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»Noch fünf Jahre zum Feixen«

Der Bestseller-Autor und Yale-Professor Paul Kennedy über das Selbstbewußtsein und die Selbstüberschätzung der Vereinigten Staaten
Von Erich Follath und Siegesmund von Ilsemann
aus DER SPIEGEL 36/1997

SPIEGEL: Professor Kennedy, Sie sind mit der These vom Abstieg der Supermacht Amerika berühmt geworden. Jetzt aber dominieren die USA die Welt wie nie zuvor. Haben Sie sich verspekuliert?

Kennedy: Lassen Sie mich aus meinem Buch zitieren: »Unvorhergesehene Entwicklungen, zufällige Ereignisse oder das Ausklingen eines Trends können die plausibelste Vorhersage ruinieren. Wenn das nicht geschieht, hat man Glück.«

SPIEGEL: Sie hatten also einfach Pech?

Kennedy: Ich muß zugeben, daß sich die Lage der USA in den vergangenen Jahren ganz wundervoll verbessert hat. Die Sowjetunion, die ihre Kräfte noch weitaus stärker überdehnt hat als Amerika, gibt es nicht mehr. Japan, 1988 ein gefährlicher Konkurrent, auf dessen wacklige Lage ich damals schon hingewiesen habe, ist durch eine schwere Rezession gegangen.

SPIEGEL: Kann Präsident Bill Clinton den amerikanischen Wiederaufstieg als seinen Erfolg verbuchen?

Kennedy: Das würde die Wahrheit arg strapazieren. Na ja, immerhin hat seine Wirtschaftspolitik keinen Schaden angerichtet. Und er ist ein Freihandelspräsident wie schon lange keiner.

SPIEGEL: Aus heutiger Sicht: Wurden Sie nicht zu Recht als Professor Doom gescholten, als Niedergangsprophet?

Kennedy: Der US-Industrie muß ich hohes Lob zollen. Sie hat das Ruder eindrucksvoll herumgeworfen und steht heute weltweit an der Spitze, was Wettbewerbsfähigkeit angeht. Und dennoch: Diese mittelfristige Entwicklung wird von langfristigen Trends überlagert. Und die hatte ich 1988 im Visier. 1950 verfügten die USA über 50 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, einfach beispiellos. Großbritannien kam Mitte des vorigen Jahrhunderts, zu Hoch-Zeiten des britischen Imperiums, vielleicht gerade auf 25 Prozent. Der amerikanische Anteil war kolossal.

SPIEGEL: Und seither ging es bergab?

Kennedy: Genau. 1990 waren es noch 23 Prozent, und für 2010 geben die Prognosen der Weltbank den USA gerade ein Sechstel des Bruttosozialprodukts der Welt. Und wenn nicht China explodiert oder in sich zusammenfällt und ganz Ostasien mit sich reißt, ist Amerikas Bedeutungsverlust unaufhaltsam.

SPIEGEL: Noch ist davon nichts zu spüren. Amerikanische Diplomaten sind in-ternational als rücksichtslos verschrien. Ist der »häßliche Amerikaner« zurückgekehrt?

Kennedy: Deutschland, England, Kanada und viele andere Mächte waren in der Geschichte häufig auf die eigensinnigen und unberechenbaren Amerikaner sauer. Aber immerhin hat die Erfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika zwei Generationen politischer Führer hervorgebracht, die wußten, daß Isolationismus nicht funktioniert.

SPIEGEL: Isolationisten mögen auch heute in der Minderzahl sein. Aber man hat den Eindruck, in der Außenpolitik mischen viele US-Politiker mit, die nicht sehr viel von der Welt wissen.

Kennedy: Da haben Sie leider recht. Unter den republikanischen Abgeordneten, die 1994 die Mehrheit im Repräsentantenhaus eroberten, besaßen etliche noch nie im Leben einen Paß ...

SPIEGEL: ... hatten also niemals die USA verlassen.

Kennedy: Es kommt noch schlimmer: Viele von denen brüsteten sich vor ihren Wählern, sie hätten auch nicht die Absicht, das je zu tun. Britische Diplomaten, die traditionell die engsten Beziehungen zu US-Politikern unterhalten, klagen, daß sie noch nie eine so ignorante Generation von Kongreßleuten erlebten wie die jetzige.

SPIEGEL: Ist es Ursache oder Folge dieses Trends, daß Washingtons Außenpolitik zunehmend von Innenpolitik dominiert zu sein scheint?

