Zur Ausgabe
Artikel 33 / 86

JUSTIZ / ENTFÜHRUNG Nr. 1

aus DER SPIEGEL 14/1971

Am Rand der Kölner Maria-Himmelfahrt-Straße griffen sich drei junge Männer einen älteren Herrn. Ein vierter schlug ihn mit dem Gummiknüppel auf den kahlen Kopf, den Hut des Opfers in der anderen Hand. »Hilfe, Leute, Hilfe«, flehte Kurt Lischka, 61.

Bahnpolizist Werner Triebe, 41, von der Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn war -- in Zivil -- zur Stelle und zeigte seinen roten Dienstausweis vor: »Polizeibeamter« -- die Täter gaben auf, Lischka frei und den Hut zurück: »Wir stießen ihn und wir schoben ihn. Aber er war zu schwer für uns. Er wiegt mehr als hundert Kilo.«

Die vier Fremden rannten rund 40 Meter zu ihrem weißen Miet-Mercedes (250 C, Kennzeichen: F-RL 240) von der Firma Hertz und machten sich auf den Heimweg nach Paris. Eine fünfte im Bunde besah sich unerkannt die Szene. Danach reiste auch sie an die Seine, per Eisenbahn: Es war Beate Klarsfeld, 32.

Mit Ehemann Serge, 36, einem deutschen Widerstandskämpfer, einem Franzosen und einem Juden hatte sie am Montagnachmittag vergangener Woche versucht, den ehemaligen stellvertretenden SD-Chef in Frankreich über die französische Grenze zu entführen und an die dortige Justiz auszuliefern. Lischka war bereits 1950 wegen Judenverfolgung in Frankreich von einem Pariser Militärtribunal -- in Abwesenheit -- zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden. Doch weil das Gesetz es so will, lebt er heute als Prokurist unbehelligt von deutschen Strafverfolgern in Köln-Holweide.

Weil sie »wollen, daß die Großen zur Rechenschaft gezogen werden und nicht nur kleine Folterer«, paßten Klarsfeld und Komplicen den ehemaligen Gestapo-Mann Lischka »im Geiste der Gerechtigkeit« (Klarsfeld) während der Mittagspause vor seinem Hause ab. Offenkundig vergriffen sie sich in den Mitteln, in der Person jedoch kaum. Denn Lischka bat sich einst hervorgetan.

Bereits 1938 wurde er Leiter des Judendezernats der Gestapo und organisierte die erste Massenverhaftung deutscher Juden, die am 13. Juni 1938 vollzogen wurde. Noch im selben Jahr zeichnete er für die Deportation von 20 000 polnischen Juden verantwortlich. Ab 1940 waltete der SS-Obersturmbannführer drei Jahre lang als stellvertretender Sicherheitspolizei- und SD-Befehlshaber in Frankreich. Danach arbeitete er im Berliner Reichssicherheitshauptamt mit Adolf Eichmann gemeinsam an der »Endlösung«.

Besonders profiliert zu haben scheint sich der geheime Staatspolizist durch seine Vernehmungstechniken: Er war ausersehen, Verschwörer des 20. Juli 1944 zu verhören. Zwar erinnert sich der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Adolf Heusinger, der von Lischka im Dritten Reich vernommen wurde: »Lischka hat mich damals gut behandelt.« Doch nach den Protokollen über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse hatte der SS-Mann Nummer 195 590 empfohlen, politischen Häftlingen durch eine besondere Mahlzeit die Zunge zu lösen: abends Salzheringe, morgens Salzheringe und so fort und sonst nichts.

Über diesen davongekommenen Bundesbürger Lischka informierte Beate Klarsfeld unter anderem das französische Linksblatt »Combat«, das am 19. Februar berichtete. »Aber Artikel erschüttern die öffentliche Meinung nicht«, glaubte Frau Klarsfeld zu wissen, »man muß zu Aktionen übergehen.«

Ihre erste Aktion hatte sie schon am 7. November 1968 auf dem Bundesparteitag der CDU gestartet. Mit dem Ruf »Nazi, Nazi« stürzte sie sich damals in der Berliner Kongreßhalle auf den Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und schlug dem ehemaligen Parteigenossen ins Gesicht.

