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Briefe

NOTSTANDSGEBIET
aus DER SPIEGEL 18/1964

NOTSTANDSGEBIET

Hätte nie gedacht, daß es im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, im Land der Wolkenkratzer, der Weltraumfahrer, der Showgirls, des Überflusses an Millionären, Getreide, Mais und Fleisch einschließlich der Hähnchen, die wir Bundesdeutschen uns aufdrängen lassen, eine zum Himmel schreiende Armut gibt.

Randersacker (Bay.) HERMANN WOLF

Die für unsere Wirtschaft Verantwortlichen mögen sich anhand Ihres Artikels rechtzeitig Gedanken machen, daß auch bei uns durch Rationalisierung, Elektronik, Automation, durch bäuerlichen Strukturwandel, Schwund des gewerblichen Mittelstands und Handwerks

sowie infolge Bildungsrückgangs bald ähnliche Zustände herrschen werden.

Langenhagen (Nieders.) G. MAERLENDER

Es hat schon seine Richtigkeit, wenn Sie über die »Armut in Amerika« schreiben, aber das gleiche können Sie im eigenen Land haben.

Frankenthal (Pfalz) E. KOTZOTT

Wer auf einer der 2000 Klitschen im niedersächsischen Zonengrenz-Kreis Lüchow lebt, kennt sich in ländlicher Armut aus. Trotzdem ist Ihr Bericht schockierend. Wie oft werden die Bauern aufgefordert, endlich mal amerikanische Verhältnisse zu studieren. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Hamburg GERHARD BORKIET

Der SPIEGEL bleibt unter seinem Niveau, wenn er verschweigt, daß bereits Karl Marx für den Kapitalismus das Vorhandensein einer industriellen. Reservearmee als einen Bestandteil dieses, Systems gekennzeichnet hat. Das Arbeitslosen-Heer in USA ist nichts anderes.

Straubing (Bay.) M. U. GEIGER

Die Armut in den USA- ist ein Schandfleck auf der Visitenkarte des Kapitalismus.

Mainz FRITZ KELLNER

Selbst wenn es Präsident Johnson und seinen Nachfolgern gelänge, den »bedingungslosen Krieg gegen die Armut« im gewünschten Maße durchzuführen und »in jedem Jahr mindestens eine Million Amerikaner aus der Armut zu treiben«, erscheint es mehr denn fraglich, ob damit die jetzige Zahl von 38 Millionen Armen in den USA in etwa 30 Jahren auch nur annähernd verschwinden würde. Ohne Zweifel wird die fortschreitende Industrialisierung und Automation ungleich mehr Arbeitskräfte erwerbslos machen als neue Arbeitsplätze schaffen, wie die Erfahrungen der Nachkriegsjahre in den USA erwiesen haben.

Nur tiefgreifende soziale Reformen vermögen diesen »Teufelskreis der Armut« zu durchbrechen, doch dazu werden die maßgebenden Kreise der USA sich kaum in absehbarer Zeit aufraffen können, weil diesen Reformen ein ebenso tiefgreifender Gesinnungswandel vorausgehen müßte, der kaum von Menschen zu erwarten ist, deren primäres Anliegen seit Generationen ein ungezügeltes Profitstreben ist.

Neugablonz (Bay.) JOSEF DIETLEIN

Es ist sicherlich verdienstvoll, wenn Sie das Thema der Armut in den USA als SPIEGEL-Geschichte aufgreifen. Selbstverständlich muß Ihnen wieder einmal eine sorgfältige Dokumentation bescheinigt werden. Doch neben den wirtschaftlichen Überlegungen, die Sie überzeugend darstellen, scheint mir das Politische von erheblicher Bedeutung. Denn irgendwann muß ja im soziologischen Raum von dieser Masse eine politische Wirksamkeit, und sei sie fürs erste noch so negativ, ausgehen.

Garmisch-Partenkirchen ARTHUR KUNZE

Und dann Milliarden Dollar Entwicklungshilfe?

