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Artikel 34 / 65

NOTFALLS ARM, ABER NEUTRAL

aus DER SPIEGEL 18/1967

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, nach Ihrem letzten Moskau-Besuch im März ist der Eindruck entstanden, daß Österreich bei seinen Bemühungen um einen Vertrag mit der EWG in eine Sackgasse geraten ist. Die Sowjet-Union beharrt auf ihrem Standpunkt, daß Österreich im Gemeinsamen Markt nichts zu suchen hat.

KLAUS: Wieso Sackgasse? Mir war die Haltung Moskaus in dieser Frage schon vor Antritt meiner Reise klar. Die EWG war weder Anlaß noch Ursache für den Besuch in Moskau.

SPIEGEL: Dennoch haben Sie ja wohl versucht und gehofft, die sowjetische Haltung ändern zu können. Sie haben das EWG-Thema in Moskau dreimal zur Sprache gebracht.

KLAUS: Ich habe dieses Problem, das ja die Interessen Österreichs und der Sowjet-Union berührt, zur Sprache gebracht. Aber ich wollte keine formelle sowjetische Zustimmung erreichen. Ich wollte die Sowjets informieren. Es ging mir im Gespräch mit Moskauer Spitzenfunktionären sehr darum, den österreichischen Standpunkt zu präzisieren. In der offiziellen Tagesordnung, unter den von Kossygin angeschnittenen Themen, existierte die EWG nicht. Kossygin legte seine Ansichten zur Weltpolitik, zu Europa und zu unseren bilateralen Beziehungen dar; in meiner Erwiderung kam ich selbstverständlich auf Österreichs Absicht zu sprechen, am Gemeinsamen Markt teilzunehmen. In der Diskussion wurden die beiderseitigen Standpunkte klar.

SPIEGEL: So klar, wie es der sowjetische Staatspräsident Podgorny bei seinem letzten Besuch in Wien formulierte: Die UdSSR betrachtet jedwedes Arrangement zwischen Österreich und der EWG als unvereinbar mit der Neutralität?

KLAUS: Gewiß, das ist zwar nicht am ersten Tag, aber doch im Verlauf unserer weiteren Gespräche im Kreml neuerlich deutlich geworden -- jedoch keineswegs hart oder gar drohend im Ton.

SPIEGEL: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Österreich? Ist es bereits eine der Folgen, daß Sie selbst, Herr Bundeskanzler, nach der Rückkehr aus Moskau nicht mehr von einer Assoziierung mit der EWG, nicht mehr von einem Arrangement, sondern nur noch von einer wirtschaftlichen Regelung gesprochen haben?

KLAUS: Wir haben schon vor der Moskau-Reise nicht mehr von Assoziierung gesprochen, eigentlich seit Jahren nicht mehr.

SPIEGEL: Ursprünglich wollte Österreich aber doch ausdrücklich die Assoziierung!

KLAUS: Anfangs ja. Aber dann wurden wir darauf aufmerksam gemacht, daß Assoziierung in der EWG

Mit SPIEGEL-Redakteur Siegfried Kogelfranz und SPIEGEL-Korrespondenten Inge Cyrus.

die Vorstufe zur Vollmitgliedschaft bedeutet.

SPIEGEL: Und seither ...

KLAUS: Seither reden wir von einem Abkommen besonderer Art. Zugegeben, darunter kann man sich sehr wenig vorstellen. Mein Vorgänger Gorbach hat das so definiert: Dieses Abkommen besonderer Art wird eben das sein, was bei unseren Verhandlungen letztlich herauskommt.

SPIEGEL: Ihr Parteifreund und Vizekanzler Fritz Bock -- Österreichs Chefbeauftragter für die EWG gibt sich auch jetzt noch optimistisch. Er glaubt nach wie vor daran, daß Österreich bis Ende dieses Jahres zur EWG findet.

KLAUS: »Wenn es auf uns ankommt ...«, sagt der Herr Vizekanzler immer.

SPIEGEL: Es kommt aber nicht nur auf Österreich an. Sie selbst sind nicht ganz so optimistisch?

KLAUS: Meine Formel lautet: Optimismus mit viel Geduld.

SPIEGEL: Österreich muß seit sechs Jahren Geduld haben.

KLAUS: Stimmt. Haben wir nicht auch auf den Staatsvertrag sehr lange gewartet? Kanzler Figl hat in 300 Sitzungen 299mal Njet gehört. Aber schließlich kamen wir ans Ziel.

