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Nordsee: »Zeichen einer todkranken Natur«

Nahezu 400 Robben wurden sterbend an Land geschwemmt, massenhaft starben Fische vor den Küsten Norwegens und Schwedens - die Öko-Katastrophe in Nord- und Ostsee macht deutlich, in welchem Ausmaß der Mensch die Natur aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Ist die Nordsee, bislang Müllkippe Europas, noch zu retten? Wissenschaftler sprechen von einer - für die Menschheit bedrohlichen - »Gegenevolution«.
aus DER SPIEGEL 23/1988

Svein E. Hansen, Ozeanograph und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Offshore-Firma Oceanor in Trondheim, war der erste, der die heraufziehende Katastrophe sah. In einem sechssitzigen Wasserflugzeug vom Typ Cessna überflog er, am Pfingstsonntag, die Gewässer vor der südnorwegischen Küste. In der Nähe der Stadt Kristiansand, bei der Ortschaft Flekkefjord, zeigte das Meer beiderseits des Küstenstroms »enorme blaugrüne Verfärbungen«. »Grauweiße Flocken« schwammen auf der relativ ruhigen See. Das waren, wie der Biologe Jan Tronsen von der Universität Oslo wenig später herausfand, die Stoffwechselprodukte der Alge Chrysochromulina polylepis.

Seit diesem Erkundungsflug, zu dem eine Versicherungsgesellschaft den Ozeanographen bestellt hat, hält der mikroskopisch kleine Meeresorganismus, den die Boulevardpresse nun »Killeralge« nennt, Norwegens Fischer und Fischzüchter, Tourismus-Manager in deutschen und dänischen Badeorten, aber auch Umweltschützer und Politiker in allen Anrainer-Staaten von Nord- und Ostsee in Atem: Eine der schwersten Umweltkatastrophen hat die Küstengürtel der nordeuropäischen Randmeere heimgesucht - die norwegische Umweltschutzministerin Sissel Ronbeck verglich die Schadenslage in der Nordsee mit dem Zustand »im Sahel-Gürtel nach den Dürreperioden« der letzten Jahre.

»Wir haben lange gewußt«, gestand die Ministerin ein, »daß die Nordsee eine Zeitbombe ist« - nun, da der Schadensfall

eintrete, seien Politiker und Wissenschaftler »machtlos«.

Es war wie eine Heimsuchung für die Anrainer von Nord- und Ostsee: Gleichzeitig mit den Nachrichten über die Algenpest in Kattegat und Skagerrak kamen die Fernsehbilder vom Todeskampf der Robben, die sich mit letzter Kraft auf der Badeinsel Sylt und an den dänischen Küsten auf den Strand schleppten. Nahezu 400 Seehunde, so die Bilanz Ende letzter Woche, sind schon verendet - annähernd ein Zehntel des Bestandes in dieser Region.

Politiker wie Bundesumweltminister Klaus Töpfer und Wissenschaftler beeilten sich, darauf hinzuweisen, daß kein direkter Zusammenhang bestehe zwischen der Algenpest, die Millionen Fischen die Luft zum Atmen raubte, und dem Robben-Sterben, das allem Anschein nach auf die epidemische Ausbreitung eines Herpes-Virus zurückgeht.

In hektischem Aktivismus wurden an der Küste Sonderkonferenzen von Wissenschaftlern einberufen, der Umweltausschuß des Bundestages trat zusammen - kaum ein Politiker, der nicht nach »gezieltem Handeln« und nach »Sofortmaßnahmen« gerufen hätte.

Doch die Empfänger solcher Botschaften, konfrontiert mit dem gebündelten Nichtwissen der Experten und der offenkundigen Ohnmacht der Politiker, verstanden es schon richtig: Beides, die Algenpest und das Seehundsterben, signalisierten, in welchem Ausmaß die zivilisationsnahen Meeresregionen schon mit Schadstoffen belastet und ökologisch aus dem Gleichgewicht geraten sind - und wie wenig aus dem Stand dagegen auszurichten ist.

»Man pfuscht nicht ungestraft in der Schöpfung herum«, dröhnte der Trondheimer Dompropst Tron Tronsen, der in der Algenflut »einen Zeigefinger Gottes« sah. Noch weiter ging Erling Utnem, Bischof von Agder: Die Algeninvasion sei, wie schon Tschernobyl und das Ozonloch, »ein Vorzeichen des Jüngsten Gerichts«. Die Bibel spreche »klar und deutlich davon, daß in der Endzeit eine ökologische Katastrophe kommen wird«.

Solche Endzeitstimmung mochten auch die Besorgtesten unter den Ökologen diesmal noch nicht teilen - aber als deutliches Alarmzeichen, als Menetekel künftiger Umweltkatastrophen werteten sie das Massensterben von Fischen und Seehunden allemal. Ist das Ökosystem Nordsee vor dem gänzlichen Umkippen noch zu retten? Wohl kaum, sagen die Ökologen, wenn die Anrainer-Staaten im gleichen Maße wie bisher fortfahren, Schad- und Giftstoffe in die Gewässer abzuleiten und die nordeuropäischen Randmeere als billigen Müllabladeplatz der Zivilisationsgesellschaft zu mißbrauchen.

Mit Transparenten ("Es ist soweit") und Sprechchören ("Nicht ruhen, jetzt was tun") empfingen Öko-Demonstranten Umweltminister Töpfer bei seinem Watt-Besuch auf Sylt. Einige hundert Sylt-Besucher trugen als »Zeichen stillen Protests« einen Trauerflor am Zeigefinger. In Cuxhaven sprühten Umweltaktivisten ihren Protest in die »Musikmuschel« des Kurorchesters: »Wenn Fische schreien könnten ...«

In allen Seebädern suchten Kurdirektoren und Manager der, wie sie fanden, »Panikmache« (so Westerlands Bürgermeister Volker Hoppe) beschwichtigend entgegenzuwirken. »Badebetrieb und Strandbetrieb finden wie gewohnt ohne Einschränkungen statt«, erfuhren am Sylter Nottelephon Anrufer von einem Tonband.

Der massenhafte Robben-Tod, sorgte sich Bürgermeister Hoppe, werde »potentielle Gäste verschrecken«. Die Sterbewelle traf ausgerechnet das Symbol

der Nordsee-Ferienorte: Der Heuler »Robbie« wackelt nahezu durch jedes Plakat des Badeverbunds. Statt »Lustigkeit und Lebensfreude«, fürchtete Hoppe, könnte das Werbe-Tier bei Touristen künftig Gedanken an Tod und Krankheit aufkommen lassen.

Ähnliche Sorgen plagten Dänemarks Tourismus-Planer; zehn Prozent des dänischen Ferien-Umsatzes kommen aus der Bundesrepublik: »Wenn der Algenangriff in den nächsten 14 Tagen schlimmer werden sollte, riskieren wir einen Absturz bei der Anzahl deutscher Touristen«, meinte Kurt Larsen, Geschäftsführer des Westjütländischen Tourismus-Verbandes. Bei der größten dänischen Sommerhaus-Zentrale, dem »Dan Center« in Hamburg, gingen massenweise Abbestellungen ein: »Die Westdeutschen«, so Eiler Hansen vom Danske Turistbüro in Hamburg, »sind bekannt dafür, daß sie im Zusammenhang mit Umweltschäden stark reagieren.«

Auf Sylt hatte wegen der toten Robben angeblich noch niemand seinen Urlaub abgebrochen. »Unsere Gäste«, erklärte die Sylter Umweltschützerin Klara Enns die Gelassenheit, »sind resistent.« Aber die Angst, daß die schleimige Algenflut, die sich Mitte letzter Woche auch noch der Kieler Bucht zuwandte, die deutschen Küsten erreichen und verseuchen könnte, wuchs von Tag zu Tag - bei Norwegens Fischfarmern herrschte längst Katastrophenstimmung.

Drei Tage nach seinem Cessna-Flug, am Mittwoch vorletzter Woche, war Ozeanograph Hansen nochmals die Strecke vor den Fjorden abgeflogen, diesmal zusammen mit dem Meeresbiologen und Algenforscher Karl Tangen, in einem »Orion«-Flugzeug der norwegischen Luftwaffe.

Mit einer Serie von Temperaturmessungen aus dem Flugzeug hatten die beiden Experten die Alarmmeldungen bestätigt. »Ich konnte es zuerst gar nicht glauben«, so Tangen, »die Algen füllten die ganze Meeresstraße.« Der Wissenschaftler, auch er ein Mitarbeiter der Firma Oceanor, hat schon manche Algenepidemie erlebt: Die größte an der norwegischen Küste schädigte 1981 eine Fläche von 50 000 Quadratkilometern. Wenige Jahre zuvor war Tangen, bei einer Tagung von 43 Meeresbiologen, mit allen Kollegen nach einem Muschelessen erkrankt: Die Meeresfrüchte, so stellte sich heraus, waren von Algen vergiftet. Diesmal, das war den beiden norwegischen Meeresforschern klar, waren große Teile der norwegischen Fischzucht in Gefahr.

Der erste Versuch, die Fischzüchter vor den anrückenden Algenschwärmen zu warnen, war auf kuriose Weise mißlungen. Gleich nach seinem ersten Rundflug hatte Hansen einen Fischzüchter angerufen, er möge seine Kollegen von der Gefahr unterrichten. Die Antwort des Züchters: Das treffe sich schlecht, er sei »gerade auf dem Weg ins Kino«.

Über Funk und Fernsehen sprach sich der Algenalarm dann doch rasch herum. Krisenstäbe wurden einberufen, so im südnorwegischen Trondheim, dem Sitz der Fischerei-Verkaufsgenossenschaft, wo sich rund 30 Meeresbiologen, Hydrographen und Fischexperten zusammenfanden. Die rund um die Uhr besetzte Kommandozentrale holte fortlaufend Informationen über Lage und Beschaffenheit des etwa 10 bis 20 Meter dicken, mal blaugrün, mal grüngelb schillernden Algenteppichs ein; die gesamte, im Zuge des Ölbooms hochentwickelte Offshore-Technologie wurde dafür eingesetzt: Satelliten, Küstenwachschiffe und Flugzeuge, aber auch spezielle Bojen, die zur Messung von Ölverschmutzungen entwickelt worden sind.

»Vor Stavanger«, so Hydrograph Svein Tryggestad, »kämpften wir wirklich gegen den Tod": Mit einem Strömungstempo von ein bis zwei Kilometern pro Stunde hatten sich die Algenmassen in die riesige Bucht des Boknafjords vorgeschoben (siehe Karte).

An Norwegens Südküste, am Skagerrak, so wußte der Krisenstab, waren die Fischzüchter von den tödlichen Algen überrascht worden - 500 Tonnen Lachse und Forellen starben dort mit verklebten Kiemen. Doch an der Westküste, zwischen Stavanger und Bergen, wo rund ein Drittel aller norwegischen Fischzuchtanlagen konzentriert ist, wußten die Fischfarmen ihr schwimmendes Vermögen _(Auf seiner evakuierten Fischzuchtanlage ) _(in einem Seitenarm des Hardangerfjords. )

gegen die Bedrohung durch den Algenschwall zu schützen.

Über Funktelephon gesteuert von der zentralen Einsatzleitung in Trondheim, evakuierten die Züchter ihre Fischgehege aus den offenen Gewässern an den Fjordmündungen weit ins Fjordinnere, wo das entgegenströmende Süßwasser eine natürliche Barriere gegen die andrängende Algenflut bildete. Im Schneckentempo von 800 Metern pro Stunde zogen Schlepper und Kutter insgesamt 125 Fischfarmen ins Innere der Fjorde, meist in Konvois von drei Zuchtanlagen mit je 20 Netzkäfigen; Pontons, Lagerhäuser, Futtersilos - alles schwamm mit, und auch die Farmer selber in ihren orangefarbenen Overalls.

Drei Tage und drei Nächte war, mit seinen rund 140 000 Fischen (Wert: vier bis sechs Millionen norwegische Kronen), Tore Kvernenes aus Brandasund unterwegs. Aus Trondheim war dem jungen Züchter ein sicherer Platz in einem schmalen Seitenarm des Hardangerfjords angewiesen worden. Dort haust er nun, auf seinem alten Fischkutter, die Stille des lieblichen Fjords wird nur durch das regelmäßige Schrillen der Informationsanrufe aus Trondheim gestört. In den inneren, bewaldeten Schären des Fjords haben sich auch andere Züchter angesiedelt - von den türkis- bis smaragdfarbenen Algenflächen, die auch dort das Gewässer durchziehen, haben die Lachse nichts zu fürchten. Es sind, wie Meeresbiologe Svein Hansen erklärt, die üblichen um diese Zeit blühenden, aber harmlosen Algen.

»Jeder einzelne sollte sich um die Natur mehr kümmern«, schimpfte der übernächtigte Kvernenes, dem die Angst vor dem Verlust seiner Existenz noch anzusehen war. Sollte sich bewahrheiten, was Meeresbiologe Tangen befürchtet - eine Rückkehr der Chrysochromulina polylepis im kommenden Jahr, worauf Erfahrungen mit anderen Algenarten schließen lassen -, sieht Züchter Kvernenes schwarz für die bislang so einträgliche Fischhaltung vor der Küste. Rund eine Milliarde norwegische Kronen, entsprechend 270 Millionen Mark, haben Norwegens Züchter letztes Jahr erlöst - mit 60 000 Tonnen Lachs und Forelle.

Dicht an dicht liegen nun, nach der Schlepp-Aktion, in den bis zu 1000 Meter tiefen Fjordwassern zwischen Stavanger und Bergen die unterseeischen Lachs-Käfige geparkt. Die Evakuierung habe bisher nur wenige Lachse das Leben gekostet, sagt die Genossenschaft; auf der ungewohnten Reise verfingen sich etliche Fische in den Netzen. In den wenigen Gehegen dagegen, die von den Farmern nicht rechtzeitig auf den Haken genommen und verlegt werden konnten, starben alle Tiere.

