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Artikel 27 / 56

RILKE-BRIEFE Nirgends ein Führer

aus DER SPIEGEL 21/1957

Den professionellen Verehrern des Dichters Rainer Maria Rilke ist kürzlich ein Danaer-Geschenk beschert worden: Die Verlage Plon in Paris und Mondadori in Mailand haben gleichzeitig einen bis dahin unbekannten Briefwechsel, die »Mailänder Briefe« *, veröffentlicht, den Rilke mit der Mailänder Herzogin Gallarati Scotti in den Jahren 1921 bis 1926 geführt hat. In einigen dieser Briefe erweist sich Rilke zur Bestürzung seiner Gemeinde als emphatischer Befürworter einer »zeitlich beschränkten Gewaltanwendung und Aufhebung der Freiheit«, als Lobredner des Faschismus und des - von ihm so bezeichneten - »Gewissensschmiedes« Benito Mussolini.

Verstörte Rilke-Freunde dürfen sich freilich mit der Tatsache trösten, daß ihr Dichter seine prekären Empfehlungen des Faschismus nicht auf deutsch zu Papier gebracht hat. Rilke schrieb seine ominösen »Mailänder Briefe« in französischer Sprache. Es gab jedoch auch in den bereits bekannten deutschsprachigen Briefen Rilkes Passagen, die mindestens eine Anfälligkeit des Dichters für Diktatoren hätten vermuten lassen können.

Schon im Jahre 1920 hatte Rilke seinen Unmut über die politische Gegenwart so formuliert: »Wer hilft? Nur Ausnutzer der Trübe auf allen Seiten, nirgends ein Helfer, nirgends ein Führer, nirgends ein großer Überlegener. Ja, solche Epochen mag es schon gegeben haben, voller Untergänge, aber waren sie ähnlich ohne Gestalt? Ohne eine Figur, die das alles um sich zusammenzöge und von sich hinausspannte: so bilden sich Spannungen und Gegenspannungen ohne zentrale Stelle, die sie erst zu Konstellationen machte, zu Ordnungen, wenigstens Ordnungen des Unterganges...«

Dieses politische Credo stand zuerst in den 1939 abgeschlossenen »Gesammelten Briefen« in sechs Bänden; inzwischen ist es in die zweibändige Auswahl der Rilke -Briefe übergegangen, die der Wiesbadener Insel-Verlag 1950 herausbrachte.

Was sich 1920 in solchen Formulierungen der Feder Rilkes entrang, ist genau das Grundkonzept seiner nunmehr aufgetauchten »Mailänder Briefe«.

Vermutlich ohne Kenntnis dieses Fundes konnte Exbotschafter Wilhelm Hausenstein in der Zeitschrift »Die Gegenwart« vor einigen Monaten noch die These wagen: »Merkwürdig..., daß sein (Rilkes) Urteil über politische Dinge, zwar allgemein, in den Grundzügen richtig war. Ein Dichter sieht entscheidende politische Realitäten unter Umständen schärfer als der Politiker selbst: deshalb, weil es das Wesen des Dichters ist, die Wirklichkeit und Wahrheit überhaupt spezifisch genau zu sehen...«

Bereits eine Woche bevor Hausenstein sein Diktum herausgab, hatte aber in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« Max Rychner nach Lektüre der »Lettres Milanaises« den Politiker Rilke weniger hoch eingeschätzt: »Mit dem Sieg des Faschismus in Italien ... begab sich der so unpolitische Dichter auf das Feld - oder Glatteis - der Politik, wie er es noch nie unternommen hatte. Es ist erstaunlich, ja auch verwirrend, wie er die in Italien lebenden, die Diktatur erfahrenden, freiheitlich gesinnten italienischen Freunde von der Richtigkeit und Güte des Faschismus zu überzeugen versucht...«

Renée Lang, jene französische Literaturhistorikerin, die auch die kürzlich in deutscher Sprache erschienene Korrespondenz zwischen Rilke und Andre Gide** kommentiert hat, entdeckte die »Mailänder Briefe« im Rilke-Archiv der Nationalbibliothek in Bern. Jeder Benutzer dieses 1952 begründeten Archivs muß sich schriftlich verpflichten, das ihm dargebotene Material nur in einer Weise auszuwerten, die »des Andenkens an den Dichter würdig ist« (SPIEGEL 13/1956). Zuständig für einschlägige Beanstandungen ist das Eidgenössische Departement des Innern. Es hat die »Lettres Milanaises« protestlos bekannt werden lassen.

Im Berner Rilke-Archiv lernte Renée Lang allerdings die »Lettres Milanaises« lediglich in der Kopie auf einen Mikro-Film kennen, den die Empfängerin der Briefe, die Herzogin Aurelia Gallarati Scotti in Mailand, den Berner Rilke -Schatzhütern zur Verfügung gestellt hatte. Daß Renée Lang an die Originale der Briefe sowie an die Frage-und-Antwort -Schreiben der Herzogin herankam und von Rilkes Briefpartnerin die Publikationserlaubnis erlangte, verdankte sie dem Eingreifen ihrer italienischen Fachkollegin Lavinia Mazzucchetti, einer auf Rilke spezialisierten Literarhistorikerin und langjährigen Freundin der Herzogin Gallarati Scotti.

Lavinia Mazzucchetti hatte nach dem Ableben des Dichters (am 29. Dezember 1926) alsbald darauf hingewirkt, daß in dem Gedächtnis-Heft, mit dem die Mailänder Zeitschrift »Convegno« (zu deutsch etwa: »Begegnung") den toten Rilke ehrte, wenigstens einige Bruchstücke auch Rilkes Briefen an die Herzogin abgedruckt wurden. Damals beschränkte sich die Herzogin aber auf die Auswahl unpolitischer Briefpassagen.

Fortan hütete die »Gräfin« Gallarati Scotti, wie Rilke seine Briefpartnerin nannte, die 22 Sendschreiben von seiner Hand als kostbaren geheimen Besitz. Erst ein Vierteljahrhundert nach Rilkes Tod im Jahre 1926 ließ sich die Herzogin von den Literatur-Expertinnen Lavinia Mazzucchetti und Renée Lang davon überzeugen, daß sie nicht länger das Recht habe, Rilkes Briefe »für sich zu behalten«.

Mit der von Rilke benutzten Anrede »Comtesse« - Rilke sprach die Herzogin in seinen Briefen stets nur als »Gräfin« an - hat es eine besondere Bewandtnis. Rilke war seiner späteren Briefpartnerin erstmals 1912 in einem venetianischen Aristokraten-Salon begegnet. In jenem Salon fand sich zuweilen die blutjunge, an Literatur und Kunst interessierte Contessina Aurelia - genannt Lella - Cittadella-Vigodarzere ein, die spätere Herzogin.

Rilkes »bedeutende Erscheinung«, insbesondere seine Art, bis »in die beiläufigste Gebärde hinein« den Dichter zu bekunden, entsprach dem Idealbild, das die junge Aurelia von einem wahren Poeten hegte. Zumal als »glänzender Causeur« blieb Rilke ihr in Erinnerung. Nach Ende des ersten Weltkrieges kam ihr dann zu Ohren, wie sehr der heimatlos gewordene Dichter unter dem Völkermorden von 1914 bis 1918 gelitten habe. Spontan schrieb sie an Rilke, um ein Wiedersehen zu arrangieren und um ihn mit ihrem Mann bekannt zu machen: 1918 hatte sie den Mailänder Herzog Tommaso Gallarati Scotti geheiratet, einen geachteten Schriftsteller, der freilich als Buchverfasser von seinem Adelstitel keinen Gebrauch machte.

Der kurze Brief, den Lella aus der Mailänder Via Manzoni an Rilke sandte, erreichte den Dichter im Herbst 1921 als neuen Schloßherrn von Muzot-sur-Sierre. Die Unterschrift lautete: »Lella Gallarati Scotti Cittadella«. Rilke entsann sich des Mädchennamens der Absenderin, gab sich indessen keine Rechenschaft darüber, daß aus der Komteß, die mit einem Gallarati Scotti verehelicht und in einem Palast in der Mailänder Via Manzoni daheim war, eine Duchessa, eine Herzogin, geworden sein mußte. Von ihrem Ehemann, dem Herzog, sprach Rilke in der Korrespondenz mit Lella schlicht als von »Monsieur de Gallarati Scotti«.