SPIEGEL: Kann sich Österreich diesmal zehn Jahre Geduld, wie beim Staatsvertrag, leisten? Schon heute büßt die Wirtschaft durch die EWG-Zölle alljährlich etwa 300 Millionen Mark ein. Wie lange läßt sich das durchhalten?

KLAUS: Natürlich drängt die Wirtschaft. Die Zolldiskriminierung wird bis 1968 noch weiter steigen. Der EWG-Außenzoll macht uns immer mehr zu schaffen. Doch der Staatsvertrag hat uns ebenfalls viel Geld gekostet. Das war der Preis für die Freiheit. Heute zahlen wir den Preis für die Neutralität. Ich bin der Ansicht, daß es um der Neutralität willen besser ist, wenn nötig noch Geduld zu haben, als partout zu sagen: Ich muß jetzt zur EWG.

SPIEGEL: Würden Sie die Verhandlungen mit der EWG notfalls ganz scheitern lassen, wenn Sie in Brüssel nicht genügend Verständnis für Österreichs Neutralitätsvorbehalte finden?

KLAUS: Ja.

SPIEGEL: Also notfalls arm, aber neutral?

KLAUS: Ja. Wir werden in Brüssel nichts unterschreiben, was unsere internationalen Verpflichtungen aus Staatsvertrag und Neutralität verletzt. Unsere Freiheit und Unabhängigkeit muß uns große Opfer wert sein.

SPIEGEL: Das alles überzeugt scheinbar die Russen nicht. Was immer Österreich an Neutralitätsvorbehalten in Brüssel anmeldet, wird von den Sowjets als bedeutungslos bezeichnet. Moskau steht auf dem Standpunkt: Sobald sich Österreich in irgendeiner Form der EWG verschreibt, gerät es unrettbar in den wirtschaftspolitischen Sog Westeuropas, insbesondere der Bundesrepublik. Wollen Sie es trotzdem weiter mit der EWG versuchen?

KLAUS: Ja, selbstverständlich, wenn Sie darunter weiterverhandeln verstehen. Ich habe das sowohl in Moskau wie nach meiner Rückkehr deutlich gemacht. Unser Verhandlungspartner in Sachen EWG ist schließlich nicht die Sowjet-Union.

SPIEGEL: Sie riskieren es also, daß die UdSSR auch ein mühsam unter Neutralitätsvorbehalten ausgetüfteltes EWG-Abkommen als Neutralitätsverletzung betrachtet?

KLAUS: Wir haben die Neutralität aus freiem Ermessen beschlossen. Daher behalten wir uns vor, sie jederzeit selbst zu interpretieren.

SPIEGEL: Die neutrale Schweiz, von Österreich gern als Vorbild zitiert, nimmt offenbar die Neutralität noch ernster. Sie hat bisher ihren Kontakt zur EWG nicht weitergesponnen, obgleich ihre Wirtschaft ähnlich der österreichischen eng mit EWG-Ländern verknüpft ist.

KLAUS: Das ist nur ein klarer Beweis, daß jeder Neutrale seine Neutralität nach ureigenstem Ermessen auslegt und seine Neutralitätspolitik danach richtet. Die Schweiz ist überhaupt etwas zurückhaltender. Sie glaubt zum Beispiel, den Vereinten Nationen nicht angehören zu dürfen. Sie ist dem Europa-Rat erst lange nach Österreich beigetreten.

SPIEGEL: So vorsichtig wie die seit 1815 neutrale Schweiz kann das seit 1955 neutrale Österreich offenbar nicht sein ...

KLAUS: Wir wollen uns den für Österreich lebenswichtigen EWG-Markt erhalten, der etwa 50 Prozent unserer Exportgüter aufnimmt und aus dem etwa 75 Prozent unserer Urlaubsgäste kommen. Wir wollen aber auch an der EWG-Dynamik teilhaben. Der EWG-Zug fährt nun einmal schneller. Wirtschaftswachstum, Volkseinkommen, Investitionsrate sind dort höher. Auch Österreichs Bevölkerung braucht eine stete Verbesserung ihres Lebensstandards.

SPIEGEL: Das heißt doch praktisch: Sie brauchen einen Vertrag mit der EWG, der weit über einfache Zollvereinbarungen hinausgeht.

KLAUS: Sehen Sie, unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen versuchen, im Osten für die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und im Westen für die politischen Notwendigkeiten Verständnis zu finden. Wir sind der Meinung, daß dies möglich ist.

SPIEGEL: Finden Sie wenigstens in Brüssel Verständnis?

KLAUS: Wir haben in Brüssel für unsere Neutralitätsvorbehalte stets größtes Verständnis gefunden.

