Atomenergie Notnagel im Müllkonzept
Dreimal schon hat die Bürgermeisterin von Morsleben den Salzstock unter ihrem Gemeindegebiet inspiziert. Stets kehrte Helga Swincicki, 54, hochzufrieden von der Reise ins Erdinnere zurück.
Die hübschen gelben Geländewagen, mit denen sie in dem weitverzweigten Wegenetz unter Tage herumgekurvt war, dazu das weißlich schillernde Deckgewölbe über der großen Containerhalle - fast wie die kunstvoll errichtete Kuppel einer unterirdischen Kathedrale.
Und überall sind graulackierte Frischluftrohre installiert, rote Feuerlöscher und grüne Fluchtwegweiser: »Alles ist ordentlich, akkurat und sauber da unten«, lobt die Bürgermeisterin.
Akkuratesse darf erwartet werden: Das unterirdische Gelaß, östlich von Helmstedt zwischen den Gemeinden Morsleben und Beendorf, ist die einzige betriebsbereite Endlagerstätte für radioaktive Abfälle in der Bundesrepublik - der letzte Notnagel in einem immer wackeliger werdenden Entsorgungskonzept _(* Oben: Expertengruppe mit ) _(Umweltminister Töpfer; unten: am Montag ) _(vergangener Woche. ) für den Strahlenmüll aus deutschen Atomreaktoren.
Im benachbarten Niedersachsen wird seit nunmehr elf Jahren um die Genehmigung für den Salzschacht Konrad bei Salzgitter gestritten, der schwach bis mittelaktive Strahlenabfälle aufnehmen soll. Vor dem Jahr 2005 wird die Grube keinesfalls in Betrieb gehen können.
In dem etwas weiter nördlich gelegenen Gorleben ist es noch weniger sicher, ob das dort geplante Endlager für stark radioaktiven Müll je fertig ausgebaut werden wird; wegen rechtlicher Hindernisse schwinden die Aussichten zusehends (SPIEGEL 20/1993).
Bleibt nur noch der alte Salzstock Morsleben, der, einstmals in Steinwurfnähe von der innerdeutschen Grenze entfernt, von den DDR-Machthabern zu einem Atomlager umgerüstet worden war - ein Bergwerk mit wechselvoller Geschichte.
Seit der Jahrhundertwende wurde es als Kalisalzgrube betrieben; während des Zweiten Weltkriegs mußten dort KZ-Häftlinge arbeiten. In einer Ecke der Grubenanlage wurden Munitionskisten gebaut, in einem anderen Winkel Teile von Hitlers V-Waffen. Nach dem Krieg ließ sich vorübergehend ein volkseigener Geflügelbetrieb in der Salzkaverne nieder.
Heute ist von dem Bergwerk ein riesiger unterirdischer Hohlraum (rund zehn Millionen Kubikmeter) geblieben mit einem etwa 50 Kilometer langen Straßennetz, das über zwei Schächte mit der Außenwelt verbunden ist. Sie gehören zur Grube Marie bei Beendorf und zum Schacht Bartensleben am Ortsrand von Morsleben, durch den seit Anfang der achtziger Jahre der DDR-Strahlenmüll unter Tage geschafft wurde.
Mit einer eigens in den Einigungsvertrag aufgenommenen Übergangsklausel ("Lex Morsleben") hatte sich der Bonner Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) vor drei Jahren den Fortbestand der vom Honecker-Regime ausgestellten Betriebsgenehmigung gesichert. Gleichsam über Nacht war ihm so mit dem Untergang der DDR ein betriebsbereites »Bundesendlager« (Töpfer) zugefallen. Ob es jedoch betriebssicher ist, darüber wird mittlerweile heftig gestritten.
»Hier droht echte Gefahr«, warnt beispielsweise die Atomexpertin der Umweltgruppe Greenpeace, Inge Lindemann. Vergangene Woche kletterten die Öko-Kämpen in aller Herrgottsfrühe über den Drahtzaun zum Betriebsgelände, hängten Transparente auf und ketteten sich stundenlang an Transportcontainern.
Sollte, wie von den Betreibern angekündigt, in den nächsten Wochen auch nur eine Charge Atommüll in Morsleben eingelagert werden, wollen die Greenpeacer vor Gericht Klage erheben. Atomexpertin Lindemann: »Das ist ein Fall von Vereinigungskriminalität.«
Auch der Magdeburger Umweltminister Wolfgang Rauls (FDP) hat erhebliche Probleme mit dem Atomstock in Morsleben. Wenn schon Strahlenmüll dorthin geschafft werden solle, dann dürfe es, meint Rauls, nur solcher aus den Ostländern sein - Lieferungen aus Westdeutschland seien nach der fortgeltenden DDR-Genehmigung nicht vorgesehen.
