kameraden, der deutsch kann, zum Vorarbeiter. Er steht neben uns, schaut herum und treibt uns, sobald sich nur einer der Kapos oder der SS-Männer nähert, zur Arbeit an. Wenn man keinen Feind in der Nähe sieht, ruhen wir uns aus.

»Achtung!« warnt uns der Vorarbeiter. So schnell wie möglich ducken wir uns und kriechen jetzt auf allen vieren. Wir zupfen mit den Nägeln die wenigen Grashalme, daß nur der Staub wirbelt. Der Vorarbeiter meldet dem »Pfeifchen": »Kommando drei bei der Arbeit.«

Ich sehe nur seine Beine. Wir bewegen uns weiter. Hier gibt es mehr Gras. Plagge hört auf zu pfeifen ... Er ruft nach dem Vorarbeiter. Ein neuer Befehl. Wir sollen jetzt das Gras herauszupfen, aber ... mit den Zähnen.

Im Mund spüre ich den Geschmack des Grases. In den Zähnen knirscht der Sand, in der Nase habe ich viel Dreck, die Sonne knallt auf den Hinterkopf, das Kreuz schmerzt, der Hals schläft ein. Von weitem hört man Lachen. Eine Gruppe Kapos gibt laut ihrer Bewunderung für die ausgezeichnete Idee des SS-Mannes Ausdruck.

Komisch muß diese Herde von Menschen aussehen, die zu Füßen des guten Hirten weidet. Niemand hat einen anderen mit dem Finger berührt, niemand hat einem den Tritt gegeben, und doch fällt schon einer bewußtlos um. Zum Glück unterbricht der Gong dieses Spiel. Mittagessen.

Nach ein paar Tagen kamen wir in die Kaserne. Nach der Entlausung und dem Bad sowie nach der Abgabe unserer Zivilkleidung erhielten wir die gestreiften Kleidungsstücke und die Wäsche.

Appell. Wir stehen in den Reihen auf einem großen Platz hinter dem Krankenblock. Die Kapos haben Mühe, uns abzuzählen. Die SS-Männer auch. Sie zählen und zählen, kommen aber nicht auf die richtige Zahl. Sie sind wütend. Ihre Wut lassen sie an uns aus.

Wir stehen stramm, einer neben dem anderen, in Abständen auf Armeslänge. Die Hände am Hinterkopf gefaltet. Die Ellbogen soweit wie möglich nach hinten.

Eine Gruppe von SS-Männern nähert sich. Unter ihnen ist der Rapportführer Palitzsch. »Dolmetscher!« skandiert er mit scharfer, durchdringender Stimme. Auf sein Gebrüll hin springt der Häftling Graf Baworowski vor.

Er erklärt, bleich vor Angst, mit zitternder Stimme: »Ein Häftling ist geflüchtet ... Wiejowski ... Es soll sich melden, wer ihm bei der Flucht geholfen hat ...«

Stille. Niemand meldet sich. »Ihr werdet so lange stehen, bis sich der Mann meldet.«

Die SS-Männer gingen fort. Jetzt übt der Kapo Leo Wietschorek, Nr. 30, mit uns. Das ist einer der schlimmsten Banditen, ein breitschultriger Riese mit Händen wie Spaten.

Es wird immer kälter. Wir zittern wie bei einem Malariaanfall. Jemand will austreten. Er darf nicht. Wir pissen in die Hosen. Morgengrauen! Plötzlich zeigt sich die Sonne hinter dem Block. Es wird warm. Die herbeigesehnte Sonne quält immer mehr. Jemand fällt um. Leo springt hinzu. Er bearbeitet ihn mit dem Stock, das hilft aber nicht mehr viel.

