ÜBERLÄUFER Noch eins drauf
Während der Hausherr im Urlaub weilte, rollte daheim der Möbelwagen an. Innerhalb weniger Stunden verfrachteten die Packer den gesamten Hausrat in den Bauch des Lkw. Selbst Topfpflanzen und Türschilder ließen die Umzugshelfer mitgehen.
Verdutzte Nachbarn, die sich über den plötzlichen Aufbruch wunderten, erfuhren, der Auftraggeber sei überraschend nach Hamburg versetzt worden. Trotzdem weigerten sich die Träger, seine neue Adresse herauszurücken.
Der Vorfall, der sich Anfang Mai 1960 in der Karlsruher Von-Beck-Straße abspielte, löste eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit aus. Auch der Militärische Abschirmdienst wurde in die Untersuchung eingeschaltet.
Denn der Wohnungsinhaber, ein gewisser Bruno Winzer, war Presseoffizier der Karlsruher Luftwaffengruppe Süd. Der 47jährige Major hatte schon seit längerem Probleme mit Kollegen und Vorgesetzten, die den zur Luftwaffe versetzten Heeresoffizier als »Tiefflieger« hänselten. Außerdem, so wurde gemunkelt, drückten den leidenschaftlichen Spieler Schulden von über 20 000 Mark.
Fast zwei Monate lang suchten die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden nach dem getürmten Militär-PR-Experten. Dann, Anfang Juli 1960, tauchte der Verschollene endlich auf - in Ost-Berlin. »Schulden-Bruno«, wie ihn seine Kameraden inzwischen nannten, hatte sich samt Frau und Sohn in die DDR abgesetzt.
Winzer ist der ranghöchste West-Offizier, der jemals in den anderen Teil Deutschlands wechselte. Gleichzeitig dürfte er wohl der einzige Bundeswehr-Deserteur sein, der die deutsch-deutsche Grenze gleich zweimal überquert hat. Denn neuerdings weilt Winzer wieder in der Bundesrepublik - diesmal für immer, wie der 75jährige glaubhaft versichert.
Unter dem Vorwand, seinen kranken Bruder in Neuenhaus bei Stuttgart zu besuchen, reiste der Vorzeige-Soldat am 11. November 1987 zusammen mit seiner dritten Frau per Bahn in den Westen. Um lästigen Fragen des Verfassungsschutzes auszuweichen, schlüpfte das Ehepaar bei Bekannten auf der Schwäbischen Alb unter.
Die späte Heimkehr des ehemaligen Bundeswehr-Majors kann den ostdeutschen Behörden nicht gefallen. Nicht genug, daß widerspenstige DDR-Bürgerrechtler im Schutz der Kirche Partei und Regierung provozieren. Nun kehrt auch noch ein »vorbildlicher Mitarbeiter bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft« (Ost-Laudatio zur Verleihung der Ernst-Moritz-Arndt-Medaille 1972) der DDR den Rücken.
Tatsächlich diente Winzer den Einheitssozialisten in den sechziger Jahren als prominenter Kronzeuge für angebliche Angriffspläne und revanchistische Umtriebe gegen die DDR. So half er, die Mär vom geplanten Blitzkrieg gegen den Osten zu verbreiten.
Auf Pressekonferenzen und Vorträgen erläuterte er anhand von Graphiken und Schaubildern detailliert die angebliche Bonner Strategie. Mit einem »Stoßkeil« wolle die Bundeswehr »aus der Nordostecke Bayerns entlang der Oder-Neiße-Linie« nach Norden preschen, um Polen von der Sowjetzone zu trennen, während ein zweiter »Stoßkeil«, durch das neutrale Österreich hindurch, Ungarn überrennen sollte.
Daß die abenteuerlichen Pläne, wie Winzer heute zugibt, »nur in den Köpfen einiger Generale existierten«, störte den Überläufer bei seinen Auftritten nicht im geringsten: »Ich mußte die Dinge einfach etwas dramatisieren, schließlich war ich ja auf meine Gastgeber angewiesen.«
Auch beim DDR-Fernsehen wirkte Winzer als propagandistische Allzweckwaffe. In einer eigenen Sendereihe durfte er reumütigen alten Wehrmachtskameraden nachspüren oder prominente Überläufer interviewen. »Die waren dankbar«, lästert der Spätheimkehrer über seine damaligen Vorgesetzten, »daß sie jemanden hatten, der ohne Spickzettel ein paar zusammenhängende Sätze erzählen konnte.«
Trumpf im Aufklärungsfeldzug war jedoch Winzers 1968 erschienene Autobiographie »Soldat in drei Armeen«. Obgleich die 535 Seiten starke Landserschwarte unverhohlen militaristischem Gedankengut huldigt, konnte der Autor in 966 Lesungen öffentlich für sein Werk werben. »Die örtlichen Parteifunktionäre«, so der Kronzeuge im nachhinein, »waren doch froh, daß sie endlich mal die Bude voll hatten.«
Als ideologisches Alibi diente ein kritisches Kapitel über die Bundeswehr, in dem Winzer mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß abrechnet. Den sozialistischen Überbau besorgte ein Lektor vom volkseigenen Ost-Berliner »Verlag der Nation«.