Die Wirkung der Algen auf die submarine Fauna und Flora, so resümierte Ende letzter Woche auch Lennart Axelsson, Professor an der schwedischen Marinebiologischen Station Kristineberg, sei »verheerend«. In weiten Zonen des Skagerrak und des Kattegat, so Axelsson, sei »bis in eine Tiefe von zwölf Metern praktisch alles Leben ausgelöscht«. Tausende von Tonnen Fisch und Schalentieren verschiedenster Art (und damit gleichzeitig ein ganzer Jahrgang der Brut), aber auch Seesterne und selbst der für Fische lebenswichtige Tang an den submarinen Felsenhängen gingen an der Algenpest zugrunde. Den norwegischen Fischzüchtern brachte der zweiwöchige Algenangriff bisher schon umgerechnet sieben Millionen Mark Verlust.

Für die Meeresbiologen in den Anrainer-Staaten der Nordsee war das Heraufziehen einer bedrohlichen Algenpest keine Überraschung. »Daß so etwas auftritt«, meinte etwa Wolfgang Hickel, Plankton-Ökologe bei der Biologischen Anstalt Helgoland, »damit rechnen wir jederzeit.« Wenn die Umweltbedingungen so extrem verändert würden, meint Hickel, wie das seit Jahren in Nordsee und Ostsee der Fall ist, dann müsse man »mit der Ausbreitung ungewöhnlicher Organismen rechnen«.

Andererseits: Kein Meeresbiologe hat offenbar vorausgesehen, daß gerade die Algenart Chrysochromulina polylepis so plötzlich und so massiv die Oberhand gewinnen könnte. Sie war »urplötzlich da und hat das Rennen um eine ökologische Nische gemacht«, erläutert die Kieler Meeresbiologin Brigitte Babenerd - alle Experten seien von der explosionsartigen Vermehrung der winzigen Alge überrascht worden. »Sie war nie auffällig geworden«, so die Biologin, »und wir hatten sie einfach nicht auf der Rechnung.«

Viele deutsche Meereskundler sahen den winzigen, nur einen hundertstel Millimeter großen Organismus zum ersten Mal unter dem Mikroskop, als letzte Woche Wasserproben aus dem Kattegat im Kieler Meereskunde-Institut eintrafen. Anmutig präsentierte sich das Zwitterwesen, das wie eine Pflanze Licht in Energie umzuwandeln versteht, aber auch wie eine Freßzelle Kleinstlebewesen (zum Beispiel Bakterien) zu verspeisen vermag: Der Körper leuchtet goldgelb, zwei peitschenartige Schwimmfädchen und ein Haftfaden wachsen aus dem kartoffelförmigen Leib.

Warum ausgerechnet der goldige Winzling in der alljährlichen Algenblüte der Ostsee das Rennen machte, darüber

können Planktonologen nur spekulieren: Der Winter war ungewöhnlich mild und vor allem reich an Niederschlägen. So schwemmten die Flüsse neben ihrer üblichen Jahreslast von Phosphaten und Stickstoffverbindungen - allein in die Ostsee geht davon jährlich über eine Million Tonnen - noch große Mengen zusätzlicher Pflanzennahrung aus den Feldern ins Meer.

Möglich, daß der schuppenbewehrte Einzeller aus der großen Familie des pflanzlichen Planktons den Nahrungsschwall besser zu nutzen verstand als seine harmlosen Algenvettern. Möglich auch, daß die natürlichen Freßfeinde im Meeresplankton ihn verschmähten und dem Winzling so zu seiner explosionsartigen Vermehrung verhalfen.

So rätselhaft wie das jähe Wachstum der Flagellaten, wie Biologen die geißelbewehrten Algen tauften, blieb zunächst die tödliche Wirkung der Chrysochromulina auf Fische und andere Meerestiere. Die winzigen Algen, mutmaßten dänische Meereskundler, könnten sich in den Kiemen von Hering, Dorsch und Lachs verankern und den Fischen so die Atemwege verschließen.

Warum aber, fragten Experten wie die Meeresbiologin Babenerd, sterben dann auch Seesterne? Die sternförmigen Muscheljäger zählen zur Familie der sogenannten Darm-Atmer und verfügen über keinen den Kiemen vergleichbaren Atemtrakt.

Spekuliert wird unter Biologen auch über die Möglichkeit, daß die Goldalge ein Gift absondert, welches Fische und Seesterne tötet. Bekannt ist, daß eine nahe Verwandte des Fischkillers Chrysochromulina, die Alge Prymnesium, ein Blutgift ausscheidet, das die roten Blutkörperchen von Fischen zersetzt.

Daß die »Killeralgen« von Skagerrak und Kattegat »einen Giftstoff produzieren, der die Kiemen angreift und zerstört«, vermutete auch der schwedische Marinebiologe Axelsson. Der Giftstoff, so der Professor, »schält die äußersten Zellschichten an den Kiemen ab«, die Fische können keinen Sauerstoff mehr aufnehmen und ersticken. Axelsson: »Es muß sich um einen zentralen Wirkstoff handeln, denn er greift Pflanzen und Tiere an, die völlig verschieden aufgebaut sind.« Auch die norwegischen Wissenschaftler schwenkten schließlich auf die Hypothese ein, die Schreckensalge sondere Giftstoffe ab, und diese Algentoxine töteten die Fische.

Mindestens so umstritten war bis Ende letzter Woche aber auch die Frage nach den unmittelbaren Ursachen der zweiten Todesserie in Nord- und Ostsee: Daß bei dem Massensterben von Robben Herpes-Viren im Spiel waren, konnte durch Untersuchungen im dänischen Lindholm und in den Niederlanden nachgewiesen werden; aber welcher Herpes-Typ es genau war, der bei den Meeressäugern die tödliche Lungenentzündung auslöste, blieb unklar.

Die ersten Schreckensmeldungen waren schon Anfang Mai von den dänischen Kattegat-Inseln Anholt und Hesselo eingetroffen - eine große Anzahl der dort lebenden Robben produzierte Fehlgeburten, die Jungrobben kamen um zwei Monate verfrüht auf die Welt und starben.

Inzwischen hat die Robben-Epidemie etwa ein Viertel des Seehundbestandes auf Anholt ausgerottet und auf die Robben-Population im Wattenmeer der Nordsee übergegriffen. Wurden in den Vorjahren im Monat Mai jeweils nur bis zu drei Robben tot an Schleswig-Holsteins Küsten geschwemmt, so lasen Helfer in den letzten Wochen nahezu 60 verendete Tiere an den Stränden auf. Ein Robben-Sterben von diesem Ausmaß, konstatierte der Zoologe Günter Heidemann von der Universität Kiel, sei »an der deutschen Küste ohne Beispiel«.

Bis vor gut fünf Jahrzehnten war der Seehund (Phoca vitulina), der zur Ordnung der Robben gehört, an Deutschlands Küsten noch Freiwild gewesen. Gejagt wurden besonders die Jungtiere, deren Fleisch als Delikatesse gilt ("Eine Mischung aus Rehkeule und Wildschweinrücken"); erstmals im Jahre 1935 regelte das »Reichsjagdgesetz« den Abschuß mit Jagd- und Schonzeiten. 1973 - die Zahl von ursprünglich 2000 bis 3000 Seehunden in der Deutschen Bucht war inzwischen auf 1300 gesunken - wurde ein völliges Verbot der Robben-Jagd ausgesprochen.

Die Meeressäuger mit ihren Rundköpfen und Knopfaugen und ihrem schön gezeichneten Fell, die wegen des von ihnen vermittelten »Kindchenschemas« (wie die Psychologen sagen) Beschützerinstinkte beim Menschen wachrufen, gelten als possierliche Meeresbewohner: Sie beherrschen die Kunst, bei stürmischem Wetter im Wasser zu schlafen; Ohren und Nase schließen sich automatisch, wenn Wasser darüberschwappt. Sie können 40 Minuten lang tauchen, frieren nie, können im Wasser stehend bei beträchtlichem Wellengang ihren Nachwuchs zeugen und den dann auch unter Wasser ernähren: Seehundbabys können saugen, ohne daß die Muttermilch durch Salzwasser verdünnt wird.

In bundesdeutschen Gewässern war es in den letzten Jahren gelungen, die Nachwuchsrate der Robben knapp über die Sterblichkeitsrate zu hieven - nun könnte dieser Trend sich wieder umkehren. Hatten die Experten anfangs gehofft, das Sterben der putzigen Schwimmer werde so plötzlich enden, wie es begann, so zeigten sich die Robben-Kundler Ende letzter Woche »zutiefst überrascht und erschreckt« (Heidemann), »daß das verheerende Seehundsterben« noch anhielt.

In einem waren sich fast alle Experten in den Nordsee-Anrainern Dänemark, Bundesrepublik und Niederlande einig: Die Tiere erlagen den Viren, weil ein geschwächtes Immunsystem sie gleichsam schutzlos dem Angreifer auslieferte.

Indizien dafür, daß die Abwehr der Nordsee-Seehunde geschwächt ist, werden schon seit Jahren beobachtet: schlechte Wundheilung, Zunahme von Krebsgeschwüren und kürzere Lebenserwartung. Ein Experiment holländischer Robben-Forscher wies in die gleiche Richtung: In Schleimhautabstrichen aus dem Rachen und dem Analbereich von Robben zählten die Biologen jeweils dieselbe Anzahl von Parasiten - das deutet darauf hin, daß Krankheitserreger den Verdauungstrakt der Tiere passiert haben, ohne von der körpereigenen Immunabwehr der Robben behelligt zu werden.

In der »reichlich versauten Nordsee«, so Zoologe Heidemann, schwächen viele Schadstoffe die Widerstandskraft der Meeressäuger. Die Tiere seien »stark mit Umweltgiften belastet«. Da reiche dann ein harmloser Erreger, um die Abwehr der Robben zu unterlaufen.

In diese Klage der Meeresbiologen - daß Nord- und Ostsee schon bis an die Grenze des Ertragbaren mit Schadstoffen belastet sind - haben Politiker seit mehr als 15 Jahren eingestimmt. Doch über wohlmeinende Absichtserklärungen ging es bisher kaum hinaus.

Als der britische Thronfolger Prinz Charles im November letzten Jahres die zweite sogenannte Nordseeschutz-Konferenz eröffnete, hielt er sich trotz des festlichen Rahmens im Kongreß-Zentrum zu London nicht mit Floskeln auf. »Wir haben sie«, so umschrieb der ökologisch engagierte Prinz den Zustand der Nordsee, »in eine Kloake verwandelt.« Müßig sei es, da noch Schuldzuweisungen zu verteilen, wer der »schmutzigste Mann in Europa« sei. Charles: »Wir sind alle verantwortlich.«

»Während wir auf die Diagnose warten«, warnte der Prinz, »könnte der Patient Nordsee sterben.« Deshalb müßten jetzt schnell »reale Erfolge« her. »Ich hoffe«, redete er den versammelten Politikern ins Gewissen, »Sie verlassen diese Konferenz nicht nur mit einem neuen Haufen bedruckten Papiers.«

Geschrieben und feierlich verabschiedet wurde in der Tat schon jede Menge Erklärungen zum Schutz der Nordsee. Sei es das »Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus« (Paris, 1981), die internationale Übereinkunft zur gemeinsamen »Bekämpfung von Ölverschmutzung« (Bonn, 1969) oder das Protokoll zur Verminderung des Drecks, den Schiffe ins Meer ablassen dürfen ("Marpol«, 1978) - fleißig unterzeichneten die Staatsmänner in den letzten Jahrzehnten Dokumente, Deklarationen und Maßnahmenkataloge. Indessen wurde die Nordsee jedoch weiter »zur Müllkippe gemacht« (Prinz Charles).

Jahr für Jahr ergießt sich eine Flut von Schadstoffen in das Meer zwischen England und Norwegen, darunter zahlreiche für Tier- und Pflanzenwelt lebensbedrohliche Chemie-Gifte. So gelangen nach dem Nordseeschutz-Bericht der Bundesregierung vom September 1987 pro Jahr rund 11 000 Tonnen Blei, 28 000 Tonnen Zink, 950 Tonnen Arsen, 335 Tonnen Cadmium und 75 Tonnen Quecksilber in die Nordsee - den Dreck aus dem Ärmelkanal gar nicht mitgerechnet.

Hinzu kommen bis zu 150 000 Tonnen Öl, die - etwa von Schiffen und Bohrplattformen - ganz legal ins Meerwasser abgelassen werden dürfen, und etwa 6000 Tonnen Öl, die unerlaubt hinzugekippt werden. Außerdem werden von Kuttern und Kähnen jährlich etwa 20 000 Tonnen Hausmüll über Bord geworfen - mit Scherben, Tauwerk und Plastikhalterungen von »Six pack«-Getränkedosen, die (so der Bericht) als »Fischfallen« wirken können. »Auch Seehunde«, stellten die Beamten fest, seien schon »durch Netzreste erdrosselt aufgefunden« worden.

Von solchen Unbilden sollen die Meeresbewohner nunmehr befreit werden: Laut Beschluß der zweiten Nordseekonferenz dürfen Schiffahrtsabfälle von Ende dieses Jahres an nicht mehr über Bord gekippt werden. Entsprechende Entsorgungseinrichtungen werden in den Häfen gebaut - in Hamburg beispielsweise kann der Müll seit letzter Woche kostenlos abgegeben werden.