Göttingen DR. OTTO CARL SIEPMANN

Wie wäre es mit einer Entwicklungshilfe für die USA aus den scheinbar unerschöpflichen deutschen Steuertaschen?

Plochingen (Bad.-Württ.) P. ERNST

Wir als amerikanische Studenten wissen es zu schätzen, wenn man über die Verhältnisse in unserer Heimat exakt berichtet. Da wir Ferienarbeit leisten müssen, können wir nur hoffen, daß Ihr Artikel keinen beschränkten Leserkreis findet, sondern sich unter das Volk verbreitet. Wir haben es wirklich satt, immer hören zu müssen: »Alle Amis sind reich.«

Heidelberg PAUL D. MATHEWS

Die ganze Grundlage Ihres Artikels beruht auf einer Fehlinformation: Die Kaufkraft eines Dollars entspricht nicht zwei Mark, sondern vier Mark. In manchen Fällen sogar bis zu sechs Mark. Die täglichen Nahrungsmittel: Butter, ein Pfund, kostet 80 Cents; ein Dutzend Eier kostet 60 Cents; ein Pfund bestes Filetsteak in New York 1,50 Dollar, in Deutschland von 7,50 Mark aufwärts. Diese Preise sind die teuersten in USA. Selbst bei den teuren Wohnungen in New York muß berücksichtigt werden, daß in jeder US-Wohnung, die vermietet wird, ein neuer Eisschrank, ein neuer Kochherd, Heizung und das heiße Wasser in der Miete mit einbegriffen sind. Telephon, in Deutschland Luxus, worauf man Jahre warten muß, wird in USA für zehn Dollar in zwei Tagen eingebaut, und die ersten 72 Anrufe innerhalb der Stadt sind völlig kostenlos (sollte man dem Stücklen erzählen). Die Grundgebühr beträgt ganze 6,33 Dollar. Bei Autos ist das Verhältnis noch höher als eins zu vier - ein Acht- Zylinder - Mittelklassewagen mit Radio und allem Komfort, etwa Mercury oder Pontiac, kostet um 3000 Dollar und keine Autosteuer. Nach ihrer »Kaufkraft-Umrechnung« müßte man in Deutschland ähnliches für nur 6000 Mark erhalten. Es kostet aber ein Sechs-Zylinder-Mercedes schon rund 13 000 Mark ohne Zubehör und Extras - was sich ein mittelmäßiger Angestellter erstens nie kaufen und zweitens der hohen Steuern und Benzinpreise wegen auch nie halten könnte!

Diese »bundesdeutsche Mär« über das Wirtschaftswunderland, in dem die Kaufkraft der Mark die Hälfte der des Dollars betragen soll, hatte auch mich nach zwölfjährigem USA-Aufenthalt kürzlich wieder zurückgelockt. Berlin J. MODDELSEE

Bezeichnend für die amerikanische Armut ist, was James Baldwin in seinem Buch »Nobody knows my name« anklagend über Harlem schreibt: »Jeder, der einmal gegen Armut gekämpft hat, weiß, wie ungeheuer teuer es ist, arm zu sein; und wenn man Mitglied einer gefangenen Gesellschaft ist, ökonomisch gesehen, dann sind einem die Füße einfach für immer auf die Tretmühle gebunden. Man ist in tausenderlei Weise ein Opfer - von Miete zum Beispiel oder Autoversicherung.« Dann zählt er auf: »Breitere TV-Schirme, getreuere Hi-fi-Musiktruhen, stärkere Wagen, alle diese Dinge, die eher veraltet als bezahlt sind.«

Dieses Paradoxon ist leider wahr: Die Armut hierzulande ist so verhältnismäßig groß, weil sie so teuer ist. Fielen die Armen weniger auf Verkaufstricks herein und achteten sie mehr auf die Erkenntnisse der Geburtenkontrolle - der Krieg gegen die Armut könnte zum Scharmützel werden.

New York VOLKER HENCKEL

Long Beach (Cal.) Press Telegram

»Bedingungsloser Krieg«

USA-Titel

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