Die zweite Aktion begann am 21. Februar dieses Jahres. An jenem Sonntag warteten das Ehepaar Klarsfeld und ein israelischer Kameramann vor Lischkas Haustür, um ihn für eine Sendung im israelischen Fernsehen zu filmen. Gegen 14 Uhr wurden die Klarsfelds -- er mit richtigem, sie mit falschem Namen -- bei Lischka vorstellig: »Ihr Name wird als der eines Verantwortlichen der Polizelaktionen in Frankreich genannt, haben Sie eine Erklärung abzugeben?« Lischka, so Frau Klarsfeld, antwortete: »Wenn ich spreche, dann vor der deutschen Justiz.«

Gut drei Wochen später, am 18. und 19. März, legte sich Frau Beate abermals auf die Lauer und prägte sich Lischkas Gehen und Kommen ein. Ihre Männer reisten, mit einem unter Serges Namen in Frankreich bei der Avis gemieteten Renault 16, in der Nacht von Samstag zu Sonntag in Köln an.

Untertags übten sie in der Schluchter Heide bei Köln das Überladen von Lischka aus dem Mercedes in den Kofferraum des R 16, mit dem sie über die Grenze fahren wollten. Dann übernachteten alle im Kölner Hansaring-Hotel, Zimmer 22 (zwei Betten, 36,65 Mark) und Zimmer 32 (drei Betten, 48,85 Mark).

Ohne Schußwaffen, »denn wir wollten weder jemanden töten noch einen Unfall produzieren«, erwartete das Quintett am nächsten Morgen um 7.25 Uhr Lischka in der Nähe seiner Wohnung. Doch er war nur zu sehen, nicht zu greifen, weil zu viele Leute vorbeikamen. Die zweite Attacke um 13.30 Uhr vereitelte der Bahnpolizist.

Gescheitert war der illegale Versuch, einem von über 1000 NS-Tätern die Freiheit zu nehmen, denen die deutsche Justiz legal nichts anhaben kann. Sie alle sind in den ersten Nachkriegsjahren von alliierten Militärgerichten im Ausland und in Abwesenheit verurteilt, doch nie zum Strafantritt geholt worden.

Vor einer Strafverbüßung im Ausland bewahrte sie der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, der auswärts abgeurteilte deutsche Kriegsverbrecher vor gefährlichen Reisen warnt. Dazu das Auswärtige Amt 1968: »Damit dic nicht blindlings irgendwohin fahren, wo sie dann verhaftet werden.«

Vor einer Strafverfolgung in der Bundesrepublik schützt sie der sogenannte Überleitungsvertrag von 1955, der Ermittlungen nach westdeutschem Recht untersagt -- wie der Bundesgerichtshof im Februar 1966 in einem Grundsatzbeschluß bestätigte. Artikel 3 des Vertrages freilich hatte die Möglichkeit offengelassen, den Ausschluß der deutschen Gerichtsbarkeit durch eine besondere Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten jederzeit wieder aufzuheben. Und schon vor fünf Jahren gab der Bundesgerichtshof den Wink: »Mit der Möglichkeit einer solchen Vereinbarung hat der Vertrag ... es letztlich in die Hand der drei Mächte gelegt, dem Bedürfnis gerechter Sühne überall dort den Weg freizumachen, wo ihre eigenen Gerichte nicht zu einer vollstreckungsfähigen Verurteilung gelangen konnten.«

Nun endlich soll die Rechtslage -- für eine sinnvolle Strafverfolgung vermutlich um Jahre zu spät -- durch einen Vertrag vom 2. Februar 1971 zwischen der Bundesrepublik und Frankreich bereinigt werden. Weil dessen Ratifizierung noch aussteht, will Beate Klarsfeld die Kölner Aktion inszeniert haben. Gegen 312 NS-Verbrecher müßte nach künftigem Recht, so hat sie gezählt, erneut ermittelt werden. Sie alle sind mit Namen und Heimatanschrift bei den Klarsfelds in einer Liste verzeichnet -- mit Prioritäten: »Lischka war die Nummer 1.«

Nummer zwei war Herbert Hagen, 57, der im westfälischen Warstein lebt, als SS-Sturmbannführer an der französischen Atlantikküste bei der Gestapo tätig war und Sicherheitsdienstchef von Bordeaux gewesen ist. Seine Interessen wahrt der FDP-Bundestagsabgeordnete Rechtsanwalt Dr. Ernst Achenbach -- der freilich, anders als die Kölner Staatsanwaltschaft, nicht einmal weiß, daß sein Mandant Hagen 1954 von einem Pariser Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden ist.

Es ist jener Achenbach, der im vergangenen Jahr EWG-Kommissar in Brüssel werden wollte und nicht konnte. Der ehemalige Gesandtschaftsrat an der Pariser Botschaft im besetzten Frankreich war den Franzosen ebenfalls suspekt. Als Sühne für eine Attacke auf zwei deutsche Offiziere in Paris hatte er dem Berliner Auswärtigen Amt 1943 telegraphisch angekündigt: »Es ist geplant, 2000 Juden zu verhaften und nach dem Osten zu bringen.«

Zur Ausgabe
Artikel 33 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten