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Nötigung vor der Kaserne?

Prozesse gegen Friedensdemonstranten *
aus DER SPIEGEL 18/1984

Der Tathergang war überall gleich, die Täter standen im Wege oder saßen herum. So geschah es tausendfach im Heißen Herbst 1983 bei Blockade-Aktionen gegen die Nato-Nachrüstung. Jetzt stehen die Protestierer vielerorts vor Gericht. Die Anklage lautet zumeist: Nötigung.

Als Straftäter wurden und werden verfolgt: *___rund 300 Demonstranten, die zu Ostern 1983 vor den ____Wiley-Barracks in Neu-Ulm mit Sitzstreiks gegen ____US-Raketen protestierten; *___über 300 Demonstranten, die im September 1983 den ____Nato-Flugplatz in Bitburg blockierten; *___etwa 380 Blockierer, die im August 1982 vor den ____Waffenlagern Großengstingen in Baden-Württemberg saßen; *___weit über 100 Teilnehmer der Dauerblockaden vor dem ____Pershing-Standort Mutlangen; *___knapp 300 Demonstranten, die im Dezember 1982 die ____Europäische Kommandozentrale der US-Streitkräfte ____(Eucom) in Stuttgart-Vaihingen blockierten; *___rund 80 Teilnehmer friedlicher Potestaktionen vom ____August 1983 vor dem Munitionsdepot Feucht bei Nürnberg; *___über 100 Demonstranten, die im Herbst 1983 in Köln das ____Heeresamt blockierten, über 100, die in Bonn vor dem ____Bundesverteidigungsministerium auf der Hardthöhe und im ____Regierungsviertel aufmarschierten.

Dem Versuch der Strafverfolger, die Taten-Masse mit Strafbefehlen zu erledigen, hatten sich die meisten Betroffenen widersetzt. Sie erzwangen mit ihrem Einspruch ausführliche Gerichtsverhandlungen.

Dabei ist die Frage, ob es als Nötigung strafbar ist, sich vor Kasernen oder anderen öffentlichen Gebäuden auf die Straße zu setzen, unter Juristen noch immer umstritten.

So sprachen Stuttgarter Amtsrichter eine Reihe von Eucom-Blockierern vom Vorwurf der Nötigung frei - das Landgericht Stuttgart hob die Freisprüche wieder auf.

In Nürnberg und Fürth weigerten sich Amtsrichter, die von der Staatsanwaltschaft gegen Blockierer des Munitionsdepots Feucht erhobenen Vorwürfe überhaupt zu verhandeln.

Zu dreihundert Mark Geldstrafe verurteilte hingegen das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd einen 23jährigen Erzieher, der in Mutlangen im Wege stand. Ähnlich entschieden Amtsrichter in Köln, Gießen und Münsingen.

Der Rechtsstreit geht um die Frage, ob passiver Widerstand, wie er von den angeklagten Blockierern verübt wurde, Nötigung im Sinne des Strafgesetzbuchparagraphen 240 sein kann. Auch Sitzenbleiben als gewaltsame Nötigung zu betrachten, scheint Juristen möglich, weil der Bundesgerichtshof im Jahre 1969 entschied, daß ein Student, der auf den Schienen sitzend eine Straßenbahn stoppte, dem Straßenbahnfahrer psychisch Gewalt angetan habe.

In den jetzt zu entscheidenden Blockadefällen fehlt allerdings meist der Straßenbahnfahrer: das Nötigungsopfer, also bestimmte Soldaten, die von angeklagten Blockierern zur Tatzeit psychisch überwältigt wurden. Hilfskonstruktion der Strafrechtler: Mangels Opfer wird wegen versuchter psychischer Gewalttat verfolgt.

Die Richter des Amtsgerichts Stuttgart allerdings sahen nicht einmal versuchte strafbare Nötigung. Die »Verwerflichkeit«, die gemäß Paragraph 240 die Tat erst zur Straftat macht, sagten die Richter, fehle. Soweit nämlich die Nötigung nur zwangsläufige Folge politischer Demonstration ist, sei sie von Grundrechten der Demonstranten gedeckt, also könne sie nicht verwerflich sein.

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