Rund 100 000 Tonnen Giftmüll werden Jahr für Jahr auf See verbrannt, fast 60 000 davon kommen von deutschen Häfen. Zudem landen etwa 80 Millionen Tonnen Baggergut und Klärschlamm im Meer, die Schwermetalle enthalten. Alle Nordsee-Anrainer zusammengenommen leiten fast zwei Millionen Tonnen Dünnsäure - per Abflußrohr oder aus Spezialschiffen - in das Nordseewasser.

Zusätzlich werden aus Flüssen, Ableitungsrohren und der Atmosphäre pro Jahr rund 100 000 Tonnen Phosphate und etwa 1,5 Millionen Tonnen Stickstoffverbindungen ins Meer gewaschen - Nährstoffe, die nach Expertenmeinung eine Hauptursache der Überdüngung des Meeres sind und so das explosionsartige Wachstum der »Killeralgen« maßgeblich gefördert haben.

Die Schadstoffe können in den Weiten des nördlichen Randmeeres nicht bis zur

Unschädlichkeit verdünnt und verteilt werden. Denn auch wenn die Nordsee gelegentlich von Stürmen aufgemischt wird, tauschen sich die Wassermassen des mit durchschnittlich 80 Meter Tiefe vergleichsweise flachen Schelfmeeres und des tiefen Atlantik erst über lange Zeiträume aus. Meeresforscher vergleichen die Wirkung der Gezeiten in der Nordsee mit dem Windspiel im Weizen: Die Wogen laufen weiter, die Halme bleiben stehen.

Was immer Chemie-Fabriken oder Kläranlagen in den Rhein, die Elbe oder die Themse einleiten - Weg und Verbleib der Giftschübe sind durch die Meeresströmungen unausweichlich vorgezeichnet. Von Hoek van Holland führt die Schmutzroute, die von Themse und Rheinmündung herkommt, nordwärts bis zur Insel Texel, wo ein Nebenarm ins Wattenmeer abzweigt. Der Hauptstrom schwenkt nach Osten auf die Deutsche Bucht zu.

Beim Borkumriff lagern sich, weil die Fließgeschwindigkeit der Strömung sinkt, größere Mengen nicht wasserlöslicher Bestandteile wie Schwermetalle und chlorierte Kohlenwasserstoffe ab. Der Rest vermischt sich mit den Schmutzfahnen von Weser und Elbe. Der vereinigte Dreck schließlich driftet entlang der nordfriesischen und dänischen Küste in die mittlere und nördliche Nordsee (siehe Graphik Seite 23).

Die Ingredienzen, die Verschmutzer wie Bayer oder BASF dem Rhein beimischen und volkseigene DDR-Betriebe wie Agrochemie Piesteritz oder die Vereinigten Zellstoffwerke Pirna der Elbe zumengen, landen so - zumindest teilweise - in einem Randmeer, dessen »ökologische Uhr bereits auf zehn Minuten nach zwölf steht«, wie der neue Kieler Umweltminister Berndt Heydemann letzte Woche kommentierte.

»Großräumig kontaminiert«, so der Bonner Nordseeschutz-Bericht, ist die See mit dem Schwermetall Blei. Die Konzentration des Pflanzenschutzmittels »Lindan« hat sich binnen weniger Jahre vervierfacht. Vor der deutsch-niederländischen Küste haben die Bonner einen »Belastungsschwerpunkt mit PCBs« ausgemacht, gefährlichen Chlorverbindungen, die unter anderem als Weichmacher in der Kunststoffherstellung verwendet werden. Das Gift findet sich mittlerweile auch in den Eiern von Seevögeln und im Fettgewebe von Robben.

Als »Endverbraucher in der Nahrungskette« (so Umweltminister Heydemann) gehören auch die Seehunde zu den zunehmend chemiegestreßten Meeresbewohnern. Was derzeit an der Nordsee passiert, sind für Heydemann »Zeichen einer todkranken Natur«. Es werde, meinte der Ökologe letzte Woche, »noch zu viel Zeit mit den Fragen nach den Ursachen und mit dem Ruf nach Langfristforschung verbracht«.

Daß rasches Handeln vonnöten sei - darin waren sich die Umweltchefs der Länder letzte Woche einig, zumindest in ihren Verlautbarungen. »Weitere Untersuchungen«, so der hessische Umweltminister Karlheinz Weimar (CDU), seien »nicht nötig: Wir wissen doch, wie sich die Schadstofffracht darstellt«. Statt dessen müsse »das Instrumentarium« nun endlich »wirklich genutzt« werden.

Rechtzeitig hatte sich Bundesumweltminister Töpfer auf den Kamm der Woge geschwungen. Schon am vorletzten Wochenende war er mit dem Butterschiff »Adler VII« in See gestochen, um - Gummihandschuh übergestreift - vor Ort die toten Robben zu befühlen. Als krisengewohnter Katastrophen-Manager brachte er auch gleich eine neue »Sonderkonferenz« ins Spiel.

»Energisch« will Töpfer nun erst mal zusammen mit »den Dänen und Niederländern die Analysen darüber vorantreiben«, ob die Robben am Herpes-Virus verendet sind oder ob ihr Sterben »auch auf andere Vorschädigungen durch Schadstoffe zurückzuführen ist«. Auch sieht er keinen Anlaß, die bis Ende 1989 noch erlaubte Verklappung von Dünnsäure kurzfristig zu verbieten, wie von den Grünen in einem »Notprogramm« gefordert.

Zweimal pro Woche läuft ein Schiff der Nordenhamer Firma Kronos Titan gen Helgoland aus, um seine Giftfracht ins Meer zu schütten. Ein Versuch der Umweltschutz-Organisation »Greenpeace«, die Dünnsäure-Verklappung letzte Woche zu verhindern, wurde per gerichtlichem Eilverfahren zunichte gemacht. Bis zum Verbot darf die Firma noch rund 800 000 Tonnen Dünnsäure ins Meer kippen.

Daß die giftige Brühe, die bei der Titan-Verarbeitung anfällt, etwa schuld am Robbensterben sein könnte, weist _(Am Montag letzter Woche in Nordenham. )

die Firma weit von sich. »Unfug«, so Firmensprecher Friedrich Wagener, »wir haben damit überhaupt nichts zu tun.«

Die »mutigen Beschlüsse« (Töpfer) der zweiten Nordseeschutz-Konferenz will der Bonner Umweltminister jetzt »rasch« in die Tat umsetzen. Das allerdings ist gar nicht so schnell möglich, wie er meint.

Um 50 Prozent beispielsweise sollen nach dem Konferenz-Beschluß die Einträge gefährlicher Chemie-Gifte und Nährstoffe, die von den Flüssen ins Meer geschwemmt werden, bis 1995 reduziert sein. Doch wissen zum Beispiel die deutschen Bundesländer noch gar nicht, wie das geschehen soll. »Entsprechende Überlegungen«, so stellten sie lapidar in einer Sitzung der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser ("Lawa") im Februar in Berlin fest, »stehen noch aus.«

Zudem sieht die von Töpfer vorgelegte Änderung der »Abwasser-Verwaltungs-Verordnung« für Kläranlagen, die im Mai vom Bundesrat gebilligt wurde, lediglich vor, eine weitere Reinigungsstufe zur Eliminierung der Phosphate einzuführen. Die sogenannte Denitrifikation hingegen, die Beseitigung der Nitratstoffanteile aus dem Abwasser, ist darin - entgegen der ausdrücklichen Experten-Empfehlung - gar nicht vorgesehen (siehe Interview Seite 24).

