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ATOMKRAFTWERKE Notfall im Frieden

Für den Fall eines Atom-Unglücks in Friedenszeiten hat die US-Regierung einen »Desaster-Plan« erarbeitet. Eine der Planspiel-Annahmen: Terroristen, die ein Atomkraftwerk »besetzen und zerstören«.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Es sei »völlig undenkbar«, beteuerte Dr. Klaus Montanus vom Mülheimer Kraftwerksproduzenten KWU, daß »ein Verrückter sich einen »Atomsprengkörper zusammenbastelt«. Auch Terroristen. meinte Montanus Ende Mai in einem Leserbrief an die »Welt«, würden sich »wohl kaum« an den dazu notwendigen Kernbrennstoff -- Plutonium -- »heranwagen«.

Für wie bedeutungsvoll dagegen der Gebieter über den größten Nuklear-Apparat der Welt, Washingtons US-Regierung, die Atomgefahr durch Terroristen hält, hat nun die »New York Times« publik gemacht.

Erstmals, so berichtete das Washingtoner Büro des Blattes, habe die Ford-Administration den Entwurf für einen »Desaster-Plan« erarbeitet, in dem »nukleare Notfälle in Friedenszeiten« und deren mutmaßliche Ursachen beschrieben werden. Zugleich enthält der 43 Seiten umfassende Report »Leitlinien«, mit denen die Verantwortlichkeit von 32 Bundesbehörden in einer solchen Situation geregelt werden soll.

Ausdrücklich haben die Verfasser des Desaster-Plans darin auch die Beteiligung von Terroristen an einem »sorgfältig geplanten Sabotageakt« erwähnt.

Allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz, so heißt es in dem vom amerikanischen Zivilschutzamt FPA* entworfenen Papier, bestünde eine zwar »vage«, gleichwohl aber »latent vorhandene Gefahr«, die von einer »kriminellen Aktion« herrühren könnte: Gerechnet wird mit »Schäden nach einer atomaren Explosion« ebenso wie mit der »weiträumig radioaktiven Verseuchung« bis zu 750 Quadratkilometer großer Landstriche.

Als Beispiel für Katastrophen in einer »nonconflict situation« nennen die Zivilschützer:

* die »Besetzung und Zerstörung eines Kernkraftwerks« oder anderer »fest installierten Atomanlagen« durch Terroristen;

* den »Diebstahl nuklearer Waffen« aus einer Atombombenfabrik oder einem militärischen Depot; sowie

* den »versehentlichen oder nicht autorisierten Start« eines Geschosses mit Atomsprengkopf.

Wie viele US-Bürger durch ein Desaster solcher Art ums Leben kommen würden, wird von den Zivilschutz-Experten nicht erörtert. Statt dessen wer-

* FPA Abkürzung für »Federal Preparedness Agency«.

den die Umweltschutzbehörde (Epa) und die für Bau und Zulassung von Kernkraftwerken zuständige Nuclear Regulatory Commission (NRC) angewiesen, schon jetzt »Richtlinien« für die Beseitigung von »Toten, festen Abfällen, Tierkadavern und anderen Überresten« aufzustellen.

Dabei streiten sich die Experten beider Behörden gegenwärtig noch darum, welches mutmaßliche Ausmaß allein schon der »größte anzunehmende Unfall« ("Gau") eines Atomkraftwerkes haben könnte: das Schmelzen des Reaktorkerns mit nachfolgendem Bersten der Betonhülle.

Während die NRC sich auf die Berechnungen des Atomphysik-Professors Norman Rasmussen und dessen Studiengruppe stützt (3300 sogenannte Sofort-Tote; 33 001) Krebsopfer innerhalb der darauffolgenden 20 bis 30 Jahre), gehen die Umweltbeamten von weit schlimmeren Wirkungen aus.

Sie setzen die Zahl der Gau-Opfer »zwei bis zehnmal höher« an als Rasmussen und seine Mitarbeiter, deren Kalkulationen anstandslos auch von der westdeutschen Atomindustrie übernommen worden sind.

Rasmussens Fehler, so heißt es in einer Ende letzten Monats publizierten Epa-Untersuchung, sei es gewesen, die Folgen der radioaktiven Strahlung und deren krebsauslösende Wirkung »unterschätzt« zu haben.

Annahme der Epa-Experten für den »Gau«-Fall: Bis zu 330 000 Krebsopfer in den folgenden zwei bis drei Jahrzehnten.

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