AFGHANISTAN »Notwendig und angemessen«
Das Hochzeitsfest ging dem Ende zu. Die Braut verabschiedete sich von ihrer Familie im kleinen Dorf Wech Baghtu, in Afghanistans unruhiger Südprovinz Kandahar. Es war Montagabend vergangener Woche.
Plötzlich, so erinnert sich ein Teilnehmer der Hochzeitsgesellschaft, habe ein unbekannter Mann auf einen in der Nähe des Dorfes postierten Trupp ausländischer Soldaten geschossen. Diese feuerten zurück und forderten Luftunterstützung an. Bald darauf nahmen Hubschrauber und Kampfflugzeuge die Siedlung unter Beschuss. Zehn Stunden später waren mindestens 36 Dorfbewohner tot, auch Frauen und Kinder. Viele Afghanen, darunter die Braut, wurden verletzt.
Präsident Hamid Karzai zeigte sich, wie schon in ähnlichen Fällen, empört: Der Kampf gegen den Terrorismus dürfe »nicht in den afghanischen Dörfern ausgetragen werden«. Die Koalitionstruppen müssten mehr tun, um zivile Opfer zu vermeiden, so Karzai. Das hatte ihm US-Verteidigungsminister Robert Gates vor wenigen Wochen erst ausdrücklich versprochen. Gates wollte seine Kommandeure und Piloten anweisen, ihre Ziele exakter anzupeilen.
Denn manchmal, wie beispielsweise am 19. Juli in der Provinz Paktika im Südosten, verfehlen Granaten kilometerweit das Ziel und töten Unschuldige. Oder es werden, wie vorigen Montag, aber auch schon am 6. Juli und zuvor, Hochzeitsfeiern als Versammlungen von Aufständischen missdeutet - mit fatalen Folgen. Nach solchen Überfällen auf Unbeteiligte geloben die Generäle regelmäßig Besserung. Doch die Zahl ziviler Opfer im Krieg am Hindukusch steigt.
In den ersten acht Monaten dieses Jahres kamen, laut Zählung der Uno-Mission für Afghanistan, 1445 Zivilisten ums Leben, 405 mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Die meisten, 800, gehen auf das Konto der Taliban und anderer Aufständischer: Gezielte Attacken auf die Bevölkerung, etwa durch Selbstmordattentate, sind Teil ihrer barbarischen Kriegführung.
Die Übrigen wurden Opfer der afghanischen Regierungstruppen und der internationalen Streitkräfte. Das macht die Soldaten bei denen, die sie eigentlich schützen
sollen, nicht eben beliebter. Auch der Frust der Verbündeten wächst. »Was wir an Vertrauen aufbauen«, sagt ein deutscher Nato-Mann, »reißen die Amerikaner mit ihren Lufteinsätzen oft wieder ein.« Allzu häufig können die amerikanischen Hightech-Flieger nicht einmal zwischen einem Aufmarsch bewaffneter Taliban und einer Festtagsgemeinde unterscheiden.
Der Mangel an Soldaten sei für dieses Dilemma verantwortlich, erklärt der Kommandeur der internationalen Schutztruppe Isaf in Afghanistan, US-General David McKiernan. Er zwinge die Bodentruppen immer wieder, Luftunterstützung anzufordern - und das erhöhe die Gefahr ziviler Opfer.
Welche tödlichen Folgen die amerikanische Kriegführung haben kann, zeigt exemplarisch ein interner Untersuchungsbericht, verfasst von Michael W. Callan, Brigadegeneral der US-Luftwaffe. Darin geht es um einen »Luftschlag« in der Nacht vom 21. zum 22. August 2008 auf das Dorf Azizabad im Shindand-Distrikt der Provinz Herat, ganz im Westen des Landes.
Nach Berichten von Überlebenden, afghanischen Offiziellen, Menschenrechtsorganisationen und der Uno-Vertretung in Afghanistan sind bei diesem Angriff etwa 90 Zivilisten gestorben, darunter 60 Kinder und 15 Frauen. Die US-Streitkräfte dementierten zunächst: Es habe keine Toten unter der Bevölkerung gegeben. Später gaben sie zu, bei dem Einsatz seien »schätzungsweise zwei Frauen, vier Kinder« umgekommen.