»Nichts als heiße Luft« sei es, kritisierte denn auch Hubert Kleinert, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, was Töpfer zu bieten habe. Und der Hamburger Umweltstaatsrat Fritz Vahrenholt fragt: »Was eigentlich muß noch passieren, bis endlich was geschieht?«

Ein Hauptverursacher des schädlichen Nährstoffeintrags in die Nordsee ist inzwischen die Elbe. Allein 180 000 Tonnen Stickstoffverbindungen und 12 000 Tonnen Phosphate gelangen von dort ins Meer. Auch die Quecksilberwerte des deutsch-deutschen Grenzflusses liegen zehn- bis 30mal höher als die des Rheins. Der Dreck ist zumeist schon an der Meßstation Schnackenburg gleich hinter der innerdeutschen Grenze im Elbwasser auszumachen: über 160 000 Tonnen Stickstoffverbindungen, 112 Tonnen Arsen und massenhaft chlorierte Kohlenwasserstoffe - so die Bilanz 1986.

Ob es das »Chemiekombinat Bitterfeld« bei Dessau ist, die größte Pestizidfabrik der DDR, ob die »VEB-Filmfabrik Wolfen« oder die »Chemischen Werke Buna« in Schkopau bei Karl-Marx-Stadt - »zwei Drittel des DDR-Staatsgebietes«, sagt Vahrenholt, »werden über die Elbe entwässert«. Und oftmals, wie etwa in Bitterfeld, fließen die Abwässer aus der Chemie-Produktion »direkt und ohne irgendeine Kläranlage« ab, wie eine Untersuchung des Umweltbundesamtes ergab.

Diese enormen Giftfrachten lassen sich gar nicht halbieren. »Statt publicityträchtig nach Sylt zu pilgern«, empfiehlt Vahrenholt dem Bundesumweltminister, solle Töpfer »sich endlich mit dem Hauptverschmutzer DDR zusammensetzen«.

Doch auch wenn Töpfers Worten Taten folgen und wenn die vagen Zusagen der übrigen Anrainer-Staaten eingelöst werden sollten - fraglich bleibt, ob ökologische Katastrophen wie die der letzten beiden Wochen dann schon ein für allemal auszuschließen wären.

So gestört sind bereits jetzt die vielfältigen ökologischen Gleichgewichte in Nord- und Ostsee, daß selbst ein sofortiger Stopp aller Einleitungen - ohnehin illusorisch - die Natur noch nicht wieder versöhnen würde; der Vorgang ist vergleichbar einem vollbeladenen Riesentanker mit hoher Fahrt, der trotz des Kommandos »Alle Maschinen stopp!« noch viele Kilometer weiterlaufen müßte, ehe er sich langsam auf der Stelle drehen ließe. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß nicht nur in Nord- und Ostsee, sondern auch in anderen Meeresregionen die Lebensverhältnisse schon irreversibel verschoben sind.

Seit Jahren finden die Planktonforscher vor allem in küstennahen Bereichen Hinweise, daß die gesamte Ökologie des Phytoplanktons, der pflanzlichen Algenwelt, durcheinandergerät. Schuld daran ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vor allem der künstlich erhöhte Eintrag von Phosphaten und Nitraten durch Flüsse und verschmutzte Niederschläge. So hat sich allein im Bereich der Deutschen Bucht der Phosphatgehalt des Nordseewassers seit 1962 nahezu verdoppelt (siehe Graphik Seite 22) - im Mikrokosmos des Planktons entsteht so ein gänzlich veränderter Lebensraum.

Daß die Algen »blühen«, sich also durch plötzliche Vermehrung zu riesigen Teppichen auf der Wasserfläche ausbreiten, hat es zu allen Zeiten gegeben, vor allem während der Frühjahrsmonate. In dieser Jahreszeit ist das Nährstoffangebot im Wasser natürlicherweise hoch, weil während der Dunkelheit und Kälte im Winter das Algenwachstum absinkt und dementsprechend kaum Nährstoffe verbraucht werden.

Neuerdings aber hält die Nährstoffflut, die die Algen mästet, das ganze Jahr über an. Immer häufiger kommt es in küstennahen Gewässern auch während der Sommermonate zur explosionsartigen Vermehrung der Einzeller. In ihrer Vermehrung begünstigt werden zumeist Algen aus der Klasse der Flagellaten, zu denen eine ganze Reihe ökologisch schädlicher und sogar hochgiftiger Arten gehören (siehe Graphik Seite 22).

Während der Massenvermehrung ballen sie sich zu einem Brei zusammen, der in den meisten Fällen rot schimmert - daher der in der Forschung verbreitete angelsächsische Begriff »Red Tide« (Rote Flut), der schon auf biblische Schilderungen (Moses II, Kapitel 7, Vers 21)

zurückgeht. Vor allem die Bewohner und Fischer der amerikanischen Ostküste, besonders in Florida, leiden seit Jahren immer wieder unter einer Flagellatenart, die schon beim bloßen Kontakt mit der Haut Entzündungen und allergische Reaktionen hervorruft.

Noch gefürchteter sind die roten Fluten der Algenart Gonyaulax. Sie produziert das Nervengift Saxitoxin, von dem schon ein tausendstel Gramm ausreicht, einen Menschen zu töten. Gefahr droht vor allem, wenn sich das Gift in Muscheln anreichert - fast alle schweren Muschelvergiftungen sind auf diese Algenart und ihr Verwandten zurückzuführen.

An der Nordostküste der USA hat Gonyaulax den Fisch- und Muschelfang schon empfindlich beeinträchtigt. Doch auch den dänischen und norwegischen Muschelfischern droht die Giftalge neuerdings das Geschäft zu verderben. Letztes Jahr mußten die skandinavischen Behörden wegen drohender Saxitoxin-Vergiftungen Ernte-Verbote aussprechen. Ähnlich war es in den Jahren zuvor ihren Kollegen an der englischen Ostküste ergangen.

»Weltweit«, so erklärte der amerikanische Meeresbiologe Donald M. Anderson letztes Jahr auf einem Symposion in Japan, habe es »in den letzten zwei Jahrzehnten eine Ausdehnung der Algenblüte gegeben«, und zwar sowohl was die Häufigkeit als auch was die Größe der Algenteppiche und ihre geographische Verbreitung angehe.