Nach einer Weile fällt der zweite, der dritte um. Vom Himmel fließt bereits ein wahres Feuer. Der Schmerz ist in Händen und Füßen. Es ist unmöglich, länger in dieser Hitze zu stehen. Viele simulieren die Ohnmacht. Bevor Leo dazuspringt, darf man sich eine Weile ausruhen. Ich beschließe, das gleiche Kunststück zu versuchen. Ich falle mit dem Gesicht zu Boden. Ich höre bereits, wie der Kies unter den Füßen des Herannahenden knirscht.

Eine Hand schiebt mir etwas unter die Nase. Das ist nicht Leo! Das ist der Kapo des Reviers. Kleine, durchdringliche Äuglein blinzeln mir verständnisvoll zu. Bevor Leo dazukommt, tragen sie mich bereits aufs Revier. In der Stube liegt etwa ein Dutzend auf dem Stroh. Es gibt Kaffee. Der Kapo des Reviers, Bock, gibt mir Pillen. Ich schlucke sie herunter und schlafe sofort ein.

Der »Stehappell« dauerte bis 14 Uhr, angeblich gestand jemand, bei der Flucht behilflich gewesen zu sein. Am nächsten Tag wurden wir in den Block 2 verlegt. Der Blockälteste war ein Deutscher, ein Verbrecher mit dem grünen Winkel und der Nummer 6. Er hieß Bonitz. Sein Stellvertreter war Schlesier, ein Mann namens Jasinski.

Kurz darauf kam nachts ein großer Transport aus dem Gefängnis Pawiak an. Das war der sogenannte erste Warschauer Transport. Für die Mehrzahl von ihnen war es die schlimmste und gleichzeitig letzte Etappe ihres Lebens.

Für die eineinhalbtausend Häftlinge im Lager war ihre Ankunft ein Aufatmen, weil sich die ganze Aufmerksamkeit der SS und der Besatzung auf die Neuen, auf die sogenannten Zugänge, richtete.

Nach der Ankunft des ersten Warschauer Transports kamen wir in die Gewalt des Revierkapos Bock, der einen grünen Winkel trug, also ein gewöhnlicher Krimineller war. Man übertrug ihm die Organisation des Krankenbaus. Sicher war das keine leichte Aufgabe in der damaligen schweren Zeit.

Morgens reinigte ich die provisorische Baracke, dicht hinter dem Revierblock, die eigens für die Aufnahme des Transportes gebaut worden war. In den Haufen von Müll und verschiedenen Abfällen fand ich viel zu essen. Brotscheiben. Kuchen, Zwiebeln, Knoblauch, ein wenig Zucker mit Sand vermischt, ein Glas mit Resten von Schmalz, mit einem Wort: Abfälle. Mein Magen vertrug alles.

Im Lager wurde es während dieser Zeit immer schlimmer und schlimmer. Es war kalt. Aus dem Fenster unserer Stube sah ich einen großen Bereich des Lagers. Der Appellplatz wurde gewalzt. Einige Häftlinge wurden vor eine Walze gespannt.

Barfuß und in dünnen Drillichhosen wateten sie in der durchweichten Erde, wobei sie mühsam die Betonwalze zogen. Angeblich waren es nur Priester und Juden. Der dicke Kapo Krankemann dirigierte diese Gruppe, während er auf den eisernen Griffen der Walze stand. Wenn er absprang, gab es einen Ziehenden weniger: Er lag dann sterbend im Dreck, und man brachte ihn nach dem Appell in den Krankenbau, oft bereits tot.

Etwa Mitte Oktober sahen wir vom Fenster aus die Strafaktion gegen die Häftlinge, die in die Flucht von Wiejowski verwickelt waren. Kapo Bock, mit Watte und Jodflasche in den Händen, ging hinter ihnen her.

Die Schläge fielen auf die nackten Gesäße. Bock rieb die zerschlagenen Gesäßhälften mit Jod ein. Nach dem Appell brachte man die Geschlagenen auf Block 11, von wo sie kurz danach in das Lager Flossenbürg zu schweren Arbeiten geschickt werden sollten. In der Stube blieben nur ein Kamerad und ich. Noch am selben Tag rief uns Bock zu sich und ernannte uns in Gegenwart aller Pfleger zu Hilfspflegern.

