SCHULEN Notfalls Hölderlin
Gefährlichster Gegner des deutschen Gymnasiums und seines Abiturs ist Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier (SPD), will man Blättern wie der »FAZ« oder der »Höheren Schule« glauben.
Nicht nur sei sein Ziel, das Gymnasium nebst Haupt- und Realschule durch die Gesamtschule zu ersetzen, auch den inneren Wert des Gymnasiums vermindere er. »Struwwelpeter statt Faust«, »Billig-Abitur« und »Discount-Schule« sind Schlagworte, mit denen Konservative Schwiers Schulpolitik bekämpfen.
Daß aus dem Saulus ein Paulus geworden ist, werden flüchtige Zeitungsleser Ende dieser Woche glauben. Am Donnerstag wird sich der Düsseldorfer Kultusminister auf einer Pressekonferenz in Bonn als derjenige präsentieren, der - so Schwier über den neuen Schwier- »das Gymnasium und das Abitur vor Fehlentwicklungen schützt, die ihre Zukunft gefährden«.
Doch der Kultusminister des schulkinderreichsten Bundeslandes ist nicht zu den Konservativen konvertiert. Er ist der alte geblieben, und auch seine Ziele haben sich nicht geändert. Nur hat er ein neues Thema und ein neues Konzept.
Vor knapp 15 Jahren hatte die Konferenz der Kultusminister (KMK) eine grundlegende Reform der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs beschlossen und diese Woche steht das Thema wieder auf der Tagesordnung der Ministerrunde. Aber darüber, wie es nun weitergehen soll, sind die Minister zerstritten.
Die Minister der CDU/CSU hatten bislang einigen Grund zu vermuten, daß sie sich durchsetzen würden. Sie haben längst ein Konzept beschlossen und glauben sich mit den meisten Studienräten und Eltern einig. Nun werden sie sich damit abfinden müssen, daß ihnen noch ein harter und wohl das Jahr 1987 über dauernder Kampf bevorsteht. Nach KMK-Tradition muß am Ende ein einstimmiger Beschluß gefaßt werden.
Schwier hat mit den Spitzenkräften seines Ministeriums und einem halben Dutzend weiteren Beratern in etlichen Sitzungen und Papieren eine Gegenposition entwickelt. Am vergangenen Freitag stimmten ihr die Kultusminister und -senatoren der anderen SPD-Länder zu.
Schwier: »Die andere Seite will die Gymnasien zurückzwingen hinter das Jahr 1972, wir wollen das Gymnasium vorbereiten auf das Jahr 2000.«
Im Juli 1972 hatten die Kultusminister die Einteilung in Haupt- und Nebenfächer für die Oberstufe abgeschafft und alle Fächer für nahezu gleichberechtigt erklärt. Seither darf jeder Oberschüler (nach dem elften Schuljahr als Vorbereitungsjahr) in den beiden letzten Schuljahren seine Fächer fast so frei wählen wie ein Student seine Kollegs. Die Schüler können sich in »Leistungskursen« spezialisieren, für die gemeinsame Basis sorgen »Grundkurse«. Es wurde allerdings von vornherein vorgesorgt, daß insgesamt die früheren Haupt- und nicht die früheren Nebenfächer dominieren.
Auch die vier Abiturfächer dürfen sich die Gymnasiasten relativ frei aussuchen, nur müssen drei »Aufgabenfelder« vertreten sein (das »sprachlich-literarischkünstlerische«, das »gesellschaftswissenschaftliche« und das »mathematischnaturwissenschaftlich-technische"). Da kann zum Beispiel Englisch statt Deutsch im »Feld I«, Erdkunde statt Geschichte im »Feld II«, Biologie statt Mathematik im »Feld III« als Abiturfach gewählt werden.
Die Klassen 12 und 13 gibt es nicht mehr, von Kurs zu Kurs sitzen immer wieder andere Schüler zusammen. An die Stelle der sechs Noten ("Sehr gut« bis »ungenügend") sind 15 Punkte getreten. Bis zu 900 Punkte können für das Reifezeugnis gesammelt werden, zu je einem Drittel in den Grundkursen, in den Leistungskursen und bei der Abiturprüfung. Weil es den Kultusministern damals darauf ankam, »individuelle Schwerpunkte« zu fördern, werden Leistungskurse höher »gewichtet« als Grundkurse.
Die Kultusminister beschlossen außerdem, »neue Fächer, vor allem des technischen und des wirtschaftlichen Bereiches, in das gymnasiale Curriculum einzuführen und so in pragmatischer Weise die Kooperation von allgemeinen und berufsbezogenen Bildungsgängen einzuleiten und eine mögliche spätere Integration zu erproben«. Das Fach »Technik« wurde in fast allen, das Fach »Informatik« in allen Bundesländern eingeführt.
Fast so alt wie die Reform ist auch die Kritik an der neuen Oberstufe. Hauptgrund: Viele Schüler verhalten sich anders, als die Reformer erhofft hatten. Sie wählen Fächer und Kurse, die ihnen mit möglichst geringem Aufwand möglichst viele Punkte bringen. Oft wären andere Fächer für sie wegen ihrer Studien- und Berufsziele weit wichtiger.