Schon der Sommer 1987 erschien in den Annalen der Ozeoanographie als ein besonderes Krisenjahr für die Küstengewässer: Ein rätselhaftes Delphin-Sterben, bei dem rund 200 tote Tiere an Land geschwemmt wurden, gab es an der amerikanischen Ostküste zwischen New Jersey und Virginia; enorme Algenblüten wurden weltweit, rätselhaftes Fischsterben in vielen Gegenden der Weltmeere beobachtet. In Champerico, Guatemala, starben 26 Menschen nach dem Verzehr von Schellfisch, der durch eine toxische Algenart namens Pyrodinium bahamense vergiftet worden war.

80 Millionen Algen pro Liter Meerwasser wurden letzte Woche, auf dem Höhepunkt der Katastrophe, in Skagerrak und Kattegat gemessen, ein »extrem hoher Wert«, wie der Kieler Meeresforscher Ulrich Horstmann konstatierte.

Gegen Ende der Woche gab es, jedenfalls für die Nordsee, erst einmal Entwarnung. Die Algenfront wurde weiter ins offene Meer hinausgetrieben und verdünnt. Norwegische Wissenschaftler stellten fest, daß die Algen, nachdem sie die reiche Nahrung an der Meeresoberfläche »abgegrast« hatten, nunmehr »in schlechtem Zustand« seien - dem Massensterben der Fische folgte ein massenhaftes Absterben der Algen.

Damit kam erst der zweite Teil der schweren ökologischen Belastung auf die Nordsee zu: Im selben Maße, wie die enormen Mengen organischer Substanzen auf den Meeresgrund absinken, werden Nord- und Ostsee in den tieferen Wasserschichten vergiftet. Bakterien verzehren die Algenreste - ebenso wie niedersinkende Fischkadaver - und verbrauchen dabei große Mengen von Sauerstoff, der sonst im Wasser gelöst ist.

Als nächstes übernehmen dann sogenannte anaerobe, des Sauerstoffs nicht bedürftige Bakterien das Bestattungsgeschäft. Dabei werden große Mengen Schwefelwasserstoff freigesetzt - ein Gift für alle höheren Meereslebewesen. Zumindest Teilen der Ostsee droht damit das Schicksal des Schwarzen Meeres: eines Gewässers, dessen Tiefenschichten wegen der geringen Wasserdurchmischung seit Jahrtausenden vom Schwefelwasserstoff verödet worden sind - alles Leben ist erstorben.

Auf den mutmaßlich engen Zusammenhang zwischen Öko-Störungen in den Weltmeeren und anderen Katastrophen, die sich auf dem Raumschiff Erde anbahnen, wiesen Wissenschaftler hin, die sich Ende vorletzten Monats zu einem Ozeanographen-Meeting ("Dahlem Workshop") in West-Berlin zusammenfanden.

Die Frage beispielsweise, wieviel Kohlendioxid und wieviel Stickstoff in den Weltmeeren gelöst sind, hängt eng zusammen mit dem Klimagleichgewicht auf der Erde - der befürchtete »Treibhauseffekt« oder auch kommende Eiszeiten könnten so mittelbar auf die Algenschwemme in den Weltmeeren zurückgehen.

Immerhin gab es in Berlin auch tröstliche Spekulationen: Seltsamerweise, so _(Im Klinikum der Universität Kiel. )

trug der kalifornische Meeresforscher Lou Codispoti vor, komme offenbar nur ein geringer Teil der nach einer Algenblüte absterbenden Mikroorganismen am Grunde des Meeres an. Wo der Rest der Biomasse bleibe, wisse bislang niemand. Mag sein, sie wird in anorganischen Kohlenstoff verwandelt und durch physikalische Prozesse wegtransportiert. »Oder sind da vielleicht in den Tiefenschichten der Ozeane ''Krümelmonster''«, so Codispoti in Berlin, »die alles in sich hineinschaufeln?«

An Überraschungen war bei der Dahlem-Tagung auch sonst kein Mangel. Sehr viel häufiger als bisher angenommen finden sich riesige Algenteppiche neuerdings auch weit draußen in offener See, wie Satellitenaufnahmen gezeigt haben. Und womöglich gibt es noch einen anderen, bisher nicht beachteten Faktor, der das Algenwachstum begünstigt oder bremst: das Vorhandensein des Spurenelements Eisen im Meerwasser.

Deutlich wurde beim »Dahlem Workshop«, daß die Zahl der offenen Fragen auch bei den Meeresforschern beinahe exponentiell zunimmt - jedenfalls ist keiner von ihnen in der Lage, das maritime Öko-Puzzle auch nur in Umrissen zusammenzusetzen.

Auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Öko-Unfällen, wie sie jetzt in Nord- und Ostsee eintraten, und anderen von Menschen verursachten Umweltkatastrophen hat der amerikanische Wissenschaftler Charles Perrow von der Yale University in New Haven hingewiesen.

Bei Desastern wie dem Reaktorunglück von Tschernobyl, dem Giftgasunfall von Bhopal oder der Dioxin-Katastrophe von Seveso, so Perrow, seien in allen Fällen das Unheil und seine Folgen im Prinzip vorhersehbar gewesen. Durch rechtzeitiges Erkennen der Ursachen hätten die Katastrophen vermieden werden können.

Bei Ökosystemen dagegen, konstatiert Perrow, sei »keine vorherige Risikoeinschätzung möglich«. Was passiert, wenn die Regelkreise der Natur durcheinandergeraten, läßt sich mit wissenschaftlichen Methoden bislang kaum vorausberechnen.

Bis heute beispielsweise laborieren die Forscher an ökologisch schlüssigen Erklärungsmodellen für das Waldsterben oder auch für das über der Antarktis klaffende Loch in der irdischen Ozonhülle.

Beim Waldsterben wird die Liste der inkriminierten Giftstoffe immer länger. Beim Ozonloch sind zwar die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Hauptstörenfriede ausgemacht; doch je tiefer die Wissenschaftler in die Chemie der Erdatmosphäre hineinleuchten, desto komplizierter erweisen sich die dort ablaufenden Kettenreaktionen.

Am Südpol-Himmel ebenso wie im Kattegat, so lehrt mittlerweile die Erfahrung, lassen sich im Gewimmel der Gift- und Schadstoffe einzelne Hauptschuldige kaum mehr dingfest machen - ein Umstand, der nicht nur von ökologischer, sondern auch von politischer Bedeutung ist. Denn wo die Ursachen dunkel bleiben, kommen auch die Verursacher ungeschoren davon.

Am Beispiel des Waldsterbens, eines »Unfalls in Zeitlupe« (so ein französischer Beobachter), läßt sich ablesen, wie die Deutschen mit einer Öko-Katastrophe auf längere Sicht zurechtkommen.

Erst wurden die Autofahrer, danach die Kohlekraftwerke für schuldig erklärt, und übrig blieb dann im wesentlichen das alljährliche Ritual der »Waldschadensinventur": Mit Hilfe statistischer Tricks ist es Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle inzwischen gelungen, dem Baumtod Einhalt zu gebieten.