Kennedy: Beides. Clinton verkündete im Wahlkampf 1994 in Chicago, wo viele Amerikaner polnischer Herkunft leben, die Erweiterung der Nato. Als ich neulich unserer örtlichen Abgeordneten erklärte, daß buchstäblich alle akademischen Experten die Nato-Erweiterung derzeit für den falschen Weg hielten, sagte die ganz verblüfft: »Ach was, davon hatte ich keine Ahnung.« Aber dann geht sie zu irgendeinem Treffen einer osteuropäischen Einwanderergruppe und läßt sich wieder davon überzeugen, daß alle Politik, auch die Nato-Erweiterung, Innenpolitik sei.

SPIEGEL: In den USA scheint die Meinung Oberhand gewonnen zu haben, die Amerikaner könnten alles am besten, und am besten allein.

Kennedy: Der Eindruck täuscht leider nicht. Ich verbrachte vor kurzem qualvolle Stunden bei dem Versuch, Offiziere der U. S. Marines vom Wert der Uno zu überzeugen - überhaupt kein Interesse, null. Wir haben bei der Aufgabe versagt, den Wert internationaler Organisationen stärker herauszustreichen.

SPIEGEL: Bei der Uno denken wohl die meisten Amerikaner zunächst an gescheiterte Friedensmissionen, an Mißorganisation und Verschwendung.

Kennedy: Wenn ich 50 Spitzenmanager zusammenholen würde, könnte ich denen vermutlich leicht klarmachen, wie sehr gerade sie von Uno-Vereinbarungen abhängig sind - von internationalen Eigentumsrechten, vom Luftverkehr, vom Arbeitsrecht, vom Seerecht, von Interpol. Aber leider herrscht der Irrglaube vor, wir bräuchten den Rest der Welt gar nicht ...

SPIEGEL: ... und vor allem wollen wir nicht dafür bezahlen.

Kennedy: Unglaublich, unsere Selbstgerechtigkeit. Der Kongreß droht sogar, er werde amerikanische Zahlungen blockieren, wenn die Uno über eigene Streitkräfte nachdenke oder über neue internationale Geldquellen.

SPIEGEL: Grenzt das nicht an Erpressung?

Kennedy: Das ist Erpressung. Und Clinton, immer die innenpolitische Wirkung im Auge, stellt sich dagegen nicht auf die Hinterbeine.

SPIEGEL: Müssen Amerikas Bündnispartner das hinnehmen?

Kennedy: Die Europäer müssen eine Rückfallposition entwickeln, wenn es mit Washington noch schlimmer werden sollte: Vergeßt erst mal die Differenzen über den Euro und redet lieber darüber, wie ihr in den kommenden Jahren Kapazitäten im Luft- und Seetransport aufbauen könnt. Die braucht ihr, wenn ihr in Albanien oder Algerien etwas unternehmen müßt, was die Amerikaner nicht mittragen wollen. Ihr müßt Wege finden, wie ihr auch ohne Uno-Sicherheitsrat handlungsfähig bleibt, wenn Washington dort gegen eure Interessen ein Veto einlegt. Europa muß dringend zweigleisig fahren.

SPIEGEL: Das fordern die Franzosen seit Jahrzehnten, erfolglos.

Kennedy: Leider wahr. Die USA sind entweder der Mannschaftskapitän, oder sie sitzen schmollend auf der Bank, sie sind kein Team-Player. Dennoch lautet die Antwort auf solche Vorschläge in Bonn und London stets: Das geht nicht, das vergrätzt Washington.

SPIEGEL: Es gibt allerdings auch keine einheitliche europäische Position.

Kennedy: Das ist für mich ein Anlaß, den erschreckenden Mangel an intelligenter politischer Führung in Europa zu beklagen.

SPIEGEL: Hat nicht die rasante wirtschaftliche Erholung der USA die Chancen für die Bewältigung des Nord-Süd-Konflikts, des Treibhauseffekts und vieler anderer grenzüberschreitender Krisen eher verschlechtert? Es entsteht doch der Eindruck, daß Wohlstand im Alleingang erzielt werden kann, auch ohne beträchtliche Investitionen in globales Krisenmanagement.

Kennedy: Die Einsicht in die Notwendigkeit globaler Führung wird sicher verstellt, wenn man sagt, uns geht es prächtig, wir sind die Herren der Welt, alle anderen können sich ausstopfen lassen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für die amerikanische Führung, den Dialog zu beginnen, nicht nur mit den Europäern und Ostasiaten, sondern auch mit Indien und Brasilien, und vor allem natürlich mit Rußland und China.