Ende November wurden wir beide auf Block 14 des Krankenbaus verlegt, bereits einige Tage später auf den neu errichteten Revierblock Nr. 20. Blockältester wurde Peter Welsch, sein Stellvertreter ein noch ganz junger Mann, Zbigniew Blok, aus dem sehlesischen Transport.

Zuerst wurde ich dem Ambulatorium zugeteilt, wo ich den Kranken Verbände wechselte. Ich hatte vorher niemals damit zu tun. es ging mir also nicht sehr gut von der Hand. Peter erkannte es bald. Ich eignete mich nicht für diese Art Arbeit. Da aber der Blockälteste jemanden brauchte, der den Block sauberhielt, ernannte er mich zum Stubendienst des Pflegeraumes.

Morgens, wenn die Pfleger zu ihren Beschäftigungen gingen, begann ich den Saal zu säubern. Ich verbesserte die meistens oberflächlich gemachten Betten, reinigte dann den Korridor und die Latrinen. Dann mußte ich noch das Essen aus der Lagerküche holen.

Fast täglich war vormittags während der Krankenaufnahme der SS-Lagerarzt Sturmbannführer Popiersch, später Untersturmbannführer Entress, anwesend, immer in Begleitung der Sanitätsdienstgrade Klehr oder Scherpe, die Oberscharführer waren.

Die im Krankenhaus aufgenommenen Kranken mußten die Entlausung und das Bad im Waschraum passieren. Das obere Stockwerk wurde hauptsächlich von den Kranken eingenommen, für die es noch einen Hoffnungsschimmer gab; das Erdgeschoß aber gehörte den Durchfallkranken und den vollkommen Abgezehrten, den Sogenannten Muselmännern, die meistens innerhalb der nächsten Stunden starben.

Mit ihnen beschäftigte sich ein Sonderkommando, die sogenannten Leichenträger, die aus den Trachomkranken bestanden. Die ersten Leichenträger waren Ah Szczesniak und Gienek Obojski. Später kam Teofil Banasiuk dazu, der nach dem Tode von Ah der Kommandokapo wurde.

Die Leichenhalle befand sich im Keller von Block 28, sie verfügte über ein Dutzend hölzerne Kisten, die zum Tragen der Leichen ins Krematorium dienten, sowie ein paar Bahren, auf denen die Toten von den Blocks in die Leichenhalle getragen wurden. Als die Erschießungen begannen, ersetzte man die hölzernen Tragbahren durch solche aus Blech, von denen die Blutspuren leicht abzuwaschen waren.

Zuerst trug man die mit Leichen beladenen Tragbahren auf eigenen Schultern ins Krematorium, was mit der Zeit der Lagerführung unangenehm wurde, weil ein solcher Zug vor den Augen aller Häftlinge mehrere Male das ganze Lager durchqueren mußte. Die SS beschlagnahmte in der Stadt einen normalen Leichenwagen, der nach einer kleinen Umänderung und nach Beseitigung des geschmückten oberen Teils den Häftlingen noch lange diente und unzählige Male die Strecke zwischen dem Krematorium und dem Revier hin- und herfuhr.

Der Herbst kam. Nachmittags regnete und schneite es. Es war eine durchdringende nasse Kälte. Die Kommandos kamen in das Lager zurück. Die Häftlinge, ganz durchnäßt und steif vor Kälte, angezogen lediglich mit dunklen Drillichanzügen, barfuß oder in schweren Holzpantinen, wateten ungleichmäßig durch den Matsch und reagierten überhaupt nicht auf die Schreie der Kapos: Links, links.

