»Niemand will der Bluthund sein«
Rußland 1991: Rufe nach Ordnung und harmonischem Miteinander aus allen politischen Richtungen verhallen, als sei die schwerste Krise des russischen Imperiums seit Ende des Ersten Weltkrieges nicht hausgemacht, sondern göttliches Fatum.
Vorwärts zur westlichen Supermarkt-Wirtschaft, zurück zur bolschewistischen Befehls-Ökonomie oder noch weiter zur dörflichen Idylle mit Bastschuhen, Silberbirken und Ikonen - das Volk hat vor lauter unversöhnlichen Heilslehren längst den Überblick und wohl auch die Lust zur Selbsthilfe verloren.
Auch die politischen Flügelmänner des sowjetischen Präsidenten reden mehr vom großen Aufräumen, als daß sie es wirklich in Szene setzen: »Niemand will der 'Bluthund' sein«, vermutet ein liberales Mitglied des russischen Parlaments frei nach dem deutschen Sozialdemokraten Gustav Noske, »weil nach knapp sechs verwirrenden Perestroika-Jahren keiner mehr genau weiß, bei welchem Repressionsgrad die Meuterei innerhalb der Apparate beginnt, und außerhalb die große Gegenwehr.«
»Die Regale leer, die Reihen fest geschlossen«, spottete halblaut ein anderer älterer Deutschland-Kenner am vorletzten Sonnabend auf dem Moskauer Manegeplatz. Dorthin hatten KP-Konservative anläßlich des offiziellen Militär-Feiertages alle Aktivisten für Ruhe und Ordnung befohlen, doch nur ein Drittel der Erwarteten - knapp 100 000 - waren gekommen. »Die Armee muß sich stets an die Spitze des Fortschritts stellen«, hatte der Spötter listig auf sein kleines Plakat gemalt; Unterschrift: »Gerhard von Scharnhorst.«
Am nächsten Tag ließen am selben Ort die russischen Demokraten mehr als 100 000 Demonstranten Gorbatschows Rücktritt fordern. Die Front des Befreiungskrieges zwischen Minsk und Magadan verläuft, trotz der Toten im Baltikum und im Kaukasus, gegenwärtig zwischen Russen und Russen, Präsident und Präsident, Parlament und Parlament - mitten in Moskau. Doch obwohl es dort nicht um Fremdherrschaft, sondern um Selbstbefreiung geht, überbieten sich beide Lager in düsteren Bürgerkriegs-Szenarios: Beide mehren kräftig das Chaos, indem sie ihm zu wehren versprechen.
Als erstem der Kontrahenten dämmerte dies wohl dem Präsidenten im Kreml: Nachdem Rußlands Boris Jelzin zum wiederholten Male den langsameren Perestroika-Troß unter Feuer genommen, Gorbatschow dikatorischer Neigungen verdächtigt und seinen »unverzüglichen Rücktritt« verlangt hatte, schwieg der Angegriffene trotz dünner Haut zunächst. Nur seine Gefolgschaft im Unionsparlament prügelte auf Jelzin als angeblichen »Spalter«, »Verräter« und »ambitiösen Populisten« unisono wie zu Zeiten ein, als solchem Aufputschen der öffentlichen Meinung noch unweigerlich der Schauprozeß folgte.
Der »linke« Volksheld ließ sich alsbald vom Volke kurieren: Auf einer Reise in die hauptstadtnahe Provinz, im Kulturpalast der Motorenbauer von Jaroslawl, gab Jelzin auf die Frage, ob zur »Stabilisierung der Situation im Lande« nicht vielleicht außer dem Präsidenten auch er selbst abtreten müsse, kleinlaut zu: »Eine solche Variante ist möglich.« Vorher freilich wolle er es lieber noch einmal mit »Zusammenarbeit« und einem »Dialog« probieren.
Der letzte Kooperationsversuch war vor einem halben Jahr gescheitert: Gorbatschow rückte abrupt von einem ökonomischen Reformprogramm ab, das die kranke UdSSR-Wirtschaft binnen 500 Tagen aus dem Gröbsten hätte herausführen sollen und auf das sich die volkswirtschaftlichen Weisen beider Präsidenten in einem einmonatigen Konklave auf einer Datscha geeinigt hatten.
Die Zeit, welche den zerstrittenen Reformern zum erneuten Zusammenraufen bliebe, ist knapp bemessen: Am 17. März sollen auf Beschluß des Unionsparlaments alle Sowjetbürger in einem Referendum über die Frage abstimmen, ob sie sich eine »Erhaltung der UdSSR als erneuerte Föderation von gleichberechtigten souveränen Republiken« wünschen - obwohl sich nicht erhalten läßt, was es noch gar nicht gibt.
Separatistisch gestimmte Republiken wie die drei baltischen, aber auch Moldawien, Armenien, Georgien und Aserbaidschan erhielten Befehl aus Moskau, den Volksentscheid verläßlich zu organisieren und ja nicht zu behindern.
Jelzins russisches Parlament hat sich zwar grundsätzlich für den Bestand der Union ausgesprochen, strebt aber zugleich ein Mandat für die direkte Volkswahl des russischen Präsidenten an. Auf einem Extra-Stimmzettel abgefragt, hat dieser Antrag beim russischen Souverän ebenso große Erfolgschancen wie die UdSSR-Gretchenfrage. Damit freilich würde der Kandidat Jelzin, der bislang, wie auch Gorbatschow, lediglich durchs Parlament bestätigt ist, einen erheblichen Legitimitätsvorsprung gegenüber seinem fürs Ganze verantwortlichen Konkurrenten gewinnen.
Eile ist geboten: Jelzin verliert, wie regelmäßige Meinungsumfragen zeigen, an Popularität. Die Russen fangen an, auch ihrem Liebling die Versorgungsmisere anzulasten - und mehr noch die düsteren Zukunftsaussichten: Überall in Rußland fehlt es an Saatgut, die nächste Ernte ist schon heute schwer gefährdet, und wegen des verbissenen Devisenkrieges zwischen Unions- und RSFSR-Regierung rutschten russische Importe von Lebensmitteln unter die Hungergrenze ab - bei Getreide auf 17 Prozent, bei Zucker auf 5,7 und bei Pflanzenöl sogar auf nur 1,7 Prozent des Vorjahres.
Rußlands konservative Parlamentarier haben inzwischen die Einberufung eines außerordentlichen Volksdeputierten-Kongresses durchgesetzt, auf dem sie über ein Mißtrauensvotum den Rücktritt des aus der KP-Nomenklatur ausgescherten Matadors erzwingen wollen. Aber 60 Prozent der Abgeordneten stimmten für einen Termin erst nach dem Volksentscheid über Union und Direktwahl des Präsidenten, was Jelzins Chancen bessert.
Gorbatschow, der politische Wellenreiter im Zentrum, warf dem Jelzin-Anhang vorige Woche auf einer Reise nach Belorußland »psychologische Kriegführung« vor und, schlimmer noch, »neobolschewistische Taktiken«.
Doch nach Einschätzung eines seiner Berater will Gorbatschow den Ex-Genossen Jelzin gar nicht loswerden. Weil alles »ins Extrem« strebe, bleibe ihm »gar nichts anderes übrig, als diese Radikalismen gegeneinander auszubalancieren«. Der inzwischen innen- wie außenpolitisch blessierte Chef-Reformator kenne »wie kein anderer den Mechanismus eines Landes mit drei von Totalitarismus geprägten Generationen: Wen die Sowjetmacht haut, den liebt das Volk«.
In der Tat würde Gorbatschow die gewaltsame Amputation eines der beiden Flügel - des rechten nach rumänischem, des linken nach chinesischem Muster - politisch kaum lange überleben. »Wenn plötzlich die Opposition verschwände, wäre das ein schreckliches Elend fürs ganze Land«, urteilt der Historiker Alexej Kiwa, »aber wenn plötzlich die KPdSU verschwände, wäre das Elend noch größer.«
Doch selbst unter russischen Intellektuellen sind solche, die wie Kiwa nach einem »historischen Kompromiß« rufen, äußerst selten. Und solange beide Kräfte im Patt verharren, kann der vereinsamende Vernunftapostel Gorbatschow nur von Reformresultaten der Vergangenheit zehren - wie von der in der vergangenen Woche in Budapest zelebrierten Beerdigung des Warschauer Pakts.
Konservative Militärs in Moskau machen aus ihrer Verärgerung keinen Hehl. »Hätten wir Schewardnadse nur früher gestoppt«, so ein politisierender Oberst, »dann wäre auch das nicht passiert.«
Bei den konservativen Ultras der russischen KP, der Gesellschaft »Einheit - für Leninismus und kommunistische Ideale« unter Führung der Leningrader Neo-Stalinistin Nina Andrejewa, hat sich Gorbatschow trotz aller Wendungen keinen weißen Fuß machen können. »Für uns ist Gorbatschow derjenige, der den Kapitalismus restaurieren will«, bekräftigt die Einheit-Ideologin Tatjana Charbarowa: »Wir brauchen weder ihn noch Jelzin.«
Den Jelzin-Leuten wiederum, die streikwillige Kumpel in Sibirien auf ihrer Seite haben, kommt gar nicht in den Sinn, sich selbst als verzicht- und kompromißbereite Mitte dem Präsidenten anzubieten: Sie heizen, wie der Ex-Korruptionsfahnder Telman Gdljan, ein übers andere Mal Demonstranten-Massen ein, das Haßobjekt Gorbatschow gehöre umgehend »vor Gericht«.
Solange »unsere Demokraten nicht aufhören, mit der Straße zu drohen«, stöhnt ein Gorbatschow-Mitarbeiter, »kann Michail Sergejewitsch mit denen nicht reden: In diesem Punkt sind wirklich sie die Bolschewisten und er der Anti-Bolschewist«.
Das bizarre Argument, das Lenins Strategie verteufelt, stammt vom Obristen Wiktor Alksnis. Der reaktionäre Gorbatschow-Gegner über eine Kampagne der Demokraten gegen die Generalität: »Das ist eine Wiederholung der Taktik der Bolschewiki vor der Revolution.«
Sowjetunion im Jahre 1991: Bolschewik - ein Schimpfwort.
* Am 23. Februar. Spruchband: »Die Armee - Garant der Stabilität imLand«.