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RECHT Noch einmal Nitribitt

aus DER SPIEGEL 33/1959

Die Richter des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe werden sich demnächst einen Film ansehen müssen, der zwar schon im vergangenen Jahr in den meisten Lichtburgen gezeigt wurde, nach den jüngsten Empfehlungen westdeutscher Kinobesitzer aber »aktuell ... und wert ist, wiederholt gesehen zu werden": die zeitgenössische Milieu-Studie »Das Mädchen Rosemarie«.

Die Robenträger kommen kaum umhin, das Nitribitt-Spektakel bei der Beweisaufnahme in Augenschein zu nehmen, nachdem sich der Frankfurter Architekt Dr.-Ing. Wilhelm Berentzen entschlossen hat, seinen Rechtsstreit mit den Herstellern des Films vor die höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu tragen. Berentzen will erreichen, daß die Roxy -Film GmbH aus ihrem Dirnen-Opus jeden gesprochenen Hinweis auf das Haus in der (Frankfurter) Stiftstraße 36, den einstigen Wohnsitz der Rosemarie, entfernt. Er ist Eigentümer des Gebäudes.

Der Hausherr nimmt Anstoß daran, daß die Adresse seines Appartement-Hauses in dem satirischen Filmwerk zweimal ausdrücklich genannt wird - jedesmal in Verbindung mit der Wohnung der ermordeten SL-Leihdame. Die »Ärgernis erregenden« Vorgänge in dem Haus seien sowohl für ihn als auch für die Mieter schon peinlich genug gewesen, meint Berentzen. Eine zusätzliche Diskriminierung durch die Filmpassagen brauche er sich nicht gefallen zu lassen.

Die Bedenken waren dem Hausbesitzer freilich schon gekommen, als der Nitribitt -Film im Sommer vergangenen Jahres gedreht wurde. Damals bemühte sich Berentzen vergebens, die Filmhersteller von der Erwähnung der Stiftstraßen-Adresse in dem Film abzubringen. Daraufhin strengte er eine Zivilklage gegen die Roxy -Film GmbH an, der dann die 6. Zivilkammer beim Landgericht Frankfurt auch untersagte, »den Film ... öffentlich vorzuführen oder durch Dritte vorführen zulassen, solange daraus nicht jeglicher Hinweis im Ton auf das Haus Stiftstraße 36 in Frankfurt entfernt ist« (SPIEGEL 51/ 1958).

Die Zivilrichter räumten dem Berentzen auch das Recht ein, dieses Urteil »vorläufig« vollstrecken zu lassen. Aber davon sah der Hausherr ab, denn die Roxy-Film legte sofort Berufung ein. Und in der vorletzten Woche erfuhr Berentzen, daß der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts in Frankfurt das für ihn günstige Landgerichts-Urteil aufgehoben und seine Klage als unbegründet abgewiesen hat.

In seinem Berufungsantrag hatte Roxy -Anwalt Dr. Friedrich Carl Sarre geltend gemacht, »die Sache Nitribitt« sei »inzwischen in fast allen Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten als eine 'sensationelle Angelegenheit' eingehend besprochen worden, vielfach unter Wiedergabe einer Abbildung des Hauses und der genauen Anschrift«. Der Film habe eine Beziehung zu einer tatsächlichen Begebenheit aufweisen müssen, und Berentzens Name werde in dem Film nicht genannt. Auch eine Diffamierung der Mieter komme nicht in Betracht, da seit dem Tode der Nitribitt mehr als ein Jahr vergangen sei - die Berufung wurde im Dezember vergangenen Jahres eingelegt - und ein neuer Mieter das Appartement der Lebedame bewohne.

In jedem Falle aber, so argumentierte der Film-Anwalt, scheide eine Verurteilung aus, weil sich die Roxy-GmbH auf die Freiheit der Berichterstattung und die Freiheit der Kunst berufen könne. Da es sich bei der Nitribitt »um eine Person der Zeitgeschichte« handele, müsse bei der etwaigen Interessenabwägung das Persönlichkeitsrecht des Klägers Berentzen gegen das Recht auf Berichterstattung zurücktreten.

Berentzen-Anwalt Dr. Diehl dagegen: Die Pflichten, die sich aus der Freiheit der Kunst ergäben, würden nicht beachtet. In Wirklichkeit stehe »nichts anderes als ein Zugeständnis an die Sensationslust der Filmtheaterbesucher und das rücksichtslose Streben nach Geld« hinter dem Kinostück. Die Anrüchigkeit der filmischen Hauptperson übertrage sich automatisch auf »alle Personen, die zu ihr in Bezug gesetzt werden, seien es Vermieter oder Mieter« des Hauses. Die »Apostrophierung des Hauses als Wohnung einer Prostituierten« habe das Haus »dauernd in Verruf gebracht« und das Ansehen des Eigentümers herabgesetzt - was den Tatbestand der Beleidigung erfülle und infolgedessen laut Bürgerlichen Rechts eine unerlaubte Handlung sei, die unterlassen werden müsse.

Diehls Argumente drangen jedoch beim Oberlandesgericht nicht durch. Die Berufungsinstanz entschied, daß nicht auf eine beleidigende Absicht des Drehbuch-Autors Erich Kuby geschlossen werden könne. In den Film-Dialogen werde das Haus nur beiläufig und »allein mit Bezug auf die Prostituierte Nitribitt« genannt. Der Text enthalte keinerlei Anspielung auf den Hausbesitzer und die Mieter des Hauses.

Ebensowenig, urteilte das Oberlandesgericht, könne Berentzen einen unzulässigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht geltend machen. Das Gericht entschied: »Nachdem ... der Fall Nitribitt und seine Begleitumstände zum Gegenstand des allgemeinen Interesses geworden sind und auch das Haus, in dem die Prostituierte Nitribitt vor ihrer Ermordung lebte ..., zu wiederholten Malen und über einen längeren Zeitraum hin in Zeitungen und Illustrierten abgebildet war, ist dieses Haus aus dem schützenden Bereich der Privatsphäre des Klägers (Berentzen) herausgetreten.« Den Kinogängern seien Name und Person des Hauseigentümers unbekannt und uninteressant, so daß sich die beeinträchtigende Wirkung des Films von vornherein auf einen kleinen Personenkreis beschränke.

Berentzen-Anwalt Dr. Diehl hält die Entscheidung des Oberlandesgerichts für anfechtbar - unter anderem deshalb, weil das Oberlandesgericht auf die zusätzliche Diskriminierung der Mieter in Stiftstraße 36 durch den Film nicht eingegangen sei. Diehl: »Wenn in einem Hotel ein Mord passiert, kommt das doch auch nicht an die große Glocke. Herr Berentzen möchte ausschließlich die Interessen seiner Mieter wahrnehmen.«

In der Tat mußten Bewohner des Hauses die Erfahrung machen, daß ihr .Domizil ungemein anziehend auf Bürger beiderlei Geschlechts wie auch auf Rowdys aller Altersstufen wirkt. Einigen Mieterinnen gingen noch in den letzten Monaten anzügliche Briefe zu; und neugierige Fremde versuchen immer wieder, sich unter Vorwänden Zugang zum Nitribitt -Appartement zu verschaffen, das an eine Prokuristenfamilie vermietet ist. Gelegentlich passiert es auch, daß Schulkinder die Haussprechanlage benutzen, um den Hausbewohnern »Nitribitt, Nitribitt« zuzurufen.

Inwieweit solche Belästigungen auf die Popularität der ermordeten Lebedame im allgemeinen oder auf die Adressen-Angabe in dem Nitribitt-Film zurückzuführen sind, wird sich freilich kaum feststellen lassen. Berentzen-Anwalt Diehl, der für seinen Mandanten Revision beim Bundesgerichtshof einlegen soll, glaubt aber, daß der Rosemarie-Film auch in Zukunft Ärgernis bereiten könne. Diehl: »Es geht doch darum, daß der Film in vielen Jahren, wenn die Nitribitt längst vergessen ist, wiederauftauchen kann.«

Die erste Wiederkehr hat bereits stattgefunden: Die Verleiher des Nitribitt -Stückes haben jetzt den Film erneut in die westdeutschen Kinos geschleust - aufgrund des ungewöhnlichen Erfolgs, den »Das Mädchen Rosemarie« im ersten Durchgang erzielte. Bisher wurden acht Millionen Besucher gezählt.

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