Sie stützten sich gegenseitig, die Stärkeren trugen die Bewußtlosen, die Steifgewordenen, die Verstorbenen oder während des Tages Getöteten. Auf dem großen Platz richtete man sich zum Appell aus. Tausende von Häftlingen froren langsam in dem wütenden Schneegestöber ein. Man sah, daß es sich um eine richtige Todesernte handelte.

»Alle Pfleger antreten!« befahl Bock. Der Krankenbau bereitete sich auf die Aufnahme der Kranken vor, die man zu Hunderten erwartete. Peter wies mich dem Pförtner, der die Blocktür hütete, zur Hilfe ein.

Der Appell war beendet, Schon waren sie da. Zuerst waren es die Kräftigsten, welche die anderen, die wirklich sofortige Hilfe benötigten, überholten. Die Tür war geschlossen. Sie stürmten dagegen an. Damit sie die Tür nicht einschlugen, hielten wir sie zu mehreren mit ganzer Kraft zu.

Der kleine Blockälteste stieß uns energisch von der Tür weg, danach stürmte er selbst schlagend und schrei. end in die brodelnde Menge hinein, wir hinter ihm her. Nach einer Weile gab es einigermaßen Ordnung. Das Vorrecht hatten die Schwächsten, solche, die sich kaum auf den Füßen halten konnten, solche, die bereits im Schlamm lagen und manchmal kein Lebenszeichen mehr von sich gaben.

Wir trugen sie auf den Block und legten sie auf den Korridor, einen neben den anderen. Jetzt halfen uns diejenigen, die als erste die Tür des Blocks stürmten. Das war aber eine List. Nachdem sie die Kranken hineingetragen hatten, warfen sie sie irgendwohin und füllten das Ambulatorium vollständig aus, so daß irgendeine Tätigkeit der Ärzte und Pfleger unmöglich war.

Bock wurde wütend. Peter intervenierte noch einmal. Mit Gewalt stießen wir alle aus dem Block. Dort stellten wir sie endlich in eine Schlange, Dutzende von Neuen lagen bereits vor dem Block. Bevor es uns gelang, sie hineinzutragen, fiel bereits die Hälfte der Stehenden ohnmächtig in den Dreck.

Es waren so viele Kranke, daß die Ärzte keine Zeit hatten, sie genau zu untersuchen. Die Leichenträger brachten die Verstorbenen durch eine andere Tür vor den Block, die noch Lebenden trugen wir in den Waschraum. Hier mußten wir jeden entkleiden. Es war schwer, die nassen Lumpen von den bewegungslosen, mit Geschwüren übersäten, mit Kot beschmierten Skeletten zu ziehen.

Kieliszek schrieb dann mit dem Bleistift jedem seine Nummer auf die Brust, die Friseure schoren die behaarten Stellen ab, Kempa desinfizierte diese Stellen mit »Cuprex«, danach legte man sie auf einen Rost vor die Dusche und betropfte sie mit kaltem Wasser, statt sie zu baden.

Jetzt erst durften sie von den Stubendiensten in ihre Stuben gebracht werden. Ein Teil wurde nach oben gebracht, da sie Lungenentzündung hatten, die meisten blieben unten, wo man sie in der Stube der Durchfälle nebeneinander auf Strohsäcke legte, die auf den Bodenbrettern lagen. Hier bekamen sie Kohle oder »Bolus Alba« und spulten es mit Kräutertee oder mit dem »Sommerkaffee« hinunter.

An jenem Abend hatten die Leichenträger eine außergewöhnliche Ernte. Sie hatten die zusätzliche Schwierigkeit, die Nummern zu entziffern, die verwischt oder gar fehlerhaft vorher auf die Brust der Toten geschrieben waren, um sie in das Totenbuch einzuschreiben. Am nächsten Morgen mußte der Appell doch stimmen!

