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»Notanschluß unvermeidlich«

Nachdem Ministerpräsident de Maiziere vier Minister - darunter SPD-Finanzminister Romberg - entließ, erwägen die koalitionsmüden DDR-Sozialdemokraten, dem Einigungsvertrag die nötige Zustimmung zu verweigern. Die Folge wäre ein schneller Anschluß auf Basis eines Überleitungsgesetzes - was Bonn schon lange will.
aus DER SPIEGEL 34/1990

Die Mitteilung, die DDR-Finanzminister Walter Romberg (SPD) am Mittwoch voriger Woche gegen 18.15 Uhr in seinem Amtszimmer erhielt, war kurz - und auffallend ungenau formuliert. Er habe ihm im Auftrage Lothar de Maizieres zu sagen, so am Telefon der CDU-Minister Klaus Reichenbach, Chef im Amt des Ost-Berliner Ministerpräsidenten, daß der Regierungschef den Finanzminister »für morgen als entlassen ansieht«.

Woher de Maiziere das Recht zum Rausschmiß seines Finanzministers nehme, ließ Reichenbach bewußt offen. Auch ihm war klar, daß die Strafaktion des Ministerpräsidenten, dessen Kabinettskollegen gemäß geltender DDR-Verfassung von der Volkskammer gewählt und abberufen werden, auf rechtlich dünner Basis stand.

Den Juristen de Maiziere schien dies, entgegen sonstiger Paragraphen-Pedanterie, plötzlich nicht mehr zu irritieren. Neben Romberg warf der Christdemokrat Mitte voriger Woche den parteilosen, jedoch auf SPD-Posten agierenden Landwirtschaftsminister Peter Pollack mit aus seinem Kabinett.

CDU-Wirtschaftsminister Gerhard Pohl und der neuerdings ebenfalls parteilose, seit langem für eine Demission reife Ex-LDPD-Justizminister Kurt Wünsche durften mitgehen - diese der besseren Optik wegen »auf eigenen Wunsch«.

Das war der einzige Anfall von Rücksichtnahme, den sich de Maiziere bei seinem Rundumschlag leistete. Ansonsten geriet ihm bei seiner radikalen Aufräumarbeit die Stillosigkeit zum vorherrschenden Stilmittel.

So informierte er zwar vorab seinen Bonner Parteifreund, CDU-Kanzler Helmut Kohl, nicht jedoch seinen Ost-Berliner Koalitionspartner, SPD-Chef Wolfgang Thierse. Auch Finanzminister Romberg, sonst auf Du mit dem Ministerpräsidenten, erhielt seine Kündigung nicht persönlich, sondern ausschließlich durch de Maizieres Adlatus Reichenbach - und das zehn Minuten vor dem Presseauftritt des Kabinettschefs.

Für die Ost-Berliner Sozialdemokraten gab es danach kein Zurück mehr: Sie mußten, um nicht erneut öffentlich düpiert zu werden, die Große Koalition verlassen. »Bis an den Rand der Selbstverleugnung«, so Parteichef Thierse am Donnerstag voriger Woche, habe die SPD bisher an dem Ost-Berliner Regierungsbündnis festgehalten. Jetzt sei Schluß. Die Reaktionen de Maizieres würden »immer abenteuerlicher«.

Und er drohte, die SPD - der monatelangen Bevormundung überdrüssig - werde nun auch den Einigungsvertrag scheitern lassen, der bislang nicht mehr als ein »kaschierter Übergabevertrag« sei.

Dem Ministerpräsidenten rutscht damit der Boden unter den Füßen weg. Wenn die Große Koalition zerbrochen und der Einigungsvertrag gescheitert sind, bleibt nur noch ein Ausweg - der schnelle, bedingungslose Beitritt, womöglich kurz nach Abschluß der Zwei-plus-Vier-Gespräche am 12. September in Moskau (siehe Seite 23).