Der sechsseitige Bericht, den General Callan am 1. Oktober seinen Vorgesetzten im United States Central Command, dem zuständigen Regionalkommando mit Sitz in Florida, präsentierte, kommt zu einem ähnlichen Schluss: Die Vorwürfe, »US- oder afghanische Kräfte« hätten »schätzungsweise 90 Zivilisten getötet« und dabei gegen das Kriegsrecht verstoßen, »sind unbegründet«.
Dann aber, unter Punkt 6.a., fügt der General lakonisch seinen eigenen Befund hinzu, und der unterscheidet sich deutlich von der offiziellen Darstellung zuvor. In Azizabad, so Callan, seien »schätzungsweise 55 Personen getötet worden (22 Anti-Koalitions-Kämpfer und 33 Zivilisten)«.
Anlass der Attacke sei eine »glaubwürdige Information« gewesen, dass sich in Azizabad 20 bis 30 gegnerische Kämpfer unter dem Kommando eines berüchtigten Taliban-Führers sammeln würden. Mit dem Auftrag, ein »High Value Individual« - eine sogenannte hochwertige Zielperson - zu »fangen/töten«, so der Report, seien deshalb Bodentruppen nach Azizabad gezogen. Ein geschützbewehrtes AC-130H-Flugzeug unterstützte sie.
»Unglücklicherweise und den US- und afghanischen Streitkräften unbekannt, wählten die Anti-Koalitions-Kämpfer enge Nähe zu Zivilisten«, schreibt Callan in seinem Papier.
In der nüchternen, peniblen Sprache des Militärs geht der Luftwaffengeneral anschließend den schrecklichen Details nach. 28 Leute habe er befragt, 236 Dokumente ausgewertet, 11 Videos gesichtet. Manches könne er dennoch nicht beantworten, etwa die Frage nach der Zahl der ums Leben gekommenen Frauen und Kinder. Von den 33 »vermutlich bei den Gefechten getöteten Zivilisten« seien nur »acht Männer, drei Frauen und zwölf Kinder zu identifizieren«.
Die Untersuchungen des Azizabad-Bombardements durch die örtlichen Behörden, durch verschiedene Menschenrechtsorganisationen und den Beauftragten der Uno hält der General für »zweifelhaft«. Sie seien gewiss durch »finanzielle, politische und überlebensorientierte« Motive gefärbt. Auch die offiziellen Todeslisten seien als »ungültig« einzustufen. Ihnen fehle eine exakte Basis, gebe es doch weder ein Geburtsregister noch eine aktuelle Volkszählung, noch amtliche Totenscheine.
Möglicherweise war das der Grund, warum die US-Streitkräfte keine »Schmerzensgelder« an die Hinterbliebenen zahlten. Das überließen sie der afghanischen Regierung. Die aber blieb bei ihren eigenen Zahlen. Sie gab, heißt es im US-Report, »jeder Familie der vermeintlichen 90 getöteten Zivilisten 2000 Dollar«.
Jeder Verletzte bekam 1000 Dollar und dazu die Möglichkeit zum »Hadsch«, der islamischen Pilgerfahrt nach Mekka. Für diesen Zweck habe der Minister für Pilgerfahrten und Islamische Angelegenheiten 9 300 000 Afghani an die Dorfältesten verteilt, umgerechnet gut 140 000 Euro.
Alles in allem, befindet Callan, seien zwar Zivilisten gestorben, niemand aber habe gegen Rechtsvorschriften verstoßen. Der Waffeneinsatz sei »ein Akt der Selbstverteidigung, notwendig und angemessen« gewesen, basierend auf den Informationen, die dem Einsatzleiter zu jener Zeit verfügbar waren.
Den Stammesführer Tor Jan Noorzai hat der General bei seinen Recherchen offenbar nicht befragt. Der ehrwürdige Alte half bei der Beerdigung der Opfer in Azizabad und erzählte den angereisten Reportern später genau dasselbe, was auch der Polizeichef der Provinz und Funktionäre des Innenministeriums in Kabul behauptet hatten: In Azizabad habe es zum Zeitpunkt der Luftangriffe gar keine Taliban gegeben.
Im Gegenteil, erklärte Noorzai: Die Versammlung, von der die Amerikaner aus vermeintlich guter Quelle erfahren hatten, sei die Gedenkfeier für einen im Jahr zuvor ermordeten Taliban-Gegner gewesen. HANS-JÜRGEN SCHLAMP
* Links: mit den Fotos getöteter Angehöriger; rechts: GeneralDavid Petraeus (M.), neuer US-Kommandeur für Nahost undZentralasien, vergangenen Donnerstag nahe derafghanisch-pakistanischen Grenze.