Bald wurde ich offiziell in die Pflegergruppe aufgenommen, nichtsdestoweniger hatte ich die gleichen Aufgaben wie vorher. Zu einem kleinen Plausch ging ich oft in die Leichenhalle. Gienek Obojski hatte von irgendwoher Rohkartoffeln organisiert. Im Keller stand ein Koksöfchen. Auf dem Ofen brieten wir Kartoffelpuffer. Wir saßen damals auf den »Särgen« um das glühende Öfchen herum, die Kartoffelpuffer brutzelten, ihr angenehmer Geruch reizte verlockend die Nase und tötete den widerlichen Gestank des Chlors, mit dem die dort gelagerten Leichen bestreut waren.

Wir waren mit den Leichen bereits so sehr vertraut, daß sie auf uns gar keinen Eindruck machten. Ich spielte oft Mundharmonika, und Ah sang. Es herrschte eine nette Stimmung wie bei einem Pfadfinderfeuer. Wir brauchten keine Angst zu haben, daß uns hier jemand überraschen könnte.

Die Sanitätsdienstgrade und der Lagerarzt kamen nie dorthin, sogar der Blockälteste Peter mochte nicht hineingehen. Alle mieden den Keller. Das war ausschließlich unser Platz. Hier bedrohte uns nichts. Hier fühlten wir uns am freiesten.

Gienek Obojski, ein Warschauer, war als 18jähriger Junge beim Überqueren der ungarischen Grenze von den Deutschen verhaftet worden, bereits am 14. Juni 1940 war er dann in Auschwitz. Athletisch gebaut, von außergewöhnlicher Kraft, zog er die Aufmerksamkeit von Palitzsch auf sich, der ihn zum Leichenträger gemacht hat. Teofil Banasiuk war klein, unscheinbar, aber mit der verborgenen Kraft eines Ochsen.

Ich war mit Obojski befreundet. Ich lernte ihn während der gemeinsamen Expeditionen zu den Leichen näher kennen. Zu den Aufgaben der Leichenträger gehörte unter anderem, daß die Leichen aus den Blocks im Lager noch vor dem Morgenappell fortgeschafft werden sollten.

Da sie sehr viel Arbeit hatten und ich ziemlich wenig, ernannte mich der Blockälteste zu ihrem Gehilfen. Sowohl Obojski als auch Teofil revanchierten sich im Laufe des Tages und halfen mir, die Kübel und die Lebensmittel aus der Küche zu schleppen.

Die Blockältesten waren verpflichtet, jeden Morgen die tatsächliche Anzahl der Menschen auf ihrem Block der Hauptschreibstube mitzuteilen. Davon, wie viele der Blockälteste angab, hing es ab, wie viele Essenportionen jeder einzelne Block während des Tages bekam. Es gab keinen einzigen Block, auf dem während der Nacht nicht einige Häftlinge gestorben waren.

Wenn also die Leichenträger frühzeitig, noch vor dem Appell, die Leichen abgeholt hatten, war der Blockälteste gezwungen, den tatsächlichen Stand des Blocks anzugeben, das heißt abzüglich der Verstorbenen, die bereits zum Bestand der Leichen halle gehörten. Die Blockältesten zogen es vor, daß die Leichen erst nach dem Appell abgeholt wurden; sie konnten sie nämlich dann als Lebendige angeben und kassierten ihre Tagesrationen.

Solche Machenschaften konnten die Blockältesten so lange fortführen, bis Obojski und Teofil bemerkten, daß auf manchen Blocks jede Nacht plötzlich immer mehr Leichen auftauchten. Blockälteste mordeten die Häftlinge -- nicht aus Freude am Töten, aus Sadismus oder Entartung, sondern aus Gewinnsucht.

Im Lager war es noch ganz dunkel. Der Frost mußte stark gewesen sein, weil der Schnee laut unter den Füßen knirschte. Obojski ging als erster, ich hinter ihm. Zwischen uns war die Trage mit zwei schmutzigen Decken. Der Block von Miki befand sich dem Revier am nächsten, also gingen wir zuerst dorthin.

Aus dem sparsam beleuchteten Korridor kamen Dampfschwaden. Um uns wehte ein warmer, nasser Gestank. Dazu ein Stampfen von Hunderten von Holzpantinen, Stöhnen, Flüche, ein unbeschreiblicher Lärm, und über alldem die laute Stimme des Blockältesten.

Miki Galas, ein deutscher krimineller Häftling (Nr. 11), einer der 30 Banditen, die von Palitzsch aus Sachsenhausen geholt worden waren, verabreichte gerade einem Häftling die »Strafe«. Der Häftling lag auf dem Hocker und wurde von zwei kräftig gebauten Stubendiensten festgehalten. Auf sein vorgestrecktes, dürres Gesäß fielen Schläge, die der Blockälteste mit geübter Hand abmaß. Mit jedem Schlag schrie der mißhandelte Häftling lauter: »Ich bin es nicht! Ich habe es nicht gestohlen!«

Miki gab ihm mit der linken Hand einen gewaltigen Schlag: »Hier hast du's, du Dieb. Ich werde dich lehren. das Brot der Kameraden zu stehlen. Du wirst nie wieder stehlen. Du wirst auch nicht mehr essen.« Und um die letzten Worte zu dokumentieren, trat er den Liegenden in den Bauch.

»Na, ihr Jenseitsagenten«, wandte er sieh in seinem schlechten Polnisch an uns und klopfte dabei Obojski auf die breiten Schultern.

»Holt doch diese Durchfälle«, zeigte er in den Waschraum, wo die Stubendienste eilig die verlauste Wäsche von den Leichen zerrten. Gienek merkte, daß ein Teil der Leichen bereits ausgezogen war, und sagte zu den Stubendiensten: »Selbstverständlich keine Nummern aufgeschrieben. Vergessen ...«, fügte er boshaft hinzu.

Obojski kannte die Methoden mancher Stubendienste. Manchmal fanden sie ein gutes Kleidungsstück, das sie später gegen Essen an schlechtgekleidete Häftlinge verkauften.

»Der Schreiber hat die Nummern der Toten«, rechtfertigten sich die Stubendienste im Chor.

Obojski ging in das Zimmer des Blockältesten, wo sich die Schreibstube des Blocks befand. Er kam nach einer Weile wieder heraus und hielt einen Zettel mit den Nummern der verstorbenen Häftlinge in der Hand. Jetzt begann er, der Reihe nach mit dem Stift die Nummern auf die Brust der Toten zu schreiben, wobei er die Nummern aus der Liste vorlas.

Auf der trockenen Haut wollte der Tintenstift nicht mehr haften. Ohne nachzudenken, um nur keine Zeit zu verlieren, spuckte er, verschmierte die Spucke mit dem Finger und zog nochmals mit dem Tintenstift nach. Die

* Mit den SS-Führern (v. l.): Seidler, Palitzsch, Aumeier, Schwarz, Grabner.

vierstelligen Nummern waren jetzt gut sichtbar. Es machte ja gar nichts, daß der Tote im Leben eine andere Nummer gehabt hatte.

Die Hauptsache war, Namen und Nummern der Verstorbenen wurden aus dem Stand der Lebenden gestrichen und in das Totenbuch eingetragen. Was später sein wird, geht niemanden etwas an. Im Krematorium wird die Asche sowieso miteinander vermischt.

Wir griffen nach Händen und Füßen der Toten und luden sie auf die Tragen, wobei wir sie nebeneinander legten, hier Kopf, da Füße, damit sich das Gewicht gleichmäßig verteilte. Wir deckten die vier Körper mit Decken zu, verschlossen die Riemen, die an den Griffen der Trage befestigt waren, warfen sie über den Nacken, wo sie bequem auflagen, und hoben gleichzeitig die schwere Last.

