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GRUBENUNGLÜCK Nun erst recht

aus DER SPIEGEL 11/1960

Eine Explosion 1100 Meter unter Tage, die am 22. Februar um 8.20 Uhr in der volkseigenen Zeche Karl Marx I in Zwickau 174 sächsische Bergleute verschüttete, hat zwar bewirkt, daß in beiden Teilen Deutschlands die Flaggen auf halbmast gesetzt wurden. Der brüderliche Haß aber, mit dem die kalten Krieger beiderseits der Elbe einander seit Jahren bekämpfen, machte auch vor den Opfern von Zwickau nicht halt.

Erst elf Stunden nach der Explosion - als in Ostberlin die Einsicht dämmerte, daß man eine Katastrophe solchen Ausmaßes weder verschweigen noch bagatellisieren kann - gab die amtliche Nachrichtenagentur der Zone die Meldung vom größten deutschen Grubenunglück seit 1946* bekannt. Am selben Tage noch bot Karl vom Hoff, Chef der Hauptstelle für das Grubenrettungswesen im Ruhrgebiet, von Essen aus telephonisch Hilfe an.

Zuständigkeitshalber wandte er sich nicht direkt an die Betriebsleitung der Zeche Karl Marx I, sondern an die Hauptstelle für das Grubenrettungswesen der Zone in Leipzig. Die DDR -Grubenretter sagten zu, das Angebot nach Zwickau weiterzuleiten.

Wurde die Unterstützung aus Essen, die der Zone in selbstverständlicher Bergarbeiter-Solidarität ohne propagandistische Hintergedanken angetragen worden war, in Leipzig noch sachlich zur Kenntnis genommen, so änderte sich der Ton, kaum daß die Nachricht Zwickau erreicht hatte.

DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl war nämlich nicht nur zur Unglückszeche geeilt, um den Angehörigen der in den brennenden Schächten abgeschnittenen Bergleute zu versichern, daß der Staat der Arbeiter und Bauern an Witwen und Waisen künftig Vaterstelle vertreten werde. Er nutzte die Besuche am Krankenlager der 55 geretteten Kumpels auch, um das Angebot der »kapitalistischen Zechenherren« zu diskreditieren.

»War es richtig«, fragte er einen Überlebenden der Grubenkatastrophe, »daß wir als Regierung jene 'Anerbieten' des Westens abgelehnt haben, der aus Mitleid' Rettungsgerät zur Verfügung stellen wollte?« Die Antwort des Kumpels: »Es war richtig, Genosse Grotewohl. Eine scheinheilige Hilfe, wie sie aus dem Westen kommt, brauchen wir nicht. In der DDR sind alle Möglichkeiten zur Erhaltung des Lebens und zur Rettung von Menschenleben vorhanden.«

Die »Magdeburger Volksstimme« empörte sich: »Die Herren heucheln Mitleid mit den verunglückten Kumpels, deren Klassenbrüder an der Ruhr und an der Saar einem gnadenlosen Kumpelmordsystem ausgeliefert sind ... Wenn es um Leben, Sicherheit und Gesundheit der westdeutschen Bergarbeiter geht, kennen die Zechenherren in ihrer Gier nach Profit kein Mitleid.«

So gaben die Zonenbehörden nicht der nationalen, sondern der international sozialistischen Solidarität den Vorzug: Da in der DDR, entgegen allen offiziellen Behauptungen, modernes Rettungsgerät in ausreichender Menge nicht zur Verfügung stand, wurde eine Rettungsgruppe aus der CSR als Beweis der »sozialistischen Verbundenheit« beider Länder von der Zonenpresse gefeiert.

Die Tschechen rückten mit Latex an, einer synthetischen Kautschuklösung, die auf die Wände eines brennenden Schachts gespritzt wird, sich als luftdichter Film niederschlägt und so das Feuer erstickt.

Daß Latex bei der Bekämpfung von Grubenbränden auch an der Ruhr seit Jahren verwendet wird und die von Essen angebotenen Rettungstrupps mit ebenso modernen Latex-Spritzen bei der Bergung der sächsischen Kumpels hätten helfen können, wurde in der Berichterstattung der Zonenpresse freilich unterschlagen.

Allerdings kann die wütende Reaktion der Zonenbehörden auf das westdeutsche Angebot ihren Grund auch in den Kommentaren westdeutscher und Westberliner Blätter haben, in denen dem Ergebnis der amtlichen Untersuchungskommission vorgegriffen und erklärt worden war, das Unglück auf Zeche Karl Marx sei die Folge sowjetzonaler Normenschinderei.

So hatte der Westberliner »Telegraf« geschrieben: »Tatsache ist, daß die Bergleute in den sowjetzonalen Steinkohleschächten durch - gerade in letzter Zeit verstärkten - Druck zur Planerfüllung und -übererfüllung angetrieben wurden, nachdem seit Jahren die Produktionspläne nicht erfüllt werden konnten. Die Normenschrauben wurden derart angezogen, daß die Kumpel gezwungen, waren, ihre Tagesleistungen zu erhöhen. So liegt, es nahe, daß ... die Sicherheitsvorschriften nicht genügend beachtet wurden.«

Da der amerikanische Sender Rias ähnliche Vermutungen in die Zone funkte, sahen sich die DDR-Behörden gezwungen, Gerüchten über mangelnde Sicherheitseinrichtungen im sächsischen Revier entgegenzutreten, damit der für die Erfüllung des Siebenjahrplans notwendige Eifer nicht erlahme.

Ausführlich mußte die Zonenpresse ihren Lesern vorrechnen, wieviel Millionen die DDR-Regierung in den letzten Jahren für die Betriebssicherheit investiert hat; zugleich wurden alle künftigen Opfer der Normerfüllung mit dem Hinweis auf die stattlichen Renten getröstet, die ihre Hinterbliebenen zu erwarten hätten:

»Die schwer betroffene junge Mutter Helga Frost aus Wilkau-Haßlau in der Karl-Liebknecht-Straße, der die Sozialversicherung als erste unmittelbare Hilfe 770 Mark, ein Sterbegeld in Höhe von 600 Mark und weitere 600 Mark als Beihilfe des FDGB übergeben hat«, wird nach einem Bericht der »Ostsee -Zeitung« eine Rente voll monatlich 299 Mark und 280 Mark Kindergeld erhalten. Mit solchen Aufrechnungen wollen die Zonenbehörden zudem die brüske Zurückweisung westdeutscher Geldspenden rechtfertigen.

Die »Leipziger Volkszeitung« aber moralisierte: »Diabolisch erklären sie, daß der Siebenjahrplan die Ursache des Unglücks sei ... Wir lassen uns in unserer tiefen Trauer von den Bonner Schakalen nicht beleidigen und erst recht nicht von unserem Siebenjahrplan abbringen. Bei der gestern in Espenhain stattgefundenen Kampfberatung der sozialistischen Brigaden erklärten die Teilnehmer ..., daß sie unsere teueren Toten am besten ehren, wenn sie alle Kraft daransetzen, vorhandene Planrückstände aufzuholen.«

* Schlagwetterexplosion auf Schacht Grimberg bei Unna; 412 Todesopfer.

Grotewohl in Zwickau: Geheucheltes Mitleid?

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