Die trotzigen Versicherungen des DDR-Regierungschefs, er halte am Wahltermin 14. Oktober und am vorherigen Abschluß eines Vereinigungsvertrages fest, wirkten wenig überzeugend. Mit der selbstherrlichen Säuberung der vorigen Woche hat Lothar de Maiziere schlagartig und endgültig all das aufs Spiel gesetzt, was er bei Dienstantritt als Ministerpräsident erreichen wollte: einen würdevollen Einheitsprozeß, vermittelt durch einen partnerschaftlich ausgehandelten Einigungsvertrag, in dem die DDR-Bevölkerung ihre Interessen auf lange Sicht sichern könnte.

Jetzt stürzt ineinander, was zusammenwachsen sollte, das Land versinkt im Chaos. Das Ende der Koalition läutet das schnelle Ende der DDR ein. »Der Notanschluß«, so ein DDR-Minister, »ist unvermeidlich.«

Die Konsequenz dieses Zerfallsprozesses hätte auch dem Premier klar sein müssen. Der Rauswurf von zwei der SPD zugerechneten Ministern ohne vorherige Abstimmung mit den Sozialdemokraten mußte den endgültigen Bruch der Koalition bedeuten - und damit den freien Fall der DDR weiter beschleunigen. Und auch die Entlassung der beiden anderen Ressortchefs löst kein Problem.

Schon die Tatsache, daß die jetzt verwaisten Ressorts Justiz, Finanzen, Landwirtschaft und Wirtschaft statt von neuen Ministern von bereits vorher für deren Politik mitverantwortliche Staatssekretäre verwaltet werden, zeigt die Absurdität der Entlassungen: Die paar Wochen bis zur Vereinigung hätte de Maiziere die jetzt geschaßten Minister noch mit durchziehen können.

Daß Landwirtschaftsminister Pollack, der lieber urlaubte, als die Probleme der Agrarier zu lösen, der schon zu Ulbricht-Zeiten amtierende Justizminister Wünsche (SPIEGEL 24/1990) und der unfähige Wirtschaftsminister Pohl (SPIEGEL 25/1990) nicht ministrabel waren, galt in Ost-Berlin und Bonn seit langem als ausgemacht.

Doch auf der internen Liste, nach der bereits im Juni das Kabinett umgebaut werden sollte, standen weitere Laiendarsteller zum Auswechseln an: Medienminister Gottfried Müller (CDU), die SPD-Ministerin Sybille Reider (Handel und Tourismus) und der inzwischen parteilose Entwicklungshilfeminister Hans-Wilhelm Ebeling. Sie dürfen dem Tag der deutschen Einheit weiter entgegenamtieren.

Selbst den Konflikt mit SPD-Finanzminister Romberg hätte de Maiziere bei besserer Konstitution ertragen können. Seit Wochen lag der Premier mit seinem Kassenwart im Clinch, weil Romberg ohne Unterlaß - in den Augen des Premiers - neue oder überhöhte Finanzforderungen gen Bonn richtete, die vorhandenen Mittel aber nicht schnell genug an die notleidenden Betriebe oder Kommunen weiterleitete. Obendrein wollte der Sozialdemokrat das Verhandlungskonzept de Maizieres für den Einigungsvertrag nicht akzeptieren, weil die vorgesehene Finanzausstattung die DDR-Länder im vereinten Deutschland »auf Jahre hinaus wirtschaftlich und politisch zweitklassig« mache. Auch westdeutsche Verfassungsrechtler geben Romberg in diesem Punkt recht (siehe Seite 19).

Noch am Montag voriger Woche hatte SPD-Fraktionschef Richard Schröder im Koalitionsausschuß, der die weitere Strategie für die Vertragsverhandlungen absteckte, allerdings die Finanzpläne des Premiers akzeptiert - gegen seinen Romberg.

Doch dem Premier gingen die Nerven durch. Die Zunahme verbaler Ausfälle und politischer Fehltritte während der letzten Wochen kulminierte in der gescheiterten Befreiungsaktion der letzten Woche. Das war kein strategischer, abgezirkelter Schlag gegen die Koalition, sondern ein letzter Versuch, Handlungsmacht zu demonstrieren.

Mehr und mehr waren Lothar de Maiziere die Fäden aus der Hand geglitten - paradoxerweise, weil er alle an sich ziehen wollte. Das offensichtliche Versagen von Ministern in Schlüsselressorts hatte das Amt des Ministerpräsidenten, allen voran de Maizieres Parlamentarischen Staatssekretär Günther Krause, zum Superministerium aufgewertet.

Doch trotz seiner zunehmend autokratischen Regierungsweise bekam der Premier die Probleme nicht in den Griff, weder die Finanzkrise in den Betrieben und Kommunen noch die hochschnellenden Arbeitslosenzahlen oder den Zusammenbruch der Landwirtschaft.

Geschenke aus Bonn, auch das wurde de Maiziere zunehmend klarer, waren weder beim akuten DDR-Notstand noch beim Einigungsvertrag zu erwarten. Bonn blockte - und ließ den DDR-Premier am langen Arm verhungern. Helmut Kohl konnte auch nicht gefallen haben, wie sein Ost-Kollege plötzlich alte Grundsätze fahrenließ und den Kanzler in den fatalen Plan jagte, den gesamtdeutschen Wahltag auf den 14. Oktober vorzuverlegen. Schon damals waren die Gemeinsamkeiten mit der Ost-SPD fast vollständig aufgezehrt. Jetzt sind sie am Ende - zur stillen Freude der Genossen in Ost und West.

Der Rauswurf ihrer Minister, so das Kalkül führender DDR-Sozialdemokraten Ende voriger Woche, komme gerade passend. Die SPD habe lange genug ihren Willen zur Einigung demonstriert, um sich dem Vorwurf der Verweigerung zu entziehen; aber einmal müsse Schluß sein.

Selbst die Aussicht, jetzt nicht mehr per Einigungsvertrag, sondern mit einem allein von Bonn diktierten Überleitungsgesetz vereinigt zu werden, schreckte manche Ost-Sozis nicht. Ihr vorschnelles Kalkül: Wenn die Bundesrepublik allein und ausschließlich nach Vorgabe des Grundgesetzes die Vereinigung regle, werde der Länderfinanzausgleich sofort voll auf die DDR-Länder ausgedehnt, damit sei das erreicht, was Romberg immer gefordert habe. »Wir bekämen«, so ein SPD-Vorständler, »auf kaltem Wege, was Lothar und die Bonner uns verweigern wollten.«

Doch die Freude der Ost-Berliner fände ein schnelles Ende. Nicht umsonst lassen Bonner Regierungsbeamte seit Tagen durchsickern, Kanzler Kohl und seinem Vertragsunterhändler, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, sei ein Überleitungsgesetz bei weitem lieber als ein Einigungsvertrag.

Denn dann, der lästigen Verhandlungspartner im Osten ledig, könnten die Bonner nach Gusto regeln, was sie an der Einheit regelungsbedürftig finden. Die Frage, wie enteignetes Eigentum zu entschädigen oder zurückzugeben wäre, würde sich - zum Schaden der DDR-Bürger - ausschließlich nach Maßstäben des Grundgesetzes richten. Soziale Absicherungen für Staatsbedienstete oder die begrenzte Weitergeltung der DDR-Fristenlösung, wie sie im Einigungsvertrag angepeilt sind, würden voraussichtlich gestrichen.

Dann wäre erreicht, was alle DDR-Politiker verhindern wollten: der würdelose, ungesicherte Verzweiflungsanschluß an die Bundesrepublik.

Selbst SPD-Fraktionschef Richard Schröder, der die Sozialdemokraten in der Volkskammer bislang zu fast sklavischer Treue gegenüber de Maiziere angehalten hatte, mag das wohl nicht mehr verhindern.

Zur Abstimmung von Parteipräsidium und Fraktionsvorstand in Ost-Berlin am Donnerstag nachmittag erschien er gar nicht mehr. Der Urlauber teilte per Telefon von der Nordseeinsel Borkum bloß mit, daß er auch jetzt noch für den Erhalt der Koalition sei. Und: Sollte die Partei bei ihrem Austrittsbeschluß bleiben, dann trete er sofort zurück.

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