Versuche, etwa das Waldsterben oder die Vergiftung der Nordsee durch international verbindliche Rechtsvorschriften einzudämmen, sind, wie der Jurist Peter Cornelius Mayer-Tasch resümiert, bisher kläglich gescheitert. Vor allem Länder mit »aktiver Emissionsbilanz«, wie etwa Großbritannien, die mehr Schadstoffe an ihre Nachbarn abgeben, als sie von ihnen empfangen, sorgen dafür, daß transnationale Umweltabkommen durch »unbestimmte Rechtsbegriffe« fast stets »bis zur Zahnlosigkeit entschärft« werden (Mayer-Tasch).

Im Zweifel siegen ohnehin Wirtschaftsinteressen über den Naturschutz - was die Bürger mit Stillschweigen hinnehmen: Schließlich schwanken sie selber unentschlossen zwischen ihrer Angst vor Öko-Schäden und dem Wunsch nach einem möglichst ungestörten Leben im Wohlstand.

Die niemals schlafende Evolution, so glaubt der Biologe Hubert Marl, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sei nun schon seit längerem dabei, sich der Lücken zu bemächtigen, die der technische Fortschritt ins unendlich dicht geknüpfte Netz der Natur gerissen hat.

Seit, durch den Eingriff des Menschen, die Artenvielfalt auf der Erde immer rascher schrumpfe, so Markl, sei mit einer »Gegenevolution« zu rechnen, die einen »ungeheuer wirkungsvollen, vielfältigen und kaum vorhersehbaren Selektionsdruck auf zahllose andere Lebensformen« ausübe.

In der Praxis bedeutet das: Wo etwa als schädlich stigmatisierte Bakterien, Kräuter, Insekten oder Wildtiere ausgerottet werden, rücken zuvor in Schach gehaltene Konkurrenten nach. Wo künstlich erzeugte Monokulturen - Pflanzen oder in Massen gezüchtete Nutztiere - überhandnehmen, finden deren natürliche Widersacher ideale Ausbreitungsmöglichkeiten. Und wo die Nährstoffbilanz, wie jetzt in Nord- und Ostsee, massiv aus dem Gleichgewicht gerät, explodieren plötzlich Arten wie die Killeralge Chrysochromulina polylepis.

»Die Natur schlägt zurück«, so überschrieb Biologe Markl seine Veröffentlichung Ende letzten Jahres in der »Zeit«. Alles spreche dafür, meint der Biologe, »daß wir künftig all unser Wissen und Können werden aufbringen müssen, um mit der Gegenevolution zurechtzukommen«.

[Grafiktext]

Trondheim Bergen Norwegen Oslo Boknafjord Stavanger Flekkefjord Kristiansand Schweden Skagerrak Göteborg Kattegat Nordsee Dänemark Ostsee Bundesrepublik Sylt Helgoland Kiel Cuxhaven Algen- und Fischsterben Robbensterben Strömungsverlauf MAST-FUTTER FÜR »KILLERALGEN« Nährstoff-Anstieg in der Deutschen Bucht bei Helgoland; Angaben in Mikrogramm pro Liter anorganisch gelöster Stickstoff (Ammonium, Nitrit, Nitrat) anorganisch gelöstes Phosphat Quelle: Biologische Anstalt Helgoland WACHSTUMSVORTEIL FÜR SCHÄDLINGE Zunahme der Flagellaten im Phytoplankton der Deutschen Bucht bei Helgoland. Monatsmittelwerte der Jahre 1962-67 und 1980-85; Angaben in Mikrogramm Kohlenstoff pro Liter (Äquivalent der Algenhäufigkeit) Quelle: Biologische Anstalt Helgoland GIFT VON ALLEN SEITEN Schadstoff-Einleitungen der Anrainer-Staaten in die Nordsee Magnus Thistle Statfjord Brent Bergen Shetland-Inseln Alwyn Odin Frigg Orkney-Inseln Heimdal NORWEGEN Stavanger Forties Bream Kristiansand Montrose Aberdeen Dundee Josephine Ekofisk Eldfisk Edinburgh Argyll DÄNEMARK Fredericia Dan Esbjerg NORDSEE Teesport GROSSBRITANNIEN Helgoland Heode Hull Wilhelmsnaven Hamburg Manchester Viking Placid Emden Trent NIEDERLANDE Bremen Birmingham AMSTERDAM Weser BUNDESREPUBLIKDEUTSCHLAND Rotterda Themse Rhein LONDON Dünkirchen Antwerpen Siythampton BRÜSSEL Lille BELGIEN Ölfelder Verdlappungszonen Eisen- und Stahlerzeugung Aluminirm- und andere Buntmetallhütten Gasfelder Kernkraftwerke metallverarbeitende Pipelines Chemische Industrie Industrie Schwermetallhaltige Abwässer Raffinerien und Petrochemie Textilindustrie (Blei, Kupfer, Chrom, Cadmium) Raffinerien und Petrochemie Textilindustrie »ALGENBLÜHEN«-ALARMSIGNAL IN DEN WELTMEEREN Lebenszyklus der Meeresalge Ptychodiscus brevis (schematische Darstellung) Eine der Algenarten, die an der sogenannten »Roten Flut« beteiligt sind und deren Lebenszyklus wenigstens teilweise erforscht ist, ist die Art Ptychodiscus brevis. Angetrieben von einem Geißelfaden (Flagellum), der um den Zellkörper verläuft, und gesteuert von einem zweiten, schwanzförmigen Geißelfaden, schwimmt der pflanzliche Einzeller im Meer (1). Unter bestimmten Bedingungen entwickeln sich männliche und weibliche Zellformen (2), die sich zu einem zweischwänzigen Gebilde vereinen (3). Wie die Wissenschaftler vermuten, entwickelt sich daraus eine Zystenform (4), die zum Meeresboden niedersinkt und dort für lange Zeiträume verweilen kann. Zu einem späteren Zeitpunkt, wahrscheinlich unter Strömungseinfluß oder ausgelöst durch Veränderungen von Helligkeit, Wassertemperatur oder Sauerstoffgehalt des Meeres, bricht die Zyste auf. Beim Aufbrechen der Zyste wird vermutlich ein mobiles Zellgebilde freigesetzt (5), dessen Form für die Spezies Ptychodiscus brevis noch nicht bekannt ist. Diese Urzelle teilt sich in vier Tochterzellen (6). Zur Zeit der »Algenblüte« teilt sich wiederum jede Tochterzelle (7) und produziert zwei identische Zellen (8), die sich ihrerseits wieder und wieder teilen können. Auf diese Weise können aus jeder Zyste Tausende von neuen Einzellern entstehen, die-zu riesigen Algenteppichen vereinigt - den Fischen den Sauerstoff rauben oder sie durch Absonderung von Giftstoffen töten. Illustration: Michael Rothmann, New York Times

[GrafiktextEnde]

Auf seiner evakuierten Fischzuchtanlage in einem Seitenarm desHardangerfjords.Am Montag letzter Woche in Nordenham.Im Klinikum der Universität Kiel.

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