Kommentiert Renée Lang Rilkes Verhalten: »Man weiß nun aber, daß er für Adelstitel eine gewisse Schwäche hatte, und so würde er der langen Liste seiner blaublütigen Freunde wohl ohne Mißfallen den Namen eines fürstlichen Würdenträgers und Granden von Spanien hinzugefügt haben; doch die junge Herzogin nahm nie Gelegenheit, seinen Irrtum zu berichtigen. Und während Rilke ihr zumeist auf holzfreiem und mit einem Wappen versehenen Papier schrieb, benutzte sie gewöhnliche Bogen ohne heraldisches Emblem.«

Zwischen dem Mailänder Palast und dem Rilke-Schloß Muzot-sur-Sierre gingen lebhafte Briefe hin und her. Rilke berichtete von seiner lyrischen Produktion, die Herzogin half ihm gemeinsam mit Lavinia Mazzucchetti, einen geeigneten Übersetzer des »Cornet« ins Italienische zu finden. Die Briefpartner berichteten sich über den französischen Dichter Paul Valéry, gemeinsam betrauerten sie den plötzlichen Tod der Tragödin Eleonora Duse. Rilke wußte, daß die Duse in einem vom Herzog verfaßten Stück die Hauptrolle gespielt hatte, Rilke seinerseits war mit der Duse 1912 in Venedig bekannt geworden und hatte Briefe mit ihr gewechselt, die übrigens noch nicht ans Licht gekommen sind.

Nun würde bereits solcherlei literarischer Extrakt, von der Herausgeberin Renée Lang in informativen Zwischentexten minutiös erschlossen, allein genügen, die so lange unveröffentlichten »Mailänder Briefe« in den Rang einer unentbehrlichen Rilke-Dokumentation zu erheben. Das Sensationelle, das ihrer Veröffentlichung anhaftet, resultiert jedoch aus der Ausführlichkeit und Konsequenz, mit der Rilke in diesen Briefen offenbar zum ersten Mal das Fazit seiner politischen Gedankengänge offenlegt.

Gewissermaßen unter den Augen des Herzogpaares war 1919 in Mailand die Faschistische Bewegung gegründet worden; in Mailand erschien zudem Mussolinis Kampfzeitung, die »Popolo d' Italia«. Am 28. Oktober 1922 traten 40 000 Schwarzhemden zum »Marsch auf Rom« an, und drei Tage später wurde der »Duce« vom italienischen König mit der Regierungsbildung betraut.

»In Italien«, schrieb Lella damals nach Muzot, »haben wir eine Revolution durchlebt, die, wenn sie auch keine Blutopfer gefordert hat, doch ihr Teil an Traurigem und an Erniedrigung mit sich brachte. Die Gewalt ist etwas Furchtbares, von welcher Seite sie auch kommen mag, und sie stiftet soviel Haß!«

Rilke äußerte sich zunächst nicht zu diesen Vorgängen, er beteuerte nur, für politische Dinge nicht zuständig zu sein. Gleichwohl schrieb er sich in seiner Antwort vom Herzen, was ihm an seinem Vaterland mißfiel: An Deutschland, erläuterte er, habe er stets nur die »geheime Wurzel« geliebt, aber stets mißbilligt, was er politisch dort habe mitansehen müssen. Dagegen hätte er als Franzose oder Italiener »mit Begeisterung Soldat werden können... bis zum höchsten Opfer«.

Auf eine Bemerkung der italienischen Herzogin, daß die Faschisten zwar gewaltige Fahnen wehen ließen, aber gewalttätige und empörende politische Mittel anwendeten, geht Rilke nicht ein - es sei denn durch die Übersendung eines profaschistischen Artikels, den er in einer französischen Literaturzeitschrift gefunden hatte. Unbekümmert um das, was die Herzogin ihm schreibt, läßt er im Januar 1926 in einen Brief nach Mailand die Bemerkung einfließen: »Welcher Aufschwung auch in Italien, und zwar nun nicht allein in der Literatur, sondern auch im öffentlichen Leben! Welch schöne Rede doch Monsieur Mussolini an den Gouverneur von Rom gerichtet hat!«