Doch der plötzliche Erfolg - Winzers Buch erschien allein in der DDR mit über 100 000 Exemplaren und wurde in vier Sprachen übersetzt - stieg dem Deserteur schon bald zu Kopf. Statt den Einheitssozialismus zu predigen, begann Winzer bei seinen Lesungen Mißstände und Versorgungsengpässe anzuprangern. »Da mir zunächst nichts passierte«, erzählt er stolz, »habe ich immer noch eins draufgelegt.«
Auch dienstlich ließ der mittlerweile zum »Ehrenoberst der Nationalen Volksarmee« avancierte Flüchtling Winzer bald die gebotene Zurückhaltung vermissen. Als militärpolitischer Berater im Ministerium des Innern sollte er Analysen über Kriegsschauplätze der Welt verfassen. Doch Winzer nervte seine Vorgesetzten mit Forderungen nach einem »echten Ersatzdienst« für Wehrdienstverweigerer, die in der DDR immer noch als Bausoldaten eingesetzt werden.
Nach seiner Pensionierung legte der Aussteiger erst richtig los. Der einst begeisterte Wehrmachtskämpfer begann öffentlich gegen Kriegsspielzeug zu wettern. So zerbrach er zu seinem 65. Geburtstag im Ost-Berliner Presseklub unter freudigem Hallo der Gäste feierlich eine Plastikspielzeugpistole.
Der spontane Beifall ermutigte Winzer nachzulegen. Zum Weihnachtsfest 1978 bombardierte er sämtliche Auslandsbotschaften in Ost-Berlin mit einem Friedensmanifest, in dem er, seiner Zeit weit voraus, die »totale Abrüstung« der Spielzeugindustrie verlangte.
Um seine Forderung zu unterstützen, enthüllte er kurz darauf - am letzten verkaufsoffenen Sonntag vor dem Fest - zusammen mit seiner Frau auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz ein selbstgebasteltes Transparent mit der Aufschrift »Kauft kein Kriegsspielzeug«. Vorbeigehenden Kindern empfahlen die Rüstungsgegner per Handzettel, sich »lieber Fußbälle« zu wünschen. Wie zu erwarten, wurden Winzer und seine Mitstreiterin vorübergehend festgenommen.
Als der BRD-Flüchtling sich am 1. März 1983 auch noch in einem offenen Brief an den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker für verfolgte Friedensfreunde in Jena einsetzte, platzte seinen einstigen Gönnern der Kragen. Der Agitator wurde mit einem Publikations- und Auftrittsverbot belegt.
Fortan erhielten Winzer und seine Frau regelmäßig Hausarrest, wenn in Ost-Berlin schwieriger Besuch anstand, so zum Beispiel beim Treffen von Grünen-Promis mit SED-Chef Honecker im Jahr 1983, an dem auch der ehemalige Bundeswehr-General Gert Bastian teilnahm. Obgleich Winzer »unheimlich gern« mit dem Gesinnungsgenossen gesprochen hätte, wurden er und seine Frau vorsorglich »bis weit nach Mitternacht« unter Verschluß gehalten.
Durch ständige vergebliche West-Reiseanträge zermürbt, versuchte es der Ausreisewillige schließlich mit einem Trick. Zwei Urlaubsbekannte aus dem Schwäbischen, die die Winzers nach ihren Angaben bei einer Moskau-Reise im Lenin-Mausoleum kennengelernt hatten, besorgten für den angeblich todkranken Bruder in Stuttgart ein Attest. Die DDR-Behörden genehmigten Winzer daraufhin sechs Wochen, seiner fast 30 Jahre jüngeren Ehefrau 21 Tage West-Urlaub.
Den nutzen die Umsiedler nun, um »alte Bekanntschaften« aufzufrischen, wie zu dem Ex-Bundeswehr-General Gerd Schmückle oder dem ehemaligen Ständigen Vertreter in Ost-Berlin, Günter Gaus.
Auch für die Zukunft hat der Doppel-Deserteur schon Pläne. So möchte Winzer seinen DDR-Bestseller »Soldat in drei Armeen«, ideologisch entschlackt und um ein Kapitel über die Nationale Volksarmee erweitert, in der Bundesrepublik auf den Markt bringen.
Zwar sucht der Autor zur Zeit noch nach einem Verleger. Dafür aber steht der Titel schon fest: »Prost Neujahr - Genosse Oberst«.
Mit der polnischen, tschechischen, deutschen, russischen undbulgarischen Ausgabe seines Buches.1960 in Ost-Berlin bei der Erläuterung angeblicherNato-Angriffspläne.