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Niemand will die Markenuhr »Rote Fahne«

Wirtschaft und Armee wurden vorsätzlich auf primitivem Stand gehalten, Experten nicht mehr ausgebildet -- das war das China der Kulturrevolution. Die neue Führung hat das Steuer herumgeworfen: Den Lohn bestimmt künftig die Leistung, der Westen liefert das Know-how, um China zur industriellen Großmacht zu entwickeln.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Auf dem Papaoschan, dem Pekinger Heldenfriedhof für Revolutionäre, kamen am 19. September bei einem Staatsbegräbnis über tausend Trauergäste zusammen, die meisten von ihnen hohe Funktionäre, darunter auch Politbüromitglied und Vizepremier Fang li, der vorige Woche durch die Bundesrepublik reiste.

Doch der »eiserne Mann«, der hier nach frühem Krebstod zu Grabe getragen wurde, der »keine Tränen zeigte, sondern kämpfte«, war kein Veteran von Maos Langem Marsch, kein Held der chinesischen Revolution.

Der verstorbene Tschen Tschi war vielmehr Ingenieur des Forschungsinstituts für Eisen und Stahl gewesen und hatte, bevor ihn die Viererbande als »Revisionisten« aus dem Amt jagte, einen neuen feuerfesten Werkstoff entwickelt. Chinas neue Helden kämpfen im Labor.

Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Chinesen -- Fabrikdirektoren und Staatsbeamte, Universitätsprofessoren und Lehrer, hochqualifizierte Wissenschaftler und Ärzte, aber auch so mancher auf Fleiß und Pünktlichkeit versessene Meister im Betrieb

von den Rotgardisten in der Kulturrevolution auf Wandzeitungen angeprangert als »Schwarze Gesellen, die den kapitalistischen Weg gehen«, mit Schandhüten auf dem Kopf durch die Straßen getrieben oder ins Gefängnis geworfen, sind in den letzten Monaten ähnlich wie Tschen von der Partei in allen Ehren rehabilitiert, auf ihre Posten zurückgekehrt oder gar weiter aufgestiegen.

Denn ohne die Fachleute in Staat und Wirtschaft, denen Effizienz und Rentabilität stets wichtiger waren als die weit ausgreifenden Utopien des Großen Vorsitzenden, kann China das vom Mao-Nachfolger Hua Kuo-feng hochgesteckte Ziel für den »Neuen Langen Marsch« nicht erreichen: das volkreichste Land der Erde bis zum Jahr 1985 zur Industrienation, bis zur Jahrtausendwende zur industriellen Großmacht zu entwickeln.

Bis zum Jahr 1985, dem Ziel der ersten Etappe, soll die Landwirtschaft -- so Hua im Februar vor dem Fünften Nationalen Volkskongreß -- jährlich vier bis fünf Prozent mehr ernten: statt 280 Millionen Tonnen Getreide wie im Jahr 1977 rund 400 Millionen Tonnen. Die Industrieproduktion soll sogar jährlich um mehr als zehn Prozent wachsen; 60 Millionen Tonnen Stahl ist das Ziel, im Vorjahr waren es nur 27 Millionen Tonnen.

In den nächsten acht Jahren will der Staat mehr Geld in den Ausbau der Wirtschaft investieren als in den 28 Jahren davor. 120 neue Großprojekte sollen fertiggestellt werden, darunter zehn Eisen- und Stahlwerke, neun Buntmetall-Kombinate, acht Kohlenreviere, zehn zusätzliche Erdöl- und Erdgasfelder erschlossen, 30 große Kraftwerke, darunter auch atombetriebene, sechs neue Eisenbahnlinien und fünf Schwerpunkthäfen gebaut werden.

Neben dem Ausbau der Grundindustrien will Hua im gleichen Zeitraum die Landwirtschaft zu 85 Prozent mechanisieren (heute knapp 30 Prozent), die Leichtindustrie entwickeln, um das Marktangebot zu verbessern, und Milliarden für die Modernisierung der Armee und die Förderung von Schulen, Forschung und Wissenschaft zur Verfügung stellen.

Gigantische Zahlen -- nicht nur für die Pekinger Führung. Die Zweifler, die an den Erfolg der Kraftanstrengung nicht so recht glauben wollen, sitzen auch in den eigenen Reihen.

Denn unvergessen ist in China, daß der große Vorsitzende Mao schon zweimal vergeblich versucht hatte, das rückständige Großreich in das Industriezeitalter zu katapultieren: Der 1958 befohlene »Große Sprung nach vorn« endete in einem wirtschaftlichen Desaster, der 1970 angesagte »Fliegende Sprung nach vorn« konnte Chinas Wirtschaftsnöte noch weniger lösen.

Die Bestandsaufnahme der Pekinger Führung nach dem Tod von Mao und dem Ausschalten der Viererbande vor zwei Jahren ist erschreckend:

* Allein in den Jahren von 1974 bis 1976 hat die falsche, ausschließlich auf Masseneinsätze ausgerichtete Wirtschaftsstrategie den Staat über 62 Milliarden Mark Verluste gekostet.

* Die jahrelange Isolation und der Verzicht auf hochentwickeltes Know-how haben Chinas Industrie auf einem Niveau belassen, das dem der westlichen Industriestaaten vor dem Zweiten Weltkrieg entspricht.

* Chinas Landwirtschaft, durch den Ausfall der Industrie nur unzureichend mechanisiert. kann die Bevölkerung aus eigener Kraft nicht mehr ernähren: Die Erträge stagnieren seit zwei Jahren, die Bevölkerung wächst um jährlich zwei Prozent.

* Durch die voluntaristische Politik nach der Mao-Losung: »Die Massen besitzen unerschöpfliche Schaffenskraft« verzichtete China weitgehend auf die Ausbildung qualifizierter Fachleute; jetzt fehlt eine ganze Generation Facharbeiter und Experten.

* Die vorsätzlich verweigerte Modernisierung der Armee -- »Man kann mit roten Köpfen Panzer brechen« -- hat die Kampfkraft bedrohlich geschwächt, und das in einer Zeit, in der durch den Streit mit dem hochgerüsteten Nachbarn Vietnam eine neue Front entstanden ist. Parteichef Hua, seit dem Frühjahr der Führer, der immer auffälliger darum bemüht ist, die Attitüden des großen Vorsitzenden zu kopieren, hat denn auch keinen Zweifel daran gelassen, worum es bei den Wirtschaftsreformen geht:

Wir sehen die Überwindung unserer wirtschaftlichen und technischen ROckständigkeit als eine Frage auf Leben und Tod für die Nation an ... Wir müssen einen Wettlauf gegen die Zeit unternehmen, um uns wirtschaftlich zu stärken und unsere Verteidigungsfähigkeit in größter Eile zu erhöhen.

»Nun heißt die Aufgabe: Produktion.«

Der eigentliche Mentor des neuen Programms, der schon zweimal gestürzte und wiederaufgestiegene Vize-Premier Teng Hsiao-ping, wurde auf der Nationalen Wissenschaftskonferenz im März sogar noch deutlicher: Die Entwicklungsperiode der Kulturrevolution sei endgültig abgeschlossen, sie habe der politischen Revolution gedient. »Jetzt ist das Land in eine »Neue Entwicklungsperiode« getreten. Nun heißt die Aufgabe: Produktion:«

Es ist eine Produktion. die deutlich anders aussehen wird als zu Maos Zeiten. Vorbei die Ära der Volkshochöfen. als noch in jedem Dorf ein mit primitiven Mitteln selbstgebastelter Meiler Roheisen schmelzen mußte, das dann für die Industrie wertlos war.

Vorbei auch die Zeit der Millionen von Hinterhof-Fabriken, der Hausfrauen-, Schüler- und Rentner-Industrie. »Die aus der alten Zeit übriggebliebenen Kleinproduzenten« -- so empfahl die Pekinger »Volkszeitung« -- sollen den Industriearbeitern in Zukunft »lediglich so zeit- und energieraubende Tätigkeiten wie Schlangestehen für das Frühstück, das Einkaufen von Lebensmitteln, das Waschen und Ausbessern von Kleidung und die Beaufsichtigung von Kindern« abnehmen.

Die ausgebildete Fachkraft, von den linken Puristen um die Mao-Witwe Tschiang Tsching als »Kleine Despoten« oder »Kleine Blutsauger« verteufelt, kommt wieder zu Ehren: Ein nach Verantwortung und Leistung gestaffeltes Lohn- und Prämiensystem verpricht für mehr Können auch mehr Gewinn.

Die Fabrikdirektoren. in der Kulturrevolution als »tönerne Götzen« davongejagt, haben in den Betrieben wieder das Sagen. Die an ihrer Stelle eingesetzten Revolutionskomitees wurden in aller Stille aufgelöst.

Durch Beschluß des ZK werden Direktor und Belegschaft in Zukunft am Gewinn aus der überplanmäßigen Produktion beteiligt der Direktor bekommt dabei drei- bis viermal soviel ausgezahlt wie der einfache Arbeiter.

Dafür muß der Direktor für schlechtes Management. die Belegschaft für mangelnde Qualität geradestehen. Vize-Premier Kang Schi-en schilderte auf einer Sitzung der Staatlichen Wirtschaftskommission voller Stolz, wie »wunderbar wirksam« Lohnkürzungen in zwei Restaurants in Tsinan gewesen seien, die wegen mangelnder Hygiene für mehrere Tage geschlossen wurden. Der Chef bekam nur noch das halbe Gehalt, der Lohn der Belegschaft wurde um 30 Prozent gekappt.

In Wuhan ist sogar eine Fabrik, die Bauteile für Zündholzmaschinen und Nähmaschinen herstellt, wegen mangelnder Qualität ihrer Produkte auf unbestimmte Zeit zugemacht worden. Wirtschaftliche Sanktionen will die Pekinger Führung aber auch in anderer Form verhängen: »Die Wirtschaft muß stärker über Steuern, Preise und Zinsen gelenkt werden«, forderte ein Kollegium Pekinger Wirtschaftswissenschaftler und schlug vor, nur in den Betrieben zu investieren, wo es sich nach den »Gesetzen der Rentabilität und Qualität auch lohnt«.

Das sind nach den wirren Jahren nicht eben viele. Auch Parteichef Hua muß eingestehen: »Niedrige Produktivität, schlechte Qualität der Erzeugnisse. hohe Produktionskosten, niedriger Gewinn und schleppender Geldumsatz

Faktoren, die in den meisten Unternehmen zu finden sind.«

Die Kritik an mangelnder Qualität der chinesischen Industrieware war schon 1973 Premier Tschou En-lai einen hochpolitischen Striptease wert: Als eine kanadische Regierungsdelegation den damals schon schwerkranken Premier besuchte und -- wohl mehr aus Höflichkeit -- die chinesische Industrie lobte, zog Tschou seine Jacke aus und krempelte den Ärmel seines Hemdes herunter: »Sehen Sie, bei jeder Wäsche werden die Ärmel länger, so daß meine Frau sie einkürzen muß. Wie können wir bei solcher Qualität mit ausländischen Erzeugnissen konkurrieren?«

Die schlechte Qualität verunsichert sogar den heimischen Markt, dessen Konsumangebot die zur Hochleistung angespornte Bevölkerung bei Laune halten soll. Nach Berichten in Pekinger Zeitungen sind Tausende von Taschenlampen nicht ausgeliefert worden, weil sie nicht richtig funktionieren, und die chinesische Markenuhr »Rote Fahne«. auch für den Export in die Dritte Welt bestimmt, findet selbst im Einkaufszentrum von Peking nur selten Käufer. Selbständige Betriebe, offener Wettbewerb.

Der Parteiführung bleibt nichts anderes übrig, als Konsumwaren einzuführen, um ihre Reform-Kampagne nicht zu gefährden. Nach Prognosen amerikanischer Wirtschaftler kauft China allein in diesem Jahr für rund 200 Millionen Mark im Westen ein. Uhren in der Schweiz und Fernsehgeräte in Frankreich stehen neben Synthetikstoffen an der Spitze der Warenliste.

Um die Qualität zu verbessern und das Interesse der Produzenten an ihrem Produkt zu heben, hat einer der Hauptfeinde der Ultralinken kürzlich einen aufsehenerregenden Vorschlag gemacht: Sun Jeh-fang. Chinas bekanntester Wirtschaftstheoretiker und bis 1966 Direktor des Instituts für Wirtschaftsforschung an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Sun hatte schon 1957 schweren Streit mit Mao bekommen, weil er den Vorschlag machte, die chinesische Wirtschaft stärker zu dezentralisieren. Er flog aus seinem Amt als Chef-Statistiker. doch nach der Pleite im »Großen Sprung« holte die Partei den Denker mit seinen unbequemen Ideen an das Wirtschaftsinstitut.

In der Kulturrevolution traf den Institutschef der geballte Zorn der Roten Garden. weil er es -- im Gegensatz zu vielen anderen Gemaßregelten -- nicht

* In Esenshamm.

unterlassen konnte, seine abweichenden Gedanken auch weiterhin öffentlich zu verteidigen.

Die Roten Garden warfen ihm auf Wandzeitungen mit der Überschrift »Sex und Völlerei« unter anderem vor, er habe bei einem Besuch in Ungarn 1958 weite Hosen getragen und in einem Klosterrestaurant sein Essen eingenommen. Sun stand auf der Liste der 33 führenden Konterrevolutionäre, angeführt von dem gestürzten Staatspräsidenten Liu Schao-tschi.

Der beschimpfte Wissenschaftler mußte für sieben Jahre ins Gefängnis, von denen er -- so kürzlich in einem Interview mit der jugoslawischen Nachrichtenagentur Tanjug -- seinen Feinden »keinen einzigen dieser Tage vergeben« will.

Heute ist Sun Jeh-fang die graue Eminenz des Parteichefs Hua: der führende Berater im Wirtschaftsstab von Teng und damit einer der wichtigsten Planer für die veränderte Wirtschaftsstrategie.

Sein Konzept, wie die chinesische Wirtschaft in Schwung kommen soll. ist im wesentlichen sein altes: Eigenverantwortung der Betriebe und offener Wettbewerb: »Die Initiative der Unternehmen ist einer der Hauptfaktoren eines beschleunigten Wirtschaftswachstums.« Später könnten die Arbeiter, in Selbstverwaltungseinheiten organisiert, die Betriebe übernehmen und ihre Direktoren selbst wählen -- im Grund das jugoslawische Modell.

Nicht alle in der Pekinger Führung sind zu so weitgehenden Reformen bereit. Die meisten -- und das muß auch Sun zugeben -- »konzentrieren sich auf ein neues Verhältnis zwischen Staat und den Provinzen«. Dabei reden sie einem straffen Zentralismus das Wort.

Denn Maos Experiment, die Autonomie der Provinzen zu stärken und übergreifende Arbeitsteilung abzulehnen, hat erheblich zum wirtschaftlichen Mißerfolg beigetragen. Das Ziel des großen Vorsitzenden, Chinas Teile im Falle eines möglichen Krieges als Selbstversorger zu stärken, hat eher politischen Separatismus als wirtschaftlichen Polyzentrismus gefördert.

Erst kürzlich schilderte ein Pekinger Rundfunk-Kommentar, welch absurden Umweg die per Bahn von einer Provinz in die andere dirigierten Waren nehmen mußten, damit sie selbstherrlichen Provinzgrößen nicht in die Hände fielen. Die Frachtkosten stiegen dadurch bis zu 62 Prozent.

Die Forderung nach verstärkten Weisungsrechten der Zentrale in Peking ist vor allem ein Politikum. Denn trotz enthusiastischer Pressekommentare ("Die unterdrückte sozialistische Initiative der Massen ist wie bei einem Vulkanausbruch voll befreit") konnte sich der neue Kurs in der Provinz vorerst nur mangelhaft durchsetzen.

Zum einen fürchtet die Parteibürokratie. von der favorisierten Wirtschaftsbürokratie entmachtet zu werden. Zum anderen bremst aber auch die gerade in der Provinz schlechter gewordene Versorgungslage die Begeisterung für den neuen Plan.

»Es fehlt an Gemüse, Speiseöl, Eiern, Fleisch.«

Selbst Parteichef Hua mußte Zugeben: »ln einigen Provinzen fehlt es an Gemüse, Speiseöl, Fleisch und Eiern«, und er ließ keinen Zweifel, wen er für die Schuldigen hält: »Unsere Provinzen haben etwa die gleiche Größe und Bevölkerungszahl wie einige europäische Länder, die einst auf die Einfuhr von Agrarprodukten angewiesen waren und seit dem Zweiten Weltkrieg sogar exportierten. Warum können unsere Provinzen nicht das gleiche erreichen?«

Das Grundnahrungsmittel, der Reis, bleibt wegen der schlechten Ernten weiter rationiert. Und trotz aller gegenteiligen Beteuerungen des Staatlichen Büros für Warenpreise ziehen die Marktpreise für Grundnahrungsmittel an. In der Pekinger »Volkszeitung« erschienen Leserbriefe, deren Absender sich über Preissteigerungen bei Linsen und Gurken beschwerten.

Mit der Wiedereröffnung von Bäckereien, die französisches Stangenbrot und Gebäck herstellen, will die Regierung die Konsum-Nachfrage von Reis auf Weizenerzeugnisse umstellen.

Weizen, so hofft China, hat es für diesen Winter genug, wenn auch nur zu einem sehr geringen Teil aus eigener Ernte, die durch eine erneute Dürreperiode kaum über den Erträgen des Vorjahrs (267 Millionen Tonnen) liegt.

So blieb der Pekinger Führung nichts anderes übrig, als wie in jedem Jahr seit 1960 Weizen im Westen einzukaufen. Im Jahr 1977 bezog China aus Kanada, Australien und den USA über elf Millionen Tonnen Weizen. Zwischen sieben bis zehn Millionen Tonnen wird China auch in diesem Winter einführen müssen.

Wie alle Produktionszweige ist auch die Landwirtschaft nach dem jahrelangen Experimentieren mit Masseneinsätzen und primitiver Feldarbeit in die Verantwortung ausgebildeter Fachleute zurückgekehrt. Jüngster Versuch der Agronomen: Neuzüchtung und Mutation von über 100 Arten durch Bestrahlung mit Gammastrahlen und Neutronen. Selbst Seidenraupen sollen im Atom-Labor zu höherer Produktion angeregt werden.

Gleichwohl bleibt höchst ungewiß, ob das angesteuerte Ziel, die jährlichen Ernteerträge in knappen acht Jahren auf 400 Millionen Tonnen zu steigern, erreicht werden kann.

Das gilt, wenngleich nicht im selben Maß, auch für die Industrie-Produktion. Unverkennbar ist, daß Chinas Fabriken die Folgen der Kulturrevolution und der Machtkämpfe bis Maos Tod schon im vorigen Jahr überwunden hatten: Alle wichtigen Sparten konnten erhebliche Zusatzraten melden -- freilich. wie in der chinesischen Wirtschaft seit langem üblich, ohne konkrete Mengenangaben.

So wuchs die Industrieproduktion angeblich insgesamt um 14 Prozent, die Rohölförderung um acht Prozent auf etwa 90 bis 95 Millionen Jahrestonnen. Bei Kohle, die noch zu 67 Prozent den Energiebedarf decken muß, gab es ein Plus von 10,2 Prozent auf etwa 500 Millionen Tonnen im Jahr. Aber: In acht Jahren soll die Förderungsmenge doppelt so hoch sein.

Trotz des neuen Elans bleiben die hauptsächlichen Handicaps der chinesischen Fabriken: ihr total veralteter Maschinenpark -- fast jede zweite Maschine stammt noch aus der Zeit der sowjetischen Hilfe vor 1960 -, die dadurch verursachten hohen Kosten und die mangelnde Produktivität.

Im Kohlenbergbau etwa schafft der chinesische Kumpel rund 200 Tonnen pro Jahr, der amerikanische dagegen 1700 Tonnen. Bei solchem Zahlenvergleich ist zu berücksichtigen, daß der chinesische Arbeiter eine Arbeitswoche von 48 Stunden hat und außer drei freien Tagen zum chinesischen Neujahrsfest keinen Urlaub kennt.

Aus den bisher von Peking genannten Zahlen über die geplanten Investitionen bis 1985 hat der China-Spezialist Rüdiger Machetzki vom Hamburger Institut für Asienkunde errechnet, daß China allein in den vier vorrangigen Sektoren Energiewirtschaft (Elektrizität, Erdöl, Bergbau). Stahlindustrie, Maschinenbau und Transportwesen für 315 bis 375 Miliarden Jüan (384 bis 457 Milliarden Mark) aufbringen muß.

Bei einem angenommenen Wachstum von zehn Prozent der Industrie wäre das mehr als die Hälfte der Gesamtsumme, die China in den acht Jahren für Investitionen aufwenden kann -- wichtige Bereiche wie Landwirtschaft, chemische Industrie und die für eine bessere Versorgung wichtige Leichtindustrie blieben dabei unberücksichtigt.

Fazit: Die Volksrepublik China hat weder das Kapital noch die Produktionskapazitäten, zudem auch nicht eine ausreichende Zahl ausgebildeter Fachkräfte, um das für 1985 gesteckte Ziel »aus eigener Kraft« zu erreichen.

Daraus erklärt sich die plötzliche außenpolitische Öffnung, bei der China bereit ist, bisher geheiligte Grundsätze über Bord zu werfen.

Um den Auftrag für den Bau eines Hüttenwerks in der Provinz Hopei verhandelten in der vorigen Woche Chinesen und Deutsche. Für die erste Ausbaustufe werden 15 bis 18 Milliarden Mark veranschlagt; so stehen mit einem Acht-Milliarden-Kohlegrubenprojekt Aufträge für insgesamt 26 Milliarden Mark für die deutsche Wirtschaft in Aussicht.

In der Provinz Kuangtung entsteht ein chinesisches Werk mit amerikanischer Beteiligung am Management, das Rundfunkgeräte und elektronische Uhren herstellen soll. Die halbamtliche Organisation »National Council for U.S. China Trade« in Washington prüft zur Zeit den Bau weiterer Fabriken für die Herstellung von elektronischen Geräten, Textilien und Konserven. Noch einen Schritt weiter in der supranationalen Zusammenarbeit geht ein Modell, über das vorerst chinesische und amerikanische Geschäftsleute nur geheim verhandeln: Beteiligung amerikanischer Unternehmer an chinesischer Industrieproduktion. Mit Rücksicht auf die Politik sind als Standort Hongkong oder Macau vorgesehen.

Mit Maos Ideen haben solcherlei Geschäfte nichts mehr gemein, sosehr sich die Führer in Peking auch ständig darauf berufen, die Politik des großen Vorsitzenden getreulich fortzuführen.

Auf der Suche nach geeigneten Vorbildern sind Hua und Teng auf Lenin gestoßen: Im Revolutionsjahr 1921 gründete er ein staatliches Konzessionskomitee, das, unter der zeitweiligen Leitung von Trotzki, zahlungskräftigen Kapitalisten im Westen den gewinnbringenden Abbau der russischen Bodenschätze und den Aufbau von Industriebetrieben anbot. Die chinesische Zeitung »Kuang Ming Jih Bao« interpretierte Lenin in seiner Sorge um den Aufbau des Sowjetstaats:

Es ist unmöglich dieses Ziel zu erreichen, ohne Industrieanlagen zu erwerben und Maschinen aus kapitalistischen Ländern einzuführen. Aus diesem Grund, sagte Lenin, sollten wir nicht zögern, den Kapitalisten mehr Gewinne zukommen zu lassen, wenn unsere Wirtschaft dadurch neu belebt werden kann.

Die Kapitalisten, die von der Belebung der chinesischen Wirtschaft am Ende am meisten profitieren, werden wohl die Japaner sein. Schon jetzt teilt sich Japan mit den Amerikanern auch das eben erst angelaufene Geschäft für die Exploration neuer chinesischer Erdölfelder.

Vorletzte Woche meldete eine chinafreundliche Zeitung aus Hongkong, chinesische Ingenieure hätten in 3000 Meter Höhe auf der Hochebene von Chaitamu Penti ein riesiges Erdölfeld, fast so groß wie die Bundesrepublik. entdeckt.

Japan und die Bundesrepublik sind aber auch die von China bevorzugten Partner beim Einkauf modernster Industrieanlagen, wobei den Chinesen meist ein Prototyp genügt. Asienexperten in Hongkong haben bereits den Verdacht geäußert, die Welt müsse sich darauf einrichten, »in ein paar Jahren von einer ähnlichen Welle geschickt und preisgünstig nachgebauter Markenartikel überrollt zu werden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg von dem »Made in Japan"«.

Über ihr langfristig möglicherweise lukrativstes Auslandsgeschäft reden die Chinesen aus politischen Gründen nicht gern, aber die gezielte Auswahl ihrer Anlage-Importe aus dem Westen unterstreicht nur den Trend: Kampf um größere Marktanteile in der Dritten Welt.

Denn im Unterschied zum bisherigen Handel mit den Industrienationen, der in Import und Export eher defizitär verlief, konnte China im gegenseitigen Warenverkehr mit den Entwicklungsländern, besonders in Afrika, schon seit Jahren beträchtliche Gewinne erzielen.

In der Dritten Welt haben die Erzeugnisse der jetzt aufzubauenden chinesischen Industrie auch ungleich bessere Marktchancen als in den USA und Europa -- die jetzt ihren künftigen Konkurrenten finanzieren. Die Militärs setzen Hua knappe Termine.

Ob Parteichef Hua und sein Teng die Mehrheit der 850 Millionen Chinesen auf ihrem riskanten Langmarsch hinter sich haben, läßt sich vorerst nur schwer ausmachen. Daß es Widerstand gegen Chinas neuen Weg gibt, schrieb Anfang Juli die Parteizeitung »Rote Fahne":

Die Kraft, die sich gegen den historischen Strom stellt und versucht, ihn aufzuhalten, existiert jedoch. Es gibt noch Anhänger Lin Piaos und der Viererbande, und sie werden hervorkommen, um Unruhe zu stiften.

Viel wird davon abhängen, wie erfolgreich die heiden Wirtschaftsreformer sind, erfolgreich vor allem in dem Bemühen, den Millionen Chinesen 29 Jahre nach dem kommunistischen Sieg wenigstens einen bescheidenen Teil der großen Errungenschaften auszuzahlen.

Erfolg brauchen die neuen Führer aber auch in der Konfrontation mit dem mächtigen sowjetischen Todfeind: Den neuen Kurs konnten sie erst durchsetzen, als sie die ausdrückliche Billigung der Militärs erhalten hatten.

Denn Chinas Marschälle und Generäle, deren Soldaten von Mao durch die Losung »Hirse und Gewehre genügen« allein auf einen Guerillakrieg getrimmt waren, wissen am besten, wie verwundbar die Chinesische Volksbefreiungsarmee durch moderne Waffen des Gegners ist.

Die Militärs sind es auch vor allem. die den Planern Hua und Teng knappe Termine setzen. Verliert das Pekinger Duo den Kampf gegen die Rückständigkeit und die Zeit, so wird es mit Sicherheit auch die Unterstützung der Militärs verlieren.

Nur so ist verständlich, warum die in den Westen ausgeschwärmten Emissäre besonders ungeduldig auf eine Lockerung der im westlichen Bündnis noch bestehenden Exportkontrollen für strategisch wichtige Güter drängen.

Die junge Chinesen-Generation, die jetzt in die Schulzimmer und Universitätssäle rückt und im Jahr des ersten Etappenziels 1985 bereits in der Produktion mitarbeitet, kennt die Kulturrevolution nur noch vom Hörensagen. Sie befolgt Huas Befehl »Lernen, lernen und nochmals lernen«.

Und Mao, der Visionär vom neuen Menschen in der neuen Gesellschaft, der bleiche, einbalsamierte Leichnam im Mausoleum auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens, an dem tagtäglich Tausende von Chinesen in andächtigem Schweigen vorüberziehen, hat allenfalls noch Alibi-Funktionen zu erfüllen. Geschickt haben Hua und Teng unter ständiger Berufung auf den Großen Vorsitzenden damit begonnen, das übergroße Vorbild zu demontieren.

Kritik wird lauter, nicht an Maos Person, aber an seinen Ideen. In der Parteizeitung wurde Lin Piao verhöhnt, weil er in der Kulturrevolution gesagt hatte, die Theorien Mao Tse-tungs seien der Gipfel dessen, was von der Menschheit erdacht werden könne. Dagegen die neue Führung: »Es gibt kein Genie, das in der Lage ist, die volle Wahrheit des Denkens darzustellen.«

Der Wirtschaftswissenschaftler Hu Tschiao-mu, auch er ein Opfer der Kulturrevolution, heute Präsident der Akademie für Sozialwissenschaften, darf öffentlich erklären: »Es ist ein Irrtum zu glauben, daß der Wille der Gesellschaft, einer Regierung oder »höherer Instanzen« an die Stelle ökonomischer Gesetze treten könne.«

Am liebsten würden die neuen Pekinger Führer den Großen in das Dämmerlicht der Historie abschieben -- Mao als legendäre Kunstfigur.

In Peking stand jetzt in der Person des Schauspielers Tschin Nai-tschien der ehemals große Vorsitzende zum ersten Mal auf der Bühne -- in einem Stück, das Mao als Jungrevolutionär in den dreißiger Jahren beschreibt.

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