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Atommüll Normalfall Störfall

Nach einer Studie ist die französische Nuklearanlage in La Hague, die westdeutschen Atommüll aufarbeitet, ein erhebliches Sicherheitsrisiko.
aus DER SPIEGEL 4/1990

Die westeuropäische Atomwirtschaft ist jedesmal erleichtert, wenn heftige Stürme an die bretonische Steilküste peitschen. Dann verteilen Wind und Wellen gefährliche radioaktive Partikel, die aus der französischen Atommüll-Fabrik La Hague stammen, in alle Himmelsrichtungen. In Wackersdorf, urteilt der Hannoveraner Physiker und Ökologe Helmut Hirsch, 40, »wäre so ein Ding nie gebaut worden«.

In einer bisher unveröffentlichten Studie für die Umweltorganisation Greenpeace haben Hirsch und französische Atomexperten das »Restrisiko« der größten Wiederaufarbeitungsanlage der Welt untersucht. Im Herzstück der europäischen Atommüll-Entsorgung landen rund zwei Drittel aller abgebrannten Brennelemente aus den 20 westdeutschen Meilern.

Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend: Geheimgehaltene Daten aus der militärisch-zivilen Nuklearindustrie Frankreichs belegen, so der Pariser Co-Autor Mycle Schneider, 30, daß von der Fabrik »weitaus höhere Umweltgefahren ausgehen als bisher bekannt«.

In La Hague befindet sich derzeit der neue Betriebsteil UP 3, von westdeutschen Stromkonzernen mitfinanziert, im Probelauf. Diese »Usine Plutonium« der Staatsfirma »Compagnie generale de matieres nucleaires (Cogema)« soll Plutonium und Uran aus dem verbrauchten Brennstoff von Kernkraftwerken chemisch abtrennen.

Das Verfahren gilt als eines der risikoreichsten im gesamten Brennstoffkreislauf. In der Steuerzentrale, die mit 1000 Quadratmetern fast so groß ist wie bei der US-Raumfahrtagentur Nasa, sei »der Störfall« jetzt schon »der Normalfall«, sagt Nuklearexperte Hirsch.

Bei Probeläufen in UP 3 versagten etwa im November ein Ventil sowie wichtige Teilchenfilter, eine rötliche Wolke strömte aus. Im gleichen Monat geriet ein Behälter für schwachaktiven Atommüll in Brand, den die Mannschaften mit Handfeuerlöschern bekämpften.

61 Pannen waren in zwölf Jahren in La Hague zu bewältigen: Leckagen, Feuer, Ausfälle elektrischer Systeme und, »besonders schwerwiegend«, Risse in den Abwasserleitungen. Nur das britische Sellafield liegt mit 111 »Ereignissen« in der internationalen Störfall-Liga der Atomentsorger weiter vorne.

Auch die zulässigen Höchstwerte für die radioaktive Belastung von Mensch und Umwelt liegen in La Hague, so die Studie, um »ein Vielfaches« über dem westdeutschen Standard. Von den Strahlenstoffen Krypton 85 und Tritium dürfen in La Hague bis zu dreimal mehr durch den Kamin gehen, als etwa für die voriges Jahr aufgegebene Atomanlage in Wackersdorf genehmigt worden wäre. Im Abwasser sind sogar bis zu 4000mal mehr sogenannte Alpha-Strahler wie Plutonium enthalten.

Das Edelgas Krypton 85, das beim Zerkleinern und Auflösen der Brennstäbe frei wird, gerät »zu 100 Prozent« in die Umwelt, stellt die Studie fest. Die Angaben der Betreiberfirma Cogema über den radioaktiven Stoff, der beim Menschen Hautkrebs erzeugen kann, seien »nicht widerspruchsfrei«. Schon 1983 hatte ein Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaft auf den rätselhaften Krypton-Schwund hingewiesen. Hirsch: »Die haben das meßtechnisch nicht im Griff.«

Auch die Strahlenbelastung der Beschäftigten, so der Vorwurf, werde »nicht vollständig« und »unklar« angegeben. Wenn die Risiken in La Hague sorgfältig bewertet würden, resümiert die Studie, sei der »Weiterbetrieb der Anlage fraglich«.