Obojski tat es ohne jegliche Anstrengung, ich war aber noch nicht so an die Arbeit gewöhnt. Die Knie zitterten, und mir war ganz schwarz vor Augen.

Am schlimmsten war es auf der Treppe, die auf den Hof führte. An der Tür umfing uns wieder der Dampf, und ich tastete im Dunkeln nach den Stufen. Gienek trieb mich an, denn er hielt die ganze Last allein, da er vorn ging.

Dann endlich gingen wir langsam im Gleichschritt, die Trage knarrte und bog sich. Wir kehrten auf dem kürzesten Weg zurück, durch den Hof zwischen dem Block der Strafkompanie und unserem Block, wo sich die Leichenhalle befand.

Der neugierige Posten beleuchtete uns von Zeit zu Zeit die Strecke, indem er das helle Schlaglicht des Scheinwerfers, der oben auf dem Wachturm neben dem Theatergebäude stand, auf uns richtete.

In der Leichenhalle warfen wir die Last mit einer Neigung der Trage auf den Betonboden. Die Körper waren in der Kälte steif geworden, daß es schwer war, die Decken unter ihnen hervorzuziehen. Gienek lüftete ein wenig den Deckel eines Sarges, zog aus seiner Jacke zwei Portionen Brot hervor und legte sie nach unten auf den Boden, wo bereits ein halbes Brot und ein Marmeladenglas lagen, wahrscheinlich die Beute von Ah und Teofil.

Schnell kehrten wir auf den Block von Miki zurück. Es gelang uns, vor dem Appell alle fortzuschaffen. Das Lebensmittellager im Sarg wurde immer üppiger. »Ja, ja, Bruderherz«, erklärte mir Teofil, als wir gemeinsam zum Appell liefen, auf dem Korridor des Blocks, »wir ernähren uns wie die Hyänen von Kadaver ... Bevor wir aber mit dem Rauch fortgehen, fressen wir uns wenigstens satt. Ist es nicht so, Gieniuchna? Krematorium sowieso!«

Es war bereits nach dem Appell, und wir wollten uns gerade an das Abendbrot machen, als die durchdringende Stimme von Bock ertönte:« Obojski! Teofil!«

Die beiden Leichenträger schluckten die letzten Bissen Brot hinunter und liefen zum Ausgang der Stube. Wir wußten alle gut, was das bedeutete. Wenn diese zwei während des Lagerappells aufgerufen wurden, bedeutete es Liquidation. Seit kurzem hatten Exekutionen begonnen, an denen Obojski und Teofil immer teilnahmen.

An diesem Tag braute sich aber etwas Ernsteres zusammen. Bock befahl ihnen, noch einige von uns auszusuchen. Ich war natürlich auch in dieser Gruppe. Vor dem Block erwartete uns ein Blockführer. Er befahl uns, die Särge und Blechtragen auf einem beim Block stehenden Rollwagen zu laden und uns in Richtung des Platzes zu begeben, auf dem der Appell immer noch andauerte.

Wir liefen zum Lagertor, getrieben von dem SS-Mann. Hinter den Drähten der Umzäunung, direkt gegenüher der Wache, befand sich eine kleine Kiesgrube. Auf einem Stück des flachen Geländes standen in zwei Reihen einige Dutzend SS-Männer mit Helmen auf dem Kopf und Karabinern hei Fuß. Man befahl uns, wir sollten etwas abseits genau an die Böschung treten.

Als die Kisten von dem Rollwagen abgeladen worden waren, bekamen wir den Befehl, uns mit dem Rücken zum Graben aufzustellen. Wir standen mit dem Gesicht zu den Reihen der SS-Männer, unter denen ein Offizier drei oder vier für das Exekutionskommando aussuchte.

Der erste Todgeweihte kam, mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Er wurde von einem jungen SS-Mann rücksichtslos vorangeschoben. Der Todgeweihte war barfuß, hatte eine zerrissene Zivilhose an und einen Lumpen, der wahrscheinlich irgendwann sein Hemd gewesen war.

