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»Nun mußt du dir das Leben nehmen«

Warum eine 90jährige 1200 Mark Sozialhilfe erhält
aus DER SPIEGEL 16/1983

Der Stahlrohr-Heimtrainer wirkt wie ein Fremdkörper zwischen all den Attributen bürgerlicher Gemütlichkeit: honiggelbe Polster-Stilmöbel, goldgerahmte Ölgemälde und ein kleiner Kristalleuchter an der Stuckdecke verleihen der Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Charlottenburg jenen altmodischen Charme, den auch die Bewohnerin ausstrahlt.

»Das ist schon mein zweiter«, kommentiert die 90jährige das monströse Trimm-dich-Gerät, »auf dem Tacho stehen nur 800 Kilometer, aber in Wirklichkeit bin ich schon weit über 1000 gefahren.«

Ihren ungebrochenen Lebensmut verdankt die ehemalige Schauspielerin und spätere freiberufliche Dolmetscherin Luise Valentin

( Name von der Redaktion geändert. )

nicht zuletzt den Sachbearbeitern des Sozialamtes in der Otto-Suhr-Allee. Vor zehn Jahren, als die Augen nachließen, mußte sie mit dem Übersetzen aufhören. Eine Zeitlang konnte die alte Dame noch von Erspartem und vom Verkauf ihrer Schmuckstücke leben. Als das Geld aufgebraucht war, erinnert sie sich, »dachte ich mir, nun mußt du dir das Leben nehmen«.

Freundinnen empfahlen das Sozialamt als Ausweg. »Mit klopfendem Herzen« ging die 83jährige zum Rathaus Charlottenburg, um das erstemal in ihrem Leben staatliche Hilfe zu beantragen. Die Sachbearbeiter bewilligten der früh geschiedenen Frau monatlich rund 1200 Mark; 500 Mark für die Wohnungsmiete, 100 Mark für Versicherungsbeiträge und 600 Mark für den Lebensunterhalt und sonstige Nebenkosten.

Frau Valentin gehört zu jener Gruppe von Sozialhilfe-Empfängern, die nach wie vor die Hauptklientel der Rathäuser stellt. Vor allem alleinstehende ältere Frauen, verwitwet oder geschieden, erhalten oft nur eine bescheidene Rente, die nicht ausreicht, das Existenzminimum zu decken. Manche von ihnen, wie die 90jährige Berlinerin, haben nicht einmal darauf einen Anspruch. Fast drei Viertel aller über 65jährigen Bewohner Hamburgs, die Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen, sind nach einer Berechnung des Senats Frauen.

Weil sich ihr Leben zumeist auf Ehe und Familie beschränkte, blieben ihnen Begriffe wie »Rentenanwartschaft«, »Ausfallzeiten« oder »Beitragsbemessungsgrenze« zeitlebens fremd. Pläne, diesen »Nur-Hausfrauen« wenigstens die Zeiten der Kindererziehung anzurechnen, werden wohl auch weiterhin am desolaten Zustand der Rentenversicherung scheitern.

Obwohl Luise Valentin im Gegensatz zu vielen ihrer Schicksals-Genossinnen berufstätig war, hat sie nie Beiträge in die gesetzliche Altersversicherung einbezahlt. Als Künstlerin im Berlin der 20er Jahre gab es Wichtigeres, als über den Lebensabend nachzusinnen, zumal, wie Luise Valentin gesteht, »in unseren Kreisen die Leute im Alter von ihrem Vermögen gelebt haben«.

Zunächst verlief alles ganz programmgemäß: Die blonde Schönheit, Tochter eines Schauspieler-Ehepaars, heiratete 1925 einen neun Jahre jüngeren Rechtsanwalt. Das Ehepaar führte in seiner herrschaftlichen Wohnung in der Tauentzienstraße ein luxuriöses Leben.

Die Wende im bis dahin sorglosen Leben begann mit dem Ball des Tennisclubs Grunewald im Sommer 1949. Weil ihr Mann auf dem Fest eine erheblich jüngere Bekannte seiner Ehefrau kennen- und liebenlernte, ließ Luise Valentin sich 1950 scheiden. Von ihrem Ex-Mann erhielt sie 200 Mark Unterhalt im Monat.

Mit 56 Jahren begann die Berlinerin Italienisch und Spanisch zu lernen; Englisch und Französisch, in den besseren Kreisen obligatorisch, beherrschte sie schon.

Die Zuverlässigkeit der privaten Dolmetscherin sprach sich herum: Eine Elektronikfirma, eine Spitzenfabrik, zahlreiche Verlage, ein Juwelier und eine Wach- und Schutzgesellschaft gehörten zu ihren festen Kunden. Die Autodidaktin übersetzte »alles, was auf den Tisch kam«, kaufmännische Texte, Choräle, Opern und Bücher.

Ein Vermögen konnte sie damit allerdings nicht mehr verdienen, und als freiwilliges Mitglied hätte sie in ihrem Alter extrem hohe Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen. So blieb am Schluß nur noch das Sozialamt.

Zum Glück kann sich die 90jährige noch selbst versorgen. Müßte sie in einem Heim untergebracht werden, hätte die Stadtkasse auch diese Kosten zu tragen. Schon heute entfällt fast die Hälfte der Sozialhilfe-Ausgaben von Städten und Gemeinden auf die Heim-Unterbringung von Alten und Behinderten. Ein Platz kostet je nach Pflegebedürftigkeit zwischen 1500 und 2500 Mark monatlich. Nicht einmal gutsituierte Rentner können diese Beträge aufbringen.

Für das Sozialamt ist Frau Valentin, so gesehen, sogar ein Glücksfall. Und ihr Heimtrainer im Wohnzimmer ist ihr aktiver Beitrag zur Kostendämpfung im Sozialwesen.

S.107Name von der Redaktion geändert.*

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