Möglicherweise hat sich damit der Düsseldorfer Konzern Veba 1989 eine gefährliche Zeitbombe eingehandelt. Nach einem »Memorandum of Understanding« von Veba und Cogema können die Westdeutschen »bis zu 49 Pro* Nach dem Brand eines Lagersilos 1981. zent« einer gemeinsamen Atommüll-Fabrik in La Hague übernehmen. Bis zum Jahr 2000 dürfen bereits 2489 Tonnen westdeutscher Atommüll angeliefert werden, von 1999 an zusätzlich rund 500 Tonnen jährlich. Eine weitere Option besteht bis zum Jahre 2015.

La Hague, das gegenüber den Investitionen für eine Wiederaufarbeitung in Wackersdorf anfänglich als preisgünstig erschien, könnte sich noch als teurer Flop erweisen. Schon haben die französischen Bauherren die Kosten für den Betriebsteil UP 3 um gut ein Viertel auf neun Milliarden Mark nach oben korrigiert. Zusätzliche Forderungen will allerdings Peter-Carl Rühland von der Veba-Tochter PreussenElektra ausschließen: »Die Verträge stehen fest und damit die Kosten.«

In einem Positionspapier des Bonner Umweltministeriums wird jedoch vor »Folgekosten durch Nachrüstungen auf den deutschen Sicherheitsstandard« gewarnt. So brütet seit Abschluß des deutsch-französischen Atom-Deals denn auch eine Expertenkommission über dem Problem. Mit Ergebnissen kann der Bonner Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) erst »Ende 1990« rechnen.

In der Greenpeace-Studie sind Erkenntnisse über die Schwachstellen des strahlenden Joint-venture schon mal nachzulesen. Die komplizierte Wiederaufarbeitungstechnik vervielfacht - paradox - den Atommüll.

Unterschiedlich radioaktiv verseuchte Flüssigkeiten, Schlämme, Zementblöcke und anderer strahlender Unrat fallen in Massen an: Aus jedem Kubikmeter Atommüll werden letztlich mindestens 16 Kubikmeter Strahlen-Schrott.

Die Abfälle lagern in La Hague teilweise unter freiem Himmel. Auf einem umzäunten Gelände neben der Atomfabrik sind meterhoch runde Betonbehälter mit schwach-radioaktiven Stoffen gestapelt - sie sollen später mit Humus-Erde bedeckt und »begrünt« werden.

Fast 2000 Kubikmeter hochaktiver Abfall in stählernen Tanks müssen rund um die Uhr abgekühlt werden. Ein Ausfall der Notstromaggregate etwa bei Naturkatastrophen oder Terroranschlägen kann nach Greenpeace-Berechnungen binnen »drei bis zwölf Stunden« zu »Freisetzungen« führen. Deshalb hatte bereits 1979 der niedersächsische Ministerpräsident und Atombefürworter Ernst Albrecht (CDU) vor dem »gewaltigen radioaktiven Potential« solcher Risiko-Lager im heimischen Gorleben gewarnt.

Für den schlimmsten Fall errechneten die Atomkritiker ein erschreckendes Szenario: Versagen im Eingangslager für Brennelemente die komplizierten Wärmetauscher und Kühlaggregate, verkocht in wenigen Tagen das Beckenwasser. Bei 1000 Grad reagiert das Metall Zircaloy in den Brennstabhüllen mit dem Wasserdampf, das Gebäude explodiert. Es kommt zu »katastrophalen Freisetzungen« von Radioaktivität, vor allem durch Cäsium und Ruthenium, in die Atmosphäre. Bis an die sowjetische Grenze erstreckt sich dann bei vorherrschenden Westwinden die Zone der Verseuchung quer durch Europa.

Das Atomgesetz aber schreibt eine für Westdeutschland »schadlose Verwertung« der Kernbrennstoffe vor, andernfalls wird der Betrieb von Kernkraftwerken nicht genehmigt. Die ganze westdeutsche Entsorgung hängt an der Anlage von La Hague. Das dortige Sicherheitskonzept stehe jedoch, so die Autoren der Studie, auf »tönernen Füßen«.

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