NACHRÜSTUNG Noch einer
Willy Brandt beschränkte sich auf vage Andeutungen. Im amerikanischen Kongreß zu Washington wollten am Donnerstag voriger Woche 20 Abgeordnete und Senatoren in einer Anhörung herausfinden, was der Ex-Kanzler zu Fragen von Sicherheit und Abrüstung zu sagen hat.
Etwa dies: »Ich kenne einen, der einen Brief von Andropow bekommen hat. Also, der Bundeskanzler bekam einen - und noch einer bekam einen.« Das war's; Nachfragen wurden nicht gestellt.
Der geheimnisvolle Empfänger des persönlichen Schreibens des sowjetischen Staats- und Parteichefs Jurij Andropow war SPD-Chef Willy Brandt selber.
In der zweiten Septemberwoche - wenige Tage nach dem Abschuß des südkoreanischen Jumbo-Jets durch sowjetische Piloten - hatte UdSSR-Botschafter Wladimir Semjonow in der Bonner SPD-Baracke vorgesprochen und Brandt die Botschaft übergeben. Darin schildert die neue Moskauer Nummer eins dem deutschen Sozialdemokraten ebenso eindringlich und offen, wie es früher Leonid Breschnew zu tun pflegte, seine Furcht vor einer nuklearen Katastrophe infolge menschlichen und technischen Versagens.
Er erwähnt in seinem Brief zwar nicht Fehler der auf komplizierte Computertechnik angewiesenen Piloten der sowjetischen Abfangjäger, legt aber seine Analyse der Gefahren, die der Menschheit von Computern oder überreagierenden Militärs drohen, so an, daß sich eine Parallele zwischen dem Raketenangriff bei der Insel Sachalin und nuklearen Schlägen anbietet.
Nämlich so: Bei den minimalen Vorwarnzeiten moderner Mittelstreckenwaffen bliebe der Sowjet-Union keine andere Wahl, als ihre Reaktion auf einen westlichen Angriff einem entsprechend programmierten Computer zu überlassen - trotz aller Risiken.
Jurij Andropow übermittelte zugleich Hinweise, aus denen Brandt - wie er dann gegenüber Kongreßabgeordneten und Senatoren, darunter auch Edward Kennedy, kundtat - Ernsthaftigkeit und den Willen zur atomaren Abrüstung ablas. Brandts Interpretation: Die Sowjets seien willens, ihre Mittelstreckensysteme so weit zu verschrotten, daß - entsprechend der Zahl der französischen und britischen Sprengköpfe - nur noch 97 Raketen übrigbleiben.
Bemüht, in Washington nicht als Sendbote des Kreml zu erscheinen, kaschierte Brandt die Quelle seines Wissens: »Soweit ich informiert bin, wurde dieses Angebot nicht in Genf, sondern in Erklärungen gegenüber europäischen Partnern gemacht.«
Andropow wiederholte damit einen Vorschlag, den er ähnlich schon dem SPD-Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel bei dessen Besuch in Moskau gemacht hatte; der Schönheitsfehler, den Regierungsexperten in diesen Offerten sehen: Die Sowjets, so etwa der Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium Lothar Rühl, zeigten für den politisch-propagandistischen Gebrauch Problemlösungen auf, von denen sie am Genfer Verhandlungstisch nichts wissen wollten.
Brandts Folgerung, die er aus dem Brief aus Moskau zog, war ein eigener Abrüstungsvorschlag - auch um die Genfer Verhandlungen über den Dezember hinaus verlängern zu können. Die vier Punkte: *___Amerikaner und Sowjets vereinbaren einen »total freeze« ____beim Testen und Stationieren. Verifiziert wird mit ____"nationalen Mitteln«, also auch mit Spionage-Satellit. *___Die Amerikaner verzichten auf Nachrüstung, zugleich ____beginnen die Sowjets mit der Reduzierung und Zerstörung ____ihrer auf Westeuropa gerichteten Raketen. *___Innerhalb eines Jahres einigen sich beide Supermächte ____auf Verifizierungsmaßnahmen und auf einen ____Produktionsstopp für Atomwaffen. *___Sowjets und Amerikaner »verschmelzen oder koordinieren« ____die Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen (INF) und ____Interkontinentalraketen (START); damit verbunden wäre ____eine Einbeziehung der britischen und französischen ____Systeme.
Bereits vor seiner Reise in die USA, wo er keinerlei Kontakt mit Regierungsmitgliedern hatte, beantwortete Brandt den Andropow-Brief. Seine Hauptforderung: Die Russen sollten einseitig mit dem Abbau ihrer SS-20 beginnen. Brandt in den USA: »Die sollen mal anfangen.«
Brandts Hoffnung gründet sich auf eine weltpolitische Analyse nach dem Jumbo-Abschuß. Die Sowjets hätten sich international isoliert, nun müßten sie wieder aus der Ecke heraus: »Die wissen, daß sie zu weit gegangen sind, wollen es aber vor den eigenen Leuten nicht zugeben. Deswegen suchen sie andere Bezugsgrößen.«