Der SS-Mann stellte ihn mit dem Gesicht zu der herabfallenden Wand der Kiesgrube und entfernte sich. Gegenüber wurde das Exekutionskommando aufgestellt. Links, auf einer Anhöhe, stand eine Gruppe von Offizieren, von denen einer das Urteil vorzulesen begann und der zweite in dem Augenblick, als der erste mit dem Lesen fertig war, das Kommando »Feuer« gab.

Die Salve ertönte und hallte in den Gebäuden um uns wider. Der Todgeweihte fiel in den Sand wie abgesägt. Kleine Steine lösten sich von der Böschung und rollten zu den in Krämpfen zitternden Füßen des Erschossenen. Ein SS-Mann zog die Pistole und gab dem Liegenden den Gnadenschuß.

»Leichenträger!« Gienek und ich stürzten mit der Trage hinunter. Von den SS-Männern angetrieben, legten wir die Leiche auf die Blechtrage und rannten so schnell wie möglich nach oben, wobei wir an dem nächsten Todgeweihten, den man an die Stelle des Vorhergehenden führte, vorbeikamen. Bevor wir unsere Last losgeworden waren, ertönte schon die nächste Salve.

Jetzt lief Teofil mit einem andern hinunter. Inzwischen hoben die Sanitäter, die bis jetzt untätig neben dem Rollwagen standen, die erste Leiche in eine der Kisten, die vom Wagen abgeladen worden waren.

Gleich nach der nächsten Salve rannten wir nach unten. Die Eingeweide traten bei diesem Toten heraus. In Eile sammelten wir sie mit den Händen ein, so warm und dampfend, wie sie noch waren. Als wir nach oben gingen, strömte das Blut von der schräg gestellten Trage. Wir arbeiteten ohne Pause. »Weg mit diesem Dreck!« trieb uns ein SS-Mann an. »Los, schneller, ihr blöden Hunde!«

In den Ohren summte es, das Herz schlug wild. Der süßliche, Übelkeit erregende Geruch des Blutes würgte im Hals. Die Hände und Füße wollten nicht mehr gehorchen, der Körper war fast ohnmächtig vor Müdigkeit. Wie viele denn noch?

Endlich hörten die Schüsse auf. Unter der Begleitung von klackenden Karabinerschlössern schrubbten wir mit Sand die Tragen. Blutige Spuren auf der Erde bestreuten wir mit Schotter. Währenddessen beluden die anderen den Rollwagen. Das Blut tropfte in dünnen Bächen von den Brettern, ergoß sich auf die Plattform, lief über die Räder und bespritzte uns, bevor es im Sand verschwand.

Jetzt befahl man uns, anzutreten und uns umzudrehen. Wieder klackten die Schlösser der Karabiner. Jesus, Maria! Das ist das Ende! Jemand neben mir begann laut zu beten. Lieber Gott, rette mich, betete auch ich. Aber anstelle der erwarteten Schüsse spürten wir die Schläge von Karabinerkolben und Fäusten der SS-Männer. »Abfahrt! Los!«

Obojski und Teofil sprangen zur Deichsel, wir stemmten uns fest gegen die Seiten des Rollwagens. Die Räder des überladenen Wagens gruben sich tief in den Kies. Unter Schlägen,

Schreien und Brüllen der SS-Männer starteten wir fast im Galopp. Im Laufschritt kamen wir zum Krematorium. Das Ausladen dauerte nicht lange. Es dämmerte bereits, als wir ins Lager zurückkehrten. Von weit her, aus der Stadt, kamen zu uns die gleichmäßigen wohltönenden Glockenschläge der Kirche: »Der Engel des Herrn«. An diesem Abend erhielten wir eine Zulage für gute Arbeit.

Im nächsten Heft

Himmlers Besuch in Auschwitz -- Die Vergasungen beginnen

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