Viele Eltern, Lehrer und Professoren beklagen als Folge der Reform, die Kenntnisse vieler Abiturienten seien ganz allgemein geringer oder zumindest lückenhafter als früher.
Die Kultusminister schränkten im Laufe der Jahre etliche Freiheiten ein, das Fach Deutsch zum Beispiel ist durch mehrere Detailvorschriften in höherem Maße verbindlich geworden als es 1972 geplant war. Aber den Unionsministern und vor allem dem konservativsten unter ihnen, Baden-Württembergs Gerhard Mayer-Vorfelder, ist das noch immer nicht genug. Sie wollen die Reform zurückdrehen.
»Was gut gemeint war«, so der Stuttgarter Kultuschef, »ist ins Gegenteil umgeschlagen.« Seit dem Grundsatzbeschluß von 1972 würden »die Gymnasien von einer Reformwelle überschwemmt, bei der jeder bildungspolitische Überblick verlorenging«.
Auf Mayer-Vorfelders Drängen hin einigten sich die CDU/CSU-Kultusminister vor allem darauf, de facto wieder Haupt- und Nebenfächer einzuführen. Die wichtigsten Forderungen, die sie in der KMK durchsetzen wollen: *___Drei Fächer- Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache ____- werden für jeden Oberschüler wie früher durch gängig ____bis zum Abitur Pflicht, er kann sie nicht mehr vorher ____abwählen. *___Nur noch zwei Abiturfächer darf sich der Schüler ____aussuchen, bei den bei den anderen hat er lediglich die ____Wahl zwischen Deutsch, Mathematik und einer ____Fremdsprache. *___Der Schüler darf nicht mehr so frei wie bisher ____bestimmen, welche Kurse für die Abiturpunkte ____angerechnet werden sollen (er darf also in den meisten ____Kursen keine schwache Lei stung mehr riskieren). *___Die Grundkurse werden höher »gewichtet«, müssen von den ____Schü lern also ernster genommen wer den als bisher, ____Leistungskurse verlieren dementsprechend an »Ge wicht«.
Mayer-Vorfelder genügte es nicht, diese Forderungen in die KMK-Gremien zu bringen. Er preschte vor und wartete gar nicht erst ab, ob die SPD-Minister ihnen zustimmen und sie damit bundesweit verbindlich würden. Als einziger Kultusminister hat er die meisten Forderungen in seinem Lande bereits verwirklicht.
Mayer-Vorfelder und Schwier werden die Hauptgegner im Kampf ums Abitur sein.
Sie befehden sich schon seit langem vor allem im Streit um die NRW-»Kollegschule«, die ihren Schülern eine »Doppelqualifikation« (Abitur und Beruf) vermitteln will und von ihren Kritikern als »Discount-Schule« mit »Billig-Abitur« beschimpft wird.
Und Mayer-Vorfelder ist auch ein Wortführer, wenn es darum geht, den NRW-Kultusminister zu beschuldigen, er ziehe die Gesamtschule dem Gymnasium vor.
Da verweist Schwier - allzu defensiv - darauf, daß er alle Schulformen gleich behandle. Den jetzt beginnenden Kampf um die künftige Gestaltung des Gymnasiums will er offensiv führen. Er ist gerüstet, auch die bei solchen Auseinandersetzungen stets aufkommenden Lieblingsthemen vieler Lehrer und Eltern zu erörtern - etwa die Frage, was heute Allgemeinbildung ist und ob das Gymnasium sie zu vermitteln vermag. Schwier: »Ist jemand gebildet, der Vergil liest, Kant versteht und Mozart spielt, aber von Chips, Genen und der Berufswelt nichts weiß?«
Und er ist auch bereit, die »Struwwelpeter statt Faust«-Debatte zu führen. Schwier: »Natürlich gehört der Struwwelpeter in die Grundschule und der Faust in die Oberstufe. Aber ich habe nichts gegen ein Kurs-Thema über die 'Wirkungsgeschichte des Struwwelpeter', und ich bin sehr dagegen, Lehrer und Schüler zum 'Faust' zu zwingen.«
Zusammen mit den anderen SPD-Ministern will er die von den CDU/CSU-Kultuschefs geforderte Restauration verhindern, die Freiheit der Oberstufen-Schüler »im wesentlichen erhalten« und dafür sorgen, daß die Gymnasien »offen bleiben für künftige Entwicklungen«. Das gilt insbesondere für berufsnahe Fächer. Schwier: »Das Gymnasium kann nicht Informatik gerade noch als letztes Fach hinnehmen, seine Pforten dann schließen und erklären: Was immer draußen in der Welt sich noch verändert, wir bleiben von nun an bei unserem Fächerkanon.«
Im Düsseldorfer Kultusministerium hat man sich für die bevorstehende Auseinandersetzung gerüstet und sogar mit der Geisteswelt und mit der Geschichte Baden-Württembergs befaßt.
Es gebe dort, heißt es in einem Papier, einen »sehr einseitigen Leistungsbegriff«, und der habe eine lange Tradition. Würden Mayer-Vorfelders Angriffe allzu lästig, so könne man ja notfalls daran erinnern, »was Hölderlin und Hesse während ihrer Schulzeit erlitten haben«.
Zusätzliche »Literaturempfehlung": Hermann Hesses »Unterm Rad«.