BILDUNG Noch genug Zeit
Die Frage, die der Landesverband der korporierten Studenten von Niedersachsens Kultusminister Georg-Berndt Oschatz beantwortet haben wollte, fiel standesgemäß aus: »Können wir in Deutschland auf Elite-Universitäten verzichten?«
Die Antwort an die traditionsbewußten Herren war zweideutig: Einerseits stellte der Unionspolitiker einen Bildungsabschluß in Frage, der bis dato noch von allen Konservativen hochgehalten worden war: das Abitur. Andererseits redete er einer Begabtenauslese das Wort.
In Zukunft, schrieb Oschatz den jungen Alten Herren, sollte nicht mehr allein das Reifezeugnis zum Studium an einer deutschen Universität berechtigen. Statt dessen sei ernsthaft zu überlegen, »ob nicht die Hochschule auf Dauer über die Frage des Zugangs und die Studierfähigkeit der angehenden Studenten entscheiden könnte«.
Um die Diskussion »endlich anzustoßen«, faßte der Christdemokrat, der die Schule »im Sog eines pädagogisch schädlichen Notenfetischismus« verkommen sieht, seine Gedanken etwas konkreter. Er präsentierte elf »Kurzthesen zum Thema Studierfähigkeit«. In dem Papier, »in dem weitergedacht wird, was in der Bildungsdiskussion Anfang der siebziger Jahre nicht zu Ende gedacht wurde« (Oschatz), stehen Forderungen, die Schule und Universität wieder einmal erheblich verändern könnten - vorausgesetzt, sie werden erfüllt.
Weil das Abitur »immer weniger eine wirkliche Studierfähigkeit« garantiere und seine »Funktion als Verteilerkreis für akademische Berufslaufbahnen« verloren habe, sei es sinnvoller, *___das Abitur an das Ende des 12. Schuljahrgangs zu legen, *___das 13. Schuljahr als »studienvorbereitendes Jahr in ____der bereits in der Oberstufe gewählten Fachrichtung ____absolvieren zu lassen bzw. Dieses in Form von ____Vorsemestern in der Hochschule vorzusehen« und *___"danach eine Prüfung für ein Studium an einer ____Hochschule durchzuführen«.
Das für die Studienberechtigung entscheidende 13. Jahr soll nach Meinung des Ministers klären, ob einer ein wissenschaftliches Langzeitstudium aufnimmt oder »einem berufsbezogenen Kurzzeitstudium den Vorzug geben sollte«.
Unterstützung für Oschatz blieb nicht aus. Theodor Berchem, soeben zum Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK) gewählt, schlug ebenfalls vor, die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr zu kürzen, das 13. Schuljahr zu einem Vorbereitungsjahr für die Universität umzumodeln und die Mehrzahl der Studenten, rund zwei Drittel, in viersemestrige Kurzstudiengänge zu stecken. Nur dem Rest der Studenten sollte noch der Weg zu den herkömmlichen Weihen eines Vollstudiums offenstehen.
Auch Sozialdemokraten haben gegen diese Art Zwei-Klassen-System an den Hochschulen nichts einzuwenden. Der nordrhein-westfälische Wissenschaftsminister Hans Schwier empfiehlt eine »sechssemestrige Grund-Studienphase«, die für alle Studenten mit einem berufsqualifizierenden Abschluß enden soll. Aus dem Kreis dieser Absolventen könnten sich dann die Hochschulen jene Kandidaten herausfischen, die ein »forschungsorientiertes Aufbaustudium« aufnehmen dürfen.
Die Konzepte der Studien- und Schulzeitverkürzung klingen allesamt plausibel, und sie wären womöglich auch geeignet, die ärgsten Mißstände im westdeutschen Bildungssystem beheben zu helfen: Studienanfänger in der Bundesrepublik sind älter (Durchschnitt: 21 Jahre) als in anderen Ländern. Vor 20 Jahren kamen sie durchschnittlich mit vier bis fünf Jahren Universitätsstudium aus, heute verbringen sie an den Hochschulen fünf bis sechs Jahre. Deutsche Studenten sind häufig schon knapp 30, wenn sie die Uni verlassen.
Doch die Pläne für kürzere Bildungswege haben kaum Realisierungschancen. Sie sind im ideologisch geprägten Bildungswirrwarr, den sich die Kultusminister der Länder leisten, nicht durchsetzbar. Und von den Betroffenen drängt auch niemand ernsthaft auf Änderung.
Die Studenten nicht, weil sie Vorbereitungszeit für ihre Examen gewinnen und den Tag der offiziellen Arbeitslosigkeit hinausschieben wollen. Die Professoren nicht, weil sie sich an straffe Lehrpläne zu halten hätten und den ihnen liebgewordenen Kanon ihrer Fächer ändern müßten. Zudem kämen zu eh schon widerwillig erfülltem Prüfungspensum neue Examensverpflichtungen hinzu. Und die Lehrer wollen auch nicht, weil ihnen weitere Planstellen-Kürzungen drohten und mit dem Abitur ein Selektions- und Druckmittel genommen würde.
Auf diese Weise sind bisher, unter dem Beifall linker wie rechter Hochschul-
und Lehrerverbände, alle Ansätze einer strafferen Schul- und Universitätsausbildung gescheitert.
Der Wissenschaftsrat, der die bundesdeutsche Hochschulpolitik konzipieren und koordinieren soll, hatte 1976 Pläne für sechssemestrige Kurzstudien an Universitäten ausgearbeitet, wie sie etwa für Sozialpädagogik, Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften an den Fachschulen bereits bestanden. Doch schon in der Phase der Überlegungen, wie denn die Abiturienten-Schwemme möglichst ohne Numerus clausus in den Hochschulen zu bewältigen sei, schwante dem damaligen Vorsitzenden des Wissenschaftsrates und heutigen Wissenschaftssenator in Berlin, Wilhelm Kewenig: »Bis die Universitäten sich auf ein Kurzstudium umgestellt haben, ist der Studentenberg schon abgetragen.«
Im bevorstehenden Wintersemester wird die Zahl der Studierenden in der Bundesrepublik mit 1,2 Millionen einen neuen Höchststand erreichen. Schon aus diesem Grund hält Hamburgs Wissenschaftssenator Hansjörg Sinn die Einführung des Kurzstudiums gegenwärtig für »unzeitgemäß«. Der Chemie-Professor, der vor kurzem noch abdanken wollte, weil er als Bildungspolitiker so wenig bewegen kann, vertröstet auf später: »In fünf Jahren haben wir genug Zeit zum Reformieren.«
Mit ähnlichem Argument rät auch der hessische Kultusminister Hans Krollmann von einer Reform ab: Die Vorschläge seien wenig hilfreich, »weil wir jetzt die starken Jahrgänge bekommen und den Hochschulen solche einschneidenden Maßnahmen nicht zumuten können«.
Bei so hartnäckigem Widerstand aller Beteiligten bemißt auch der niedersächsische Kultusminister Oschatz seine Zeitperspektive großzügig. Die Neustrukturierung von Schule und Universität soll nach dem Willen des Christdemokraten erst einsetzen, wenn »das Schülertal die Hochschulen voll erreicht«.
Das wird, gemäß Pillenknick, erst im Jahre 1995 sein.