Die auf den ersten Blick ziemlich verschroben wirkende Argumentation wird in einem rund 80 Seiten dicken Gutachten vorgetragen, das sich Rauls von dem Berliner Umweltrechtler Michael Klöpfer erstellen ließ. Nach Ansicht des Juristen ist die Genehmigung auf das Gebiet der alten DDR beschränkt; sie ohne einen ordentlichen Verwaltungsakt zu erweitern sei »nicht zulässig«.
Atomfreund Töpfer war von der Expertise nicht erfreut, sie stellt den Minister vor unangenehme Entscheidungen. Läßt er das Gutachten unberücksichtigt und setzt gegen den Willen seines Magdeburger Ministerkollegen die Einlagerung auch von westdeutschen Atommüllabfällen in Morsleben durch, so handelt er wider besseres Wissen. Im Falle von gerichtlichen Klagen, die mit Sicherheit kommen werden, könnten sich damit für ihn gar strafrechtliche Konsequenzen ergeben.
Folgt er hingegen Klöpfers Argumentation und wartet erst ein ordentliches Planfeststellungsverfahren ab, bei dem nach bundesdeutschem Recht auch die Öffentlichkeit beteiligt werden muß, dann sitzt er wieder genau an der Stelle fest, wo er schon in Gorleben und beim Schacht Konrad steckengeblieben war: Ein solches Verwaltungsverfahren dauert viele Jahre.
Um die Löcher im deutschen Atomentsorgungskonzept zu stopfen, muß jedoch schnell ein Endlager her. Denn nach den bisherigen Berechnungen der Experten quellen die Zwischenlager in den deutschen Atomkraftwerken spätestens in zwei Jahren über.
Ungewiß ist darüber hinaus, ob das Lager Morsleben je genehmigungsfähig wäre, wenn bundesdeutsche Sicherheitsmaßstäbe angelegt würden. Experten sehen erhebliche Unsicherheiten.
So ist bis heute nicht bekannt, welche Strahlenintensität von den rund 15 000 Kubikmetern Atommüll ausgeht, die bis zur Wende in die Grube geschafft worden sind. »An Hand der Unterlagen«, bestätigen Experten vom Bundesamt für Strahlenschutz, »kann man nicht eindeutig nachweisen, was da drin ist.«
Ohne genaue Kenntnis dessen, was schon in der Grube steckt, läßt sich jedoch kaum seriös berechnen, welche Mengen an Radioaktivität dem Salzstock noch ohne Sicherheitsbedenken zugemutet werden können.
Teils rostige, teils zerbeulte Fässer hatten jene westlichen Experten vorgefunden, die Morsleben gleich nach der Wende inspizierten. Das alte Faßlager wird mittlerweile von einer Betonwand verdeckt.
Auch von dem sogenannten Versturzlager, einer tiefen Grube im Salzgestein, in die der Müll durch stählerne Falltüren wie in ein mittelalterliches Verlies einfach abgekippt wurde, ist nichts zu sehen - das Zeug wurde mit flüssiger Braunkohleasche zugedeckt.
Mehr als hundert Auflagen hatten die Fachleute der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zusammengestellt, um den Salzstock zu ertüchtigen.
Die Wissenschaftler verlangten beispielsweise, »die gesamte Kanalisationsanlage« zu erneuern und die Standsicherheit der weitverzweigten Grubengewölbe eingehend zu untersuchen - Anforderungen, die in absehbarer Zeit kaum erfüllbar sind.
Bislang hatten sich die Behörden an diesen Auflagen nicht sonderlich gestört. Soweit sie noch nicht erledigt waren, sollten sie Stück für Stück während des wieder anlaufenden Betriebes bewältigt werden. Angesichts der ungewissen Rechtslage zögert der Umweltminister nun aber doch.
Gegenüber den Greenpeace-Aktivisten versprach er letzte Woche, die ersten Atommüllieferungen noch für ein paar Wochen auszusetzen - unterdessen sollen von den Öko-Kämpfern aufgeworfene Sicherheitsfragen diskutiert werden. Auch mit seinem Kollegen Rauls einigte sich der Bonner Töpfer: Fürs erste soll nur Ostmüll in die Grube fahren.
Derweil müht sich auch die Morslebener Bürgermeisterin Swincicki, für ihre Bürger etwas herauszuholen. In Briefen an Landes- und Bundesminister verlangt die Christdemokratin jetzt, der Gemeinde solle eine sogenannte Morsleben-Pauschale gewährt werden.
In Rede stehen rund 50 Millionen Mark. Der Ort habe schließlich, so rechtfertigt die Bürgermeisterin ihr Ansinnen, jetzt »ein besonderes Problem« zu tragen. Y
[Grafiktext]
__50_ Unterirdische Grubenfelder zur Lagerung von Atommüll
[GrafiktextEnde]
* Oben: Expertengruppe mit Umweltminister Töpfer; unten: am Montagvergangener Woche.