Antwortet die Herzogin: »Am Ende Ihres Briefes rühren Sie an eine tiefe Wunde, die Italien in den letzten Jahren entzweit. Nein, lieber Rilke, ich bin ganz und gar keine Bewunderin von Monsieur Mussolini... Es würde zu weit führen, Ihnen alle Gründe darzulegen ... Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich für mein Teil die Gewalt verabscheue...«

Die Duchessa denkt dabei an ein Ereignis, auf das Renée Lang in einer Fußnote hinweist: an die Ermordung des italienischen Sozialisten Matteotti am 10. Juni 1924. Dieser Politiker war an dem Tage, an dem er eine antifaschistische Rede halten wollte, auf dem Wege zum Parlament von einem faschistischen Rollkommando im Auto entführt und ermordet worden. Das Aufsehen in der zivilisierten Welt war ungeheuer. Der Zwischenfall galt allgemein als Demaskierung des Faschismus.

Rilke jedoch, unangefochten von der Realität, doziert auf seinen nach Mailand adressierten Briefblättern: »Was ich der Freiheit vorwerfe, ist, daß sie den Menschen höchstens zu dem hinführt, was er begreift, aber nie darüber hinaus, Die Freiheit ist zu wenig; selbst maßvoll und gerecht angewendet, läßt sie uns auf halbem Wege stehen, im engen Raum unserer Vernunft ... Ist es nicht dies, worauf die Diktatoren, die wahren Diktatoren, sich mitunter verstanden haben, indem sie einen heilsamen und verläßlichen Gebrauch von der Gewalt machten?«

Rilke am 17. Januar 1926: »Italien ist das einzige Land, das gedeiht und im Aufstieg begriffen ist ... In bewundernswerter Weise zeigt dies Italien von 1926 Lebensbejahung und guten Willen, während in den Ländern ringsum die bestehende Unordnung fortfährt, sie zu unterminieren und auf ihre Zerstörung hinzuarbeiten. Ein Sachverhalt, angesichts dessen ich nicht zögern würde, ein paar Ideen und ein paar Gefühle zu opfern - so mächtig und ungeduldig ist mein Verlangen nach Ordnung.«

Die Herzogin Lella quittiert diese Botschaft mit der Beteuerung: »Sie werden es mir verzeihen, wenn es mir nicht gelingen will, Mussolini mit dem Diktator zu identifizieren, den Sie der heutigen Menschheit wünschen!«

Aber Rilke will sich nicht beirren lassen. In einem neuen Brief in die Mailänder Via Manzoni feiert Rilke die lateinische Rasse und die »römische Idee«, und Mussolini wird für ihn endlich der »Baumeister der italienischen Willenskraft, der Schmied eines neuen Gewissens, das an der Flamme des alten Feuers zu jungem Leben erwachte. Glückliches Italien!« schreibt er voller Emphase.

»Mögen sie (diese Briefe) nicht allen Lesern gefallen«, so tröstete der Düsseldorfer »Mittag« die Rilke-Freunde, »man bedenke, daß sie 1926 geschrieben wurden ... »Indes ist es durchaus fraglich, ob Rilke-Enthusiasten in Deutschland diesen Trost überhaupt brauchen. Der Insel-Verlag in Wiesbaden, der Rilkes Erbe verwaltet, teilte mit, daß von diesen Briefen eine deutsche Ausgabe zunächst nicht geplant ist«.

* Rainer Maria Rilke: »Lettres Milanaises 1921-1926«, herausgegeben von Renée Lang; Librairie Plon, Paris; 128 Seiten; 375 ffrs.

** Rainer Maria Rilke - André Gide: »Briefwechsel 1909-1926«, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Renée Lang; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, und Insel-Verlag, Wiesbaden; 202 Seiten; 15,80 Mark.

Dichter Rilke

»Als Franzose wäre ich Soldat geworden«

Rilke-Forscherin Renée Lang

Brief-Funde in Bern

Briefpartnerin Gallarati Scotti

»Rilke war eine bedeutende Erscheinung ...

Herzog Gallarati Scotti

... aber ein Bewunderer Mussolinis«

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