Zur Ausgabe
Artikel 36 / 84

INDUSTRIE / ARBEITSZEIT Notfalls auf Null

aus DER SPIEGEL 18/1969

Wenn den Gewerkschaftsfunktionären der westdeutschen Zigaretten-Industrie der Coup gelingt. stoßen ihre Mitglieder zur Welt-Spitze vor: Als erste würden sie bei vollem Lohnausgleich nur 37 1/2 Stunden in der Woche arbeiten.

Nur Bauarbeiter in New York lägen mit 35 Stunden Arbeitszeit dann noch vor ihnen. Mit den kanadischen Regierungsangestellten und Arbeitern im Gewerkschafts-Paradies Australien hätten die deutschen Zigarettendreher gleichgezogen.

Die Forderung der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) wurde am vorletzten Sonnabend in Hamburg von 105 Delegierten der Sparte »Zigaretten-Industrie« bestätigt. Sollte der Arbeitgeberverband mit 37,5 Stunden nicht einverstanden sein. so wollen die Gewerkschafter die Arbeitszeit auf Null drehen: Sie drohen mit Streik, falls die nächste Tarif-Verhandlung im Mai und die Schlichtung ergebnislos verlaufen.

Bereits im Juni vergangenen Jahres hatte die Gewerkschaft den Manteltarifvertrag, der die allgemeinen Arbeitsbedingungen (Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung. Arbeitszeit) regelt, zum 31. Dezember 1969 gekündigt. Und schon dreimal haben die Tarifpartner über den neuen Stundenplan verhandelt.

Jedesmal lehnten die Unternehmer ab.« Die kapitalintensive Produktion unserer Branche läßt eine derartige Reduzierung nicht zu«, verkündete Dr. Joachim Schwahn vom »Arbeitgeberverband der Cigarettenindustrie«.

Der gelernte Zigarren-Sortierer Heinz-Günter Niebrügge, 34, Tarifsekretär der NGG, machte den Fabrikanten eine andere Rechnung auf: Durch Rationalisierungsmaßnahmen seien binnen zehn Jahren die Produktionskosten pro eine Million Zigaretten von 798 Mark auf 254,16 Mark gedrückt worden. Bei einer Ersparnis von 68 Prozent könne man den Gewerkschaften keineswegs »übermäßige lohnpolitische und soziale Forderungen« vorwerfen.

Vergeblich führten die Unternehmer daraufhin eine Wachstumsanalyse des Bundeswirtschaftsministeriums an, die Minister Schiller für die »Wahl einer mittelfristigen Zielprojektion« hatte anfertigen lassen. Darin wurde unter Berücksichtigung der ungünstigen Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung in der Bundesrepublik davon ausgegangen, daß die wöchentliche Arbeitszeit bis 1980 nicht unter 40 Stunden sinkt.

NGG-Vize Günter Döding, 38, nutzte die Gelegenheit, um sich grundsätzlich zu der konzertierten Aktion seines SPD-Parteifreundes Schiller zu äußern. Er mag sie nicht. Döding: »Dadurch droht die Tarif-Autonomie zum Tarif-Automatismus zu pervertieren. Wir lassen uns von niemandem umfunktionieren in eine zwar rechtlich freie Gewerkschaft, die aber nur als demokratische Verzierung ge- und mißbraucht wird.«

Schon vor zehn Jahren hatte die kleine Mannschaft der 16 000 Zigaretten-Arbeiter mächtig aufgedreht. Als ersten in Deutschland gelang es ihnen, die wöchentliche Arbeitszeit in einem Tarifvertrag auf 40 Stunden zu senken. Erst danach konnten die IG Metall für alle ihre Arbeiter und die IG Bergbau für 95 Prozent der Kumpel die Vierzig-Stunden-Woche erkämpfen. 65 Prozent aller Arbeitnehmer der Bundesrepublik haben noch immer eine tarifliche Arbeitszeit von mehr als 41 Stunden (siehe Graphik).

Die Forderung der Zigaretten-Industrie-Arbeiter setzt deshalb völlig neue Maßstäbe. Sie »durchbricht eine Schallmauer« (Döding).

Aber die Funktionäre vertrauen auf den günstigen Zeitpunkt -- nach 8,26 Milliarden Stück pro Monat im Rezessionsjahr 1967 wurden letztes Jahr 8,79 Milliarden Zigaretten geraucht -- und auf die Erfolge der Automation.

So seien 1957 für eine Anlage zur Herstellung von 270 Millionen Zigaretten ein Maschinenführer und fünf Arbeiterinnen nötig gewesen. 1967 dagegen bediente die gleiche Mannschaft vier Automaten, die je 460 Millionen Zigaretten produzierten. Die Arbeitnehmer, so folgert die Gewerkschaft, hätten damit eine zusätzliche physische und psychische Belastung auf sich genommen, die honoriert werden müsse.

Höchstens eine viertel oder halbe Stunde wollen sich die Funktionäre für den Fall abhandeln lassen, daß die Zigaretten-Industrie die Mitbestimmung der Betriebsräte über Produktionsplanung und Arbeitseinsatz-Planung akzeptiert und außerdem den Gewerkschaften eine »Anerkennung für die Erfüllung staatsbürgerlicher Aufgaben« zusichert.

Funktionär Niebrügge erklärt die Anerkennungsgebühr so: Die Unternehmer sollen fünf Millionen Mark in eine Kasse zahlen, aus der Gewerkschaftsmitglieder Urlaubszuschüsse erhalten und die Schulung von Betriebsräten und Vertrauensleuten finanziert wird.

Zur Ausgabe
Artikel 36 / 84
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren