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KONJUNKTURPOLITIK Notstand im Wohlstand

aus DER SPIEGEL 27/1966

Immer wenn irgendwo über gezielte staatliche Einflußnahme auf die Konjunktur gesprochen wurde, kam der Zeitpunkt, da sich Ludwig Erhards Miene verdüsterte. Dann erhob er rollend-grollend seine Stimme, um die Verblendung zu geißeln: »Ich habe die Idee gehabt, wie man Deutschland wieder aufbaut, und ich brauche keinen Souffleur dafür, wie es weitergeht« (Erhard am 5. Juni in der Essener Gruga-Halle).

Jahrelang wies der Kanzler alle Forderungen nach verstärkter Lenkung der Wirtschaft, nach Haushaltsreform, konjunkturgerechter Ausgabenpolitik von Bund und Ländern und volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung mit Hohn oder Spott zurück. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mit verpflichtenden Einzelplänen bezeichnete er als »Scherze, die man mit mir nicht machen kann«.

Nun will er selbst das Scherzen versuchen. Nach den Jahren des Maßhaltens beschloß Ludwig Erhard zu regieren. Unter dem Kanzlerwort »Wenn das deutsche Volk nicht hören will, dann muß es eben fühlen« billigte das Bundeskabinett einige als »Vertraulich« gekennzeichnete Gesetzentwürfe, mit denen Bonn Westdeutschlands Wirtschaft vor weiterem Ruderschaden bewahren will. Künftig sollen

- Bund und Länder, deren Verschuldung in den letzten beiden Jahren um 6,4 Milliarden auf 52 Milliarden Mark stieg, ihre Investitionsvorhaben in Fünfjahrplänen niederlegen;

- beide in Zeiten des Konjunkturaufschwungs überschüssige Steuergelder nicht ausgeben, sondern bei der Bundesbank für schlechte Zeiten einmotten;

- die Bundesbank den Geschäftsbanken ein Kreditlimit vorschreiben dürfen;

- der Bund den Länderfinanzministern

und Stadtkämmerern Höhe und Art der Verschuldung diktieren können und

- die Unternehmer durch Rechtsverordnungen je nach Konjunkturlage durch niedrige oder hohe steuerliche Abschreibungssätze von kostspieligen Investitionen abgehalten oder zu. Anschaffungen ermuntert werden.

Der geplante Eingriff in die Budget-Autonomie von Ländern und Gemeinden ist bis jetzt freilich verfassungsrechtlich nicht abgesichert, so daß ein »Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes«, dessen Entwurf ebenfalls am letzten Mittwoch im Kabinett gebilligt wurde, vonnöten ist.

Weil der Kanzler so lange zögerte, soll es jetzt ganz schnell gehen. Bundesrat und Bundestag sollen in den Sommerferien zu Sondersitzungen nach Bonn kommen, damit das Gesetzeswerk einschließlich der Verfassungsänderungen noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann.

Daran glauben in Bonn freilich nur wenige. Denn in der Eile konsultierte Ludwig Erhard weder die Sozialdemokraten - die er im Bundestag für die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit braucht -, noch versicherte er sich der Mehrheit im Bundesrat.

Gemeinsam mit Hamburg und Bayern machten die SPD-Länder Hessen und Bremen, das CDU-Land Schleswig-Holstein und das rot-schwarze Niedersachsen gegen die Entwürfe Front. Da diese Länder von 41 Stimmen im Bundesrat 24 haben, hat Erhards Konjunkturgesetz zur Zeit keine Chance.

Die Sozialdemokraten, die der Bundeskanzler noch im vergangenen Bundestagswahlkampf dirigistischer Bestrebungen verdächtigte, wachen nunmehr argwöhnisch über Erhards marktwirtschaftlichen Errungenschaften. In der vergangenen Woche warf der sozialdemokratische Nationalökonom Professor Karl Schiller dem Kanzler »Flucht in den Dirigismus« vor, und Hamburgs Erster Bürgermeister Professor Herbert Weichmann bezeichnete das Gesetz als »Notstand des Wohlstands«.

Kanzler Erhard in der Gruga-Halle: »Scherze, die man mit mir nicht machen kann«

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