SPIEGEL: Uns scheint, es gibt auch in EWG-Kreisen Bremsen für Österreichs Ambitionen. Gerade Frankreich, das Österreichs wortkräftigster Befürworter in Brüssel sein sollte, scheint zur Zeit wenig enthusiastisch. De Gaulle will offenbar seine Ostoffensive nicht durch besonderen Einsatz für Österreich gefährden. Paris soll Wien sogar zur Vorsicht geraten haben.

KLAUS: Da wissen Sie mehr als ich. Mir ist keine französische Sinnesänderung bekannt. Ich kenne aus letzter Zeit nur die positiven Erklärungen des französischen Außenministers zu Österreichs EWG-Kontakten vom Dezember 1986. Seither haben wir keine weiteren offiziellen Gespräche geführt.

SPIEGEL: Stimmt es, daß Italien seine Zustimmung zum österreichischen EWG-Arrangement von einer vorherigen Bereinigung des Südtirol-Konflikts abhängig macht?

KLAUS: Außer Zeitungsartikeln habe ich dafür keine Anhaltspunkte. Die italienische Regierung selbst betont das Gegenteil.

SPIEGEL: Wiens Zugmaschine in die EWG war jenes Land, mit dem Österreich wirtschaftlich am engsten verflochten ist: die Bundesrepublik. Nun sucht Bonn selber einen Modus vivendi mit dem Osten. Nicht durch Zufall kam der CDU-Fraktionsführer Rainer Barzel unmittelbar nach Ihrer Heimkehr aus der UdSSR auf vertrauliche Erkundungstour nach Wien. Wollte er sich bloß über die Moskauer EWG-Vorbehalte informieren oder deutete er eine Bonner Sinneswandlung an?

KLAUS: Herr Rainer Barzel hat mir einen Höflichkeitsbesuch abgestattet und bei mir diese Fragen nicht angeschnitten.

SPIEGEL: Wie stehen Österreichs Partner in der europäischen Freihandelszone Efta zu Wiens EWG-Kurs, der wohl notgedrungen zum Austritt aus der Efta führen muß?

KLAUS: Wir werden so lange wie möglich bei der Efta bleiben und loyal mitarbeiten. Wenn aber ein Austritt notwendig wird, werden wir genau den im Efta-Vertrag vorgesehenen Weg gehen: fristgerecht kündigen, gleichzeitig die Etappen vereinbaren, in denen die auf Null gesunkenen Efta-Zölle wieder angehoben werden.

SPIEGEL: Sehr begeistert dürften die Efta-Partner darüber kaum sein.

KLAUS: Die Efta-Partner haben gegenüber Österreich unterschiedlich -- ich betone unterschiedlich, aber doch positiv -- reagiert. Sie zeigen um so mehr Verständnis, als auch die Efta-Länder England, Dänemark und Norwegen schon konkrete Schritte in Richtung auf eine Vollmitgliedschaft bei der EWG unternehmen, beziehungsweise erwägen. Diese Länder müßten erst recht aus der Efta austreten, so die EWG ihre gegenwärtige Haltung nicht revidiert.

SPIEGEL: England, Dänemark und Norwegen haben es leichter. ihnen kann die Sowjet-Union keinen Neutralitätsbruch vorwerfen.

KLAUS: Ich will Ihnen nochmals den österreichischen Standpunkt erläutern: Wir sind ein freies, ein souveränes Land, und niemand kann uns Vorschriften machen. Was die sowjetische Regierung sagt, sind ernste -- von uns sehr ernst genommene! -- Hinweise, sind Warnungen, aber keine Drohungen und Diktate.

SPIEGEL: Hat die Sowjet-Union nicht gewichtige Druckmittel oder Interventionsmöglichkeiten gegen einen EWG-Vertrag Österreichs, der ihr nicht paßt?

KLAUS: Diese Frage müßten Sie an die Sowjet-Union richten, nicht an mich.

SPIEGEL: Das österreichische Außenamt hat eine Expertise über Moskaus mögliche Schritte ausgearbeitet. Was steht darin?

KLAUS: Die Expertise beschäftigt sich nur mit den wirtschaftlichen Konsequenzen einer Beteiligung oder Nichtbeteiligung Österreichs am Gemeinsamen Markt. Wir haben uns nicht den Kopf darüber zerbrochen, was die Sowjet-Union tun kann. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß wir uns gegenseitig keine Vorschriften machen.

SPIEGEL: Man braucht nur den Staatsvertrag durchzulesen, um zu erkennen, daß Moskau sehr wohl völkerrechtliche Interventionsmöglichkeiten hätte. Artikel 34 und 35 sehen eine langwierige und für Wien höchst unangenehme Schiedsgerichtsprozedur für den Fall einer behaupteten Neutralitätsverletzung vor. Die Sowjet-Union braucht sich nicht einmal selbst zu engagieren. Sie könnte beispielsweise die Tschechoslowakei vorschicken. Denn nicht nur die vier Großmächte, die den Staatsvertrag abgeschlossen haben, können Österreich Neutralitätsverletzungen vorwerfen; das kann jedes Land tun, das sich nachträglich dem Staatsvertrag anschließt. Solch ein Prozeß gegen Österreich sieht Instanzen bis hinauf zum Uno-Generalsekretär vor,

KLAUS: Nachdem wir aber immer wieder betonen, daß wir nichts unterschreiben werden, was diese Prozedur in Gang bringen könnte, haben wir keinen Anlaß zur Frage: Was geschieht, wenn ... Es ist in vielstündigen Gesprächen in Wien und in Moskau von sowjetischer Seite niemals auch nur der geringste Hinweis gefallen, daß sie den Staatsvertrag-Mechanismus tatsächlich auslösen will.

SPIEGEL: Also mit dem Knüppel hat Moskau nie gedroht?

KLAUS: Nie. Es hat überhaupt nie gedroht, wir haben in Moskau sehr freundliche und aufgeschlossene, wenngleich besorgte Gesprächspartner gefunden.

SPIEGEL: Haben die Russen auch nicht wirtschaftliche Repressalien, etwa Schwierigkeiten im Osthandel, angedeutet?

KLAUS: Wir haben eben in Moskau sogar über eine Ausweitung unserer wirtschaftlichen Beziehungen gesprochen. Wir haben den Sowjets versichert, daß wir uns in Brüssel die Möglichkeit vorbehalten, unseren Osthandel noch zu verstärken.

SPIEGEL: Hat das die Sowjets beeindruckt?

KLAUS: Sie haben darüber nicht diskutiert, weil sie ja überhaupt keinen österreichischen EWG-Vertrag wollen.

SPIEGEL: Ihr Moskau-Besuch hat Österreich wirtschaftspolitische Bonbons beschert: eine Erdgas-Leitung über Österreich nach Italien, Aufträge für österreichische Industrieunternehmen. Erwartet Moskau dafür österreichische EWG-Abstinenz?

KLAUS: In keiner Weise. Das waren sehr loyale Gespräche auf bilateraler Ebene, wobei das Wort EWG nicht fiel.

SPIEGEL: Aber vielleicht nehmen die Sowjets an, daß Österreich von sich aus solche Bonbons honoriert.

KLAUS: Diesen Eindruck hatte ich nicht. Freilich scheint Österreichs Gang zur EWG augenblicklich nicht in das sowjetische Konzept europäischer Zusammenarbeit und Sicherheit zu passen.

SPIEGEL: Hoffen Sie auf eine Änderung dieses Konzepts?

KLAUS: Ja. Es gibt Hinweise dafür, die vielleicht nicht genügend beachtet wurden. Herr Kossygin hat bei unserem letzten Abendessen im Kreml eine sehr bedeutsame Äußerung getan. Die ist vielleicht der Schlüssel für ein neues sowjetisches Konzept. Er sagte: »Wir sehen das zukünftige Europa nicht in politische oder wirtschaftliche Bündnisse gespalten, nicht durch Zollschranken getrennt, sondern als einen Raum der Welt, in dem die umfassendste, freie Zusammenarbeit ausgeübt wird.«

SPIEGEL: Glauben Sie an einen präzisen Vorschlag Moskaus in dieser Richtung? Etwa an den Vorschlag, EWG und Comecon aufzulösen, wie die UdSSR ja auch die gleichzeitige Auflösung von Nato und Warschau-Pakt propagiert?

KLAUS: Ich möchte da nicht so konkret werden. Schließlich könnten meine Eindrücke falsch sein.

SPIEGEL: Haben Sie mit den Sowjets über deren Einstellung zu einer EWG gesprochen, in der die Gewichte durch einen Beitritt Englands und skandinavischer Staaten anders verteilt wären?

KLAUS: Darüber haben wir gesprochen. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen: Diese angebliche deutsche Gefahr, die da gesehen wird, die verkleinert sich doch, wenn England mit seinem großen Wirtschaftspotential in die EWG kommt.

SPIEGEL: Sie, Herr Bundeskanzler, gelten als Optimist. Sehen Sie den Weg nach Brüssel noch offen?

KLAUS: Mein Optimismus ist stets mit Geduld gepaart. Und Geduld kann man nicht mit dem Chronometer messen.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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