SPIEGEL: Wenn das versäumt wird ...

Kennedy: ... dann gebe ich den Selbstbejublern vielleicht fünf Jahre zum Feixen - langfristig liegen sie falsch.

SPIEGEL: Wird die Weltmacht irgendwann doch durch den »imperialen Spagat« überfordert, den Sie in Ihren Büchern kritisiert haben?

Kennedy: Militärisch kann niemand Amerika herausfordern. Aber selbst diese Überlegenheit wird nicht ewig bestehenbleiben. Kürzlich habe ich mit Verteidigungsminister Cohen und Stabschef Shalikashvili gefrühstückt. Ich kann Ihnen verraten, die waren verzweifelt besorgt.

SPIEGEL: Worüber denn - weil angeblich der Kampf mit einer Großmacht China droht?

Kennedy: China bereitet dem Pentagon ganz gewaltige Kopfschmerzen. Als wir Amerikas Haltung zu verschiedenen Ländern der Dritten Welt diskutierten, hörte ich immer wieder, wir brauchen Indonesien, wir brauchen Indien, wir brauchen einen asiatischen Block als Gegengewicht zu China.

SPIEGEL: Hat die Regierung Clinton überhaupt eine Vision, wohin sie die Welt führen will?

Kennedy: Das ist außerordentlich schwierig zu beantworten, weil Clinton lange jedes Interesse für die Außenpolitik fehlte. Aber die Nummer eins muß im Nahen Osten Flagge zeigen, die Friedensmission in Bosnien stützen, das Gleichgewicht auf der koreanischen Halbinsel garantieren. Es gibt jetzt in der Regierung ausgeprägte, manchmal widersprüchliche außenpolitische Prioritäten.

SPIEGEL: Kann sich Außenministerin Albright durchsetzen?

Kennedy: Wenn sie sagt, laß uns auf Demokratisierung und verbesserte Beziehungen setzen, dann stimmt Clinton zu - nicht weil ihm das am Herzen liegt, sondern weil es sich generell um amerikanische Werte handelt, die einfach gut klingen. Aber eine echte Vision von einer Welt, die zusammenarbeitet, tiefgehendes Engagement in internationalen Organisationen, Wege zur Bewältigung der Krisen wie Armut, Hunger, internationales Verbrechen, Übervölkerung und Erschöpfung der Rohstoffe - das werden Sie im Weißen Haus vergebens suchen.

SPIEGEL: Bestätigt der gegenwärtige Erfolg nicht die amerikanische Auffassung, Demokratie und Freihandel seien hinreichende Bedingungen für wirtschaftlichen Wohlstand?

Kennedy: Die Zusammenhänge zwischen Demokratie und ökonomischer Blüte sind viel komplexer, als einige amerikanische Marktwirtschaftspropheten uns glauben machen wollen.

SPIEGEL: Bezahlt haben die USA ihren Fortschritt auch mit einer weiter aufreißenden Kluft zwischen Reich und Arm. Kommt das unweigerlich auch auf Europa zu?

Kennedy: Ich hoffe nicht. Amerikanische Manager, die vor 20 Jahren 40mal soviel verdienten wie der durchschnittliche Lohnempfänger, kassieren heute 200mal mehr. Und die US-Milliardäre gebieten über einen ebenso großen Anteil am globalen Reichtum wie das ärmste Drittel der Weltbevölkerung. Das ist doch obszön.

SPIEGEL: Wie läßt sich dieser Trend brechen?

Kennedy: Vor dieser Herausforderung stehen wir alle - diesseits und jenseits des Atlantiks. Wir sind Zeitzeugen vom Aufstieg und Fall des Wohlfahrtsstaats. All das, was in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts geschaffen wurde, um soziale Ungerechtigkeiten zu mildern - bei der Gesundheitsvorsorge, der Ausbildung und anderen sozialen Diensten -, wird nun in vielen westlichen Ländern abgebaut.

SPIEGEL: Mit welchen Folgen?

Kennedy: Dort wo der Sozialstaat im Westen abgebaut wird, in den USA und Großbritannien, wächst die Lücke zwischen Arm und Reich geradezu atemberaubend. Angesichts dessen müssen doch bei jedem Zweifel an der Globalisierung aufkommen. Karl Marx lächelt in seinem Grab wahrscheinlich still vor sich hin.

SPIEGEL: Welche Alternativen gibt es denn?

Kennedy: Es gibt drei Möglichkeiten. Man kann, erstens, John Major oder Tony Blair spielen, alle staatlichen Unternehmen privatisieren, die Regierung verkleinern und die Kräfte der Marktwirtschaft walten lassen. Jeder muß darauf reagieren, weil alle Schutzvorkehrungen beseitigt werden - Schutzzölle für Industrie und Landwirtschaft, soziale Schutzgesetze. Diese Lösung ist so extrem, daß sich dafür in Frankreich oder Deutschland allenfalls ein paar Wirtschaftsverbände mobilisieren ließen.

SPIEGEL: Und Weg Nummer zwei?

Kennedy: Das wäre der Stillstand und daraus resultierend politische und gesellschaftliche Rückschläge, ähnlich der Unruhen, die wir kürzlich in Frankreich erlebt haben. Die könnten dramatisch zunehmen, wenn der globale Druck durch billige Arbeit in Lateinamerika und Südasien weiter wächst. Bleibt also nur ein Mittelweg, der per definitionem ein Kompromiß sein muß. Die Gesellschaften im Wandel brauchen eine Besinnungspause.

SPIEGEL: Kann das mehr sein als eine Gnadenfrist vor der unausweichlichen Anpassung an globale Entwicklungen?

Kennedy: Ich glaube schon. Im Streit um die europäische Währungsunion wäre es nicht unvernünftig, die Frist für die Erreichung der strikten Beitrittsbedingungen um fünf Jahre zu verlängern. Ähnliches ist für die Grundregeln der Welthandelsorganisation denkbar. Andernfalls werden doch die Nationen in einem Tempo zu Veränderungen gezwungen, das ihnen keine Zeit läßt, die sozialen Folgen zu bewältigen. Warum laden Kohl oder Blair nicht einfach mal zu einem Wochenende des Nachdenkens ein?

SPIEGEL: An Gipfeltreffen herrscht kein Mangel.

Kennedy: Mag sein, aber dann hätten sie - ohne Mitarbeiter und ohne komplizierte Tagesordnung - endlich Gelegenheit, sich zu fragen: Wie erreichen wir das Jahr 2005, ohne dieses grenzenlose Laisser-faire zu akzeptieren oder zum blanken Protektionismus zurückzukehren.

SPIEGEL: Wird nicht bewiesen, daß internationale Kooperation zweitrangig ist, wenn ein Land wie die USA sich im Alleingang, sozusagen am eigenen Schopf, aus dem Schlamassel zieht?

Kennedy: In der Internationalen Kommission über die Zukunft der Uno kamen wir zu dem Ergebnis, daß das freie Walten der Marktgesetze vielen Ländern und Menschen Vorteile bringen würde. Gleichwohl bedürfte die Weltökonomie eines Ordnungshüters, der verhindert, daß chronische Stabilitätsrisiken entstehen.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Kennedy: Ich denke an die späten zwanziger Jahre. Damals flossen Ströme amerikanischen Kapitals nach Deutschland, und jeder glaubte, dies sei der Beginn der Blüte des Weltkapitalismus. Statt dessen schlitterten wir wenig später nach dem Zusammenbruch des Kreditsystems und der Finanzmärkte in die Weltwirtschaftskrise ...

SPIEGEL: ... und später begann Hitler den Weltkrieg.

Kennedy: Richtig. Deswegen gehöre ich zu denen, die eine stärkere Regulierung der globalen Finanzmärkte und des Welthandels befürworten. Der Zug zur völligen Liberalisierung und Globalisierung muß abgebremst werden.

SPIEGEL: Die US-Regierung sagt das genaue Gegenteil.

Kennedy: Das ist eine gefährliche Fehleinschätzung. In den nächsten 20 Jahren werden allein in Süd- und Zentralasien 1,2 Milliarden neue Arbeitskräfte um Jobs konkurrieren. Das könnten die westlichen Industriegesellschaften überhaupt nicht verkraften, ohne daß es zu sozialen Unruhen wegen der Lohndrückerei kommt.

SPIEGEL: Wie schätzen Sie denn für sich persönlich die Zukunft der USA ein? Wie beantworten Sie die uramerikanische Frage: Werden Ihre Enkel besser leben?

Kennedy: Die meisten Menschen, denen ich diese Frage stelle, sagen nein. Doch ich mag die Hoffnung nicht aufgeben. Mehr als Hoffnung ist es leider nicht.

SPIEGEL: Professor Kennedy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Erich Follath undSiegesmund von Ilsemann in New Haven